Nachhaltigkeit, Automatisierung und Digitalisierung
Der deutsche Chemiehandel befasst sich mit einer langen Agenda zu bearbeitender Themen
Der deutsche Chemiehandel hat sich auch im letzten Jahr als solider Partner von Lieferanten und Kunden bewährt. Die Unternehmen der Branche trugen erheblich dazu bei, dass kritische Infrastrukturen funktionierten und deutsche Kunden weiter produzieren konnten (vgl. Bericht in CHEManager 4/2023). Allerdings mahnt der Verband Chemiehandel (VCH), dass die Vielzahl an aktuellen Entwicklungen und Themen es nicht einfach machten, die Erfolgsgeschichte fortzusetzen. In einem ausführlichen Gespräch mit dem VCH-Vorstand diskutierte Birgit Megges über die Themen, mit denen sich der Verband und die Mitgliedsunternehmen auseinandersetzen.
Die Gesprächsteilnehmer seitens des Chemiehandelsverbands waren Christian Westphal (Präsident), Robert Späth (stellvertretender Präsident und Schatzmeister), Thomas Sul (stellvertretender Präsident und Vorsitzender der Fachabteilung (FA) Außenhandel), Thomas Dassler (Vorsitzender der FA Binnenhandel), Bastian Geiss (Vorsitzender der FA Chemiehandel und Recycling) sowie die Vorstandsmitglieder Christopher Erbslöh, Colin von Ettingshausen und Thorsten Harke. Ergänzt wurde die Runde durch Ralph Alberti (geschäftsführendes Vorstandsmitglied VCH) und Michael Pätzold (VCH-Geschäftsführer).
„Selbst im traditionell stabilen Bereich Pharma ist der Preisdruck angekommen.“
Thorsten Harke, Vorstandsmitglied, VCH
Während die Chemiehandelsbranche 2022 von einer weit verbreiteten Produktknappheit und damit verbunden hohen Preisen und dem Umstand profitieren konnte, große Mengen ihrer lagernden Ware verkaufen zu können, stellt sich die Situation im laufenden Jahr anders dar. 2023 ist ein Jahr, in dem eine hohe Verfügbarkeit an Produkten auf eine geringe Nachfrage trifft, da Kunden aufgrund der gestörten Lieferketten und aus Angst, lieferunfähig zu werden, ihre Lager gefüllt hatten und momentan dabei sind, ihre Bestände wieder abzubauen. Bereits im 4. Quartal 2022 gingen bei vielen Distributoren die Auftragseingänge zurück. Das eine oder andere Unternehmen konnte mit einem Produktmix aus verschiedenen Spezialitäten noch ein relativ gutes Ergebnis über das 1. Quartal 2023 erzielen, weil die Preise unterschiedlich schnell gesunken sind. „Kunden bestellen nur in kleinen Mengen nach“, erklärte Thomas Sul. „Viele haben noch Materialien im Lager liegen, die zu hohen Preisen eingekauft wurden und die sie nun zu niedrigen Preisen verkaufen müssen. Das ist ein extrem hoher Druck, der derzeit auf den Kunden und auf uns selbst lastet.“
Beschleunigt werde das Sinken der Preise durch die Tatsache, dass China nach der Covid-19-Pandemie mit rasanter Geschwindigkeit wieder in die internationalen Märkte zurückgekommen ist und nun verstärkt exportiert. China versuche, die eigenen Waren zu teils extrem niedrigen Preisen in andere Länder zu drücken, weil die Binnennachfrage lahmt. Da der Absatz in China auch Herstellern anderer asiatischer Länder fehlt, lässt das dadurch erzeugte Überangebot die Preise noch schneller fallen.
„Das Destocking der Kunden führt letztendlich auch zum Destocking in der Lieferkette.“
Christopher Erbslöh, Vorstandsmitglied, VCH
Bedenken, dass das beschriebene ‚Destocking‘, also der Abbau von Lagerbeständen, eine Negativspirale sein könnte, äußerte Christopher Erbslöh: „Das Destocking der Kunden führt letztendlich auch zum Destocking in der Lieferkette. Wenn aber der Zeitpunkt kommt, wo wieder Projekte anlaufen, dann werden wir den nächsten Engpass in der Supply Chain sehen. Es werden wieder Produkte fehlen und die Preise erneut steigen.“
Fehlende Planungssicherheit
Das Bild zieht sich unterschiedlich ausgeprägt durch alle Branchen. Bei einigen Commodities befinden sich die Preise aufgrund der sehr guten Verfügbarkeit nach Aussagen des Verbandsvorstands im freien Fall. Die Nachfrage für sämtliche Produkte der Bauindustrie und Automobilbranche wie Farben, Lacke, Kleb- oder Kunststoffe hat stark nachgelassen und ein Aufwärtstrend ist nicht in Sicht. Während Produkte aus dem Life-Sciences-Sektor Ende letzten Jahres noch relativ gut abgesetzt werden konnten, ist spätestens seit dem 2. Quartal 2023 auch hier ein Einbruch zu erkennen. „Selbst im traditionell stabilen Bereich Pharma ist der Preisdruck angekommen. Durch steigende Kosten bei stagnierenden oder sogar sinkenden Preisen wird auch hier die Gewinnmarge gemindert“, so Thorsten Harke. Ähnlich sähe es in der Lebensmittelindustrie sowie im Bereich Homecare aus, wo es sich deutlich zeige, dass der Konsument aktuell spart.
„Wie hätten am liebsten einen einzigen branchenübergreifenden Standard an den entsprechenden Schnittstellen zur Digitalisierung.“
Robert Späth, stellvertretender Präsident und Schatzmeister, VCH
Ein Blick auf die Lösemittelrecyclingbranche, die sich in den letzten Jahren sehr gut entwickelt hatte, zeigt, dass auch diese sehr stark von den derzeitigen Einflüssen betroffen ist. „Aus Asien werden Mengen im XXL-Maßstab angeboten. Der Kostendruck ist hoch und wir müssen teilweise Ware zum halben Preis anbieten“, sagte Bastian Geiss und ergänzte: „Dazu kommt, dass wir bei Verträgen in der Vergangenheit deutlich längere Laufzeiten vereinbaren konnten. Momentan wird mehr oder weniger ‚just in time‘ geordert, eine große Vorausplanung gibt es nicht. Ich habe das Gefühl, die ganze Industrie steht da, wie das ‚Reh im Scheinwerferlicht‘, abwartend und nicht wissend, wo es langgeht.“
Faktoren, die die Unsicherheit vor allem im Logistikbereich verstärken, sind die deutsche Energiepolitik, die Bepreisung von CO2 und die Verdopplung der Mautkosten. Alles Punkte, bei denen sich die Branche von politischer Seite her mehr Unterstützung wünscht, um wieder Planungssicherheit zu erhalten. Christian Westphal verdeutlichte das Problem, dass die Blickwinkel der Industrie und der Politik zu unterschiedlich sind: „Dadurch, dass wir eine Art Vorlieferant sind und Kontakt zu verschiedensten Industrien haben, sehen wir Gefahren früher. Die Politik sieht immer nur die Zahlen der Vergangenheit. Sie haben zum Beispiel gesehen, dass das erste Quartal noch ganz gut war und so ist der Eindruck entstanden, dass die ‚Klippe schon umschifft‘ wäre. Wir müssen aber befürchten, dass die Rezession kommt und wir mehrere Quartale ohne oder mit nur niedrigem Wachstum vor uns haben.“
Externe Einflüsse und interne Themen
Sorgen um sein eigenes Geschäftsmodell macht sich der deutsche Chemiehandel keine. Die Unternehmen befürchten aber, dass ihnen die Umbrüche in den Lieferketten der vor- und nachgelagerten Chemieindustrie schaden könnten: „Unsere Dienstleistungen werden immer benötigt – gerade auch in der jetzigen Zeit. Wir beschaffen, wir finanzieren, wir lagern, und zwar auch in Zeiten, in denen die Kunden ihre Lagerbestände eher klein halten“, sagte Thomas Dassler und folgerte: „Von einem Händler wird erwartet, dass er jederzeit in der Lage ist, zu einem guten Preis und mit nicht zu langen Lieferzeiten zu liefern. Aber wenn unsere Kunden, die von hohen Energiekosten betroffen sind, die Entscheidung treffen, in den Mittleren Osten oder die USA oder in Niedriglohnländer zu gehen, dann werden unsere Dienstleistungen und unsere Produkte in dieser Form irgendwann auch nicht mehr benötigt.“ So könnten Produktionsschließungen und Standortverlagerungen in der chemischen und pharmazeutischen Industrie zu einer zunehmenden Konsolidierung in der Chemiehandelsbranche führen.
„Um sich zukunftssicher aufzustellen, beschäftigen sich der Verband und alle Mitgliedsunternehmen mit den aktuell vorherrschenden Themen wie Automatisierung, Digitalisierung und vor allem Nachhaltigkeit“, so Colin von Ettingshausen. Auch wenn der Anteil der Flottenemissionen und der Emissionen eigener Standorte an den Gesamtemissionen des Geschäfts vergleichsweise gering sind, will man den CO2-Ausstoß weiter reduzieren. Zusammen mit Partnern werden Wege gesucht, den CO2-Fußabdruck der Produktpalette entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu verbessern. Hierzu gehört auch, dass nach neuen Formulierungen gesucht wird, um Abhängigkeiten von einzelnen Produkten oder bestimmten Regionen zu minimieren. Während dies Themen sind, mit denen sich die einzelnen Unternehmen auseinandersetzen, gibt es weitere, bei denen der Verband seine Mitglieder unterstützt.
„Unsere Dienstleistungen werden immer benötigt – gerade auch in der jetzigen Zeit.“
Thomas Dassler, Vorsitzender der Fachabteilung Binnenhandel, VCH
Fachkräftemangel und Digitalisierung
Der Fachkräftemangel ist offenkundig und ein Thema, mit dem sich der Verband Chemiehandel auseinandersetzt und versucht, Lösungen für die Mitgliedsunternehmen zu finden. Es ist nicht einfach, offene Stellen zu besetzen – und das gilt inzwischen für alle Bereiche. Ein besonderer Mangel herrscht bei IT-Fachkräften, im regulatorischen Bereich und bei Lkw-Fahrern. Aber auch im Verkauf ist es inzwischen schwierig, kompetentes Personal zu finden, das vorzugsweise einen chemischen Hintergrund vorweisen kann. Mit der hohen Anzahl der zu besetzenden Stellen und dem damit verbundenen Aufwand für die einzelnen Unternehmen, steigen die Rekrutierungskosten stark an. Der Verband sieht sich deshalb in der Pflicht, die Branche mit all ihren Facetten positiv darzustellen, um deren Attraktivität für Nachwuchskräfte zu erhöhen.
Schnelle Übergangslösungen schafft der VCH durch ein vielfältiges Angebot an Schulungen und Weiterbildungen. „Wir haben die Idee, die Ausbildung von interessierten Personen zu begleiten, vor allem im regulatorischen Bereich. Das ist aber in Deutschland nicht ganz einfach, weil wir einige Hürden zu nehmen haben. Wir brauchen dazu zum Beispiel die Unterstützung der Handelskammern und qualifizierte Referenten. Der Austausch ist aber da, auch wenn das Projekt noch in den Kinderschuhen steckt“, erläuterte Michael Pätzold.
Ein weiteres Thema, bei dem der Verband den Mitgliedern zur Seite steht, ist die Digitalisierung. Auf der Suche nach digitalen Lösungen, die z. B. das Handling von Datenblättern erleichtern, stellt der VCH eine Plattform für den Ideenaustausch und prüft Möglichkeiten. „Umsetzen müssen es am Ende des Tages natürlich die Unternehmen, wir können nur die Unterstützung bieten“, so Ralph Alberti.
Eine besondere Herausforderung für den Chemiehandel ist die Tatsache, dass zu viele branchenspezifische digitale Lösungen angeboten werden. Dazu äußerte sich Robert Späth: „Wir sind mit einer Unzahl von Produkten und Branchen auf der Kundenseite verbunden und haben auf der anderen Seite eine Unzahl an Lieferanten. Das bedeutet, wenn sich digitale Standards in bestimmten Branchen bilden – der Automobilstandard hier und der Pharmastandard da – müssen wir diesen genügen. Deshalb hätten wir am liebsten einen einzigen branchenübergreifenden Standard an den entsprechenden Schnittstellen zur Digitalisierung. Und da kommt der Verband wieder ins Spiel. Er beobachtet, wo sich neue Standards, wie zum Beispiel der digitale Produktpass der EU, entwickeln und was das für den Chemiehandel bedeutet.“
Nicht zuletzt setzt sich der VCH ein, wenn es um gesetzgeberische Fragestellungen geht, um Anhörungen oder Stellungnahmen, wie in jüngster Zeit zum Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder zum europäischen Green Deal. Themen, die – neben vielen anderen – die Branche auf lange Sicht beschäftigen werden. Hier stützt sich der Verband auf ein starkes Netzwerk aus Facharbeitskreisen und Mitgliedsunternehmen, die das entsprechende Expertenwissen mitbringen.
Stetige Weiterentwicklung und Optimismus
Der Chemiehandel ist mit den letzten zwei Jahren zufrieden. Die Anzahl der Herausforderungen wird aktuell jedoch eher größer als kleiner – eine Lage, die weder völlig überraschend noch neu ist. Schwierige Situationen hat es schon oft gegeben und die Branche weiß, damit umzugehen, entwickelt sich weiter und blickt mit Optimismus in die Zukunft. Das Serviceangebot des VCH leistet dafür wichtige Beiträge.
Birgit Megges, CHEManager
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