Deutscher Chemiehandel wird durch Flexibilität belohnt
Chemiedistributoren meistern die Pandemie, müssen aber auch Einschränkungen hinnehmen
Laut Christian Westphal wurde der Zuwachs im letzten Jahr insbesondere durch die Industriechemikalien getragen, die ein Plus von 5,9 % verzeichnen konnten, während der Bereich der Spezialchemikalien um gut einen Prozentpunkt nachgegeben hat. Nachdem das erste Quartal 2020 positiv verlaufen war, hat die Pandemie in wichtigen Abnehmerbranchen zu starken Rückgängen geführt. Betroffen waren insbesondere die Automobilbranche und deren Zulieferbereiche wie Farben und Lacke, Kunststoffe und Schmierstoffe. Nachdem im Sommer die traditionell schwächere Nachfrage auf die Krise traf, war ab September wieder eine deutliche Erholung zu verzeichnen. Im Besonderen zu Beginn der Pandemie hat die Branche ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen können, indem sie ihre Handelsbeziehungen dazu eingesetzt hat, die Versorgung mit Desinfektionsmitteln zu gewährleisten. Aktuell sind einige Mitglieder des Chemiehandels auch bei der Beschaffung der Grundstoffe für die Produktion der dringend benötigten Impfstoffe eingebunden. Zurückblickend auf 2020 konnte die Branche ihren Mengenabsatz um rund 1,5 % im Vergleich zum Vorjahr steigern.
„Die Entwicklung hängt sehr stark davon ab, wo der Schwerpunkt des Geschäfts im Unternehmen liegt.“
Ergänzend zur allgemeinen Entwicklung ergab sich im Gespräch ein noch differenzierteres Bild zu den einzelnen Branchen. So bemerkte Thomas Sul: „Die Entwicklung hängt sehr stark davon ab, wo der Schwerpunkt des Geschäfts im Unternehmen liegt. Viele Mitglieder haben einen großen Anteil an Farben, Lacken und Industriechemie. Es sind aber auch einige dabei, die einen größeren Anteil Life-Sciences-Geschäft haben. Und dieser Bereich hat sich im letzten Jahr ganz anders dargestellt.“ Im Großen und Ganzen konnten sowohl im Bereich Kosmetik als auch in den Bereichen Lebensmittel und Pharma Gewinne erzielt werden, wobei auch hier einzelne Anwendungsbereiche differenzierter betrachtet werden sollten, wie Thorsten Harke bemerkte: „Es gab natürlich einen Boom bei Desinfektionsmitteln. Auch der Homecare-Bereich hat sich gut entwickelt, weil die Menschen häufiger zu Hause waren. Im gewerblichen Bereich gab es hingegen einen Einbruch, weil die Hotels und Restaurants geschlossen werden mussten.“
„Im Grunde werden wir für Rechtsverstöße von Zulieferern verantwortlich gemacht.“
Sul bekräftigte, dass die Chemiedistributionsbranche mit dem Wandel der Absatzmärkte gut umgehen konnte: „Da haben einige Unternehmen gezeigt, dass sie in so einer Situation in der Lage sind, neue Quellen zu erschließen. Sie konnten der Industrie helfen, ihre Verpflichtung zu erfüllen, zum Beispiel um Desinfektionsmittel herzustellen. Was vorher aus Europa kam wurde aus Korea, China oder anderen Ländern exportiert. Damit haben alle sehr viel Flexibilität bewiesen.“
Blickt man auf den aktuellen Stand, so stellt sich die Situation allerdings schon wieder anders dar.
Dabei wird aktuell von einer dynamischen Nachfrage nach Chemieprodukten sowohl im In- wie im Ausland berichtet. Insbesondere die industriellen Kunden füllen ihre geleerten Läger wieder auf. Einher geht diese erfreuliche Entwicklung mit sich verschärfenden, nicht mehr allein pandemie-getriebenen Problemen auf der Beschaffungsseite. Hierzu berichtete Frank Edler aus eigener Erfahrung: „Die Spezialchemikalien haben sich aus meiner Sicht wieder gefangen. Chemikalien für die Oberflächentechnik und Farben befinden sich im Wachstum. Das neue Problem ist, dass Zulieferprodukte fehlen.“ Durch diese Situation hat der Chemiehandel laut Robert Späth extrem viel zu tun: „Wenn es schwierig wird, haben wir die Funktion, mit unserem breiten Netzwerk an Lieferstrukturen die Versorgung sicherzustellen.“
Dass dies nicht einfach ist, trat bei der Betrachtung weiterer Aspekte zutage. Schon in der zweiten Hälfte des letzten Jahres wurde Frachtraum, insbesondere aus Asien, zunehmend knapp und somit teuer. Nun kommt aufgrund der wirtschaftlichen Erholung eine verstärkte Binnennachfrage in den USA und vor allem China hinzu. Verstärkt wird die Problematik durch die vermehrten Force-Majeur-Erklärungen von Produzenten, insbesondere aus Nordamerika. „Wir haben gerade listenweise Lieferanten mit Force-Majeur-Erklärungen aus unterschiedlichen Gründen, wie zum Beispiel den Wintereinbruch in Texas“, berichtete Edler und machte auf ein weiteres Problem aufmerksam: „Gerade im Binnenhandel werden wir große Probleme mit Verpackungsmaterial haben. Wir bekommen weder von Fassherstellern, noch von Rekonditionierern, die gebrauchte Fässer wieder aufarbeiten, ausreichende Mengen geliefert. Wir sind bemüht, die ausgelieferten Fässer, die mit Pfand ausgegeben werden, wieder in die Betriebe zu holen, um überhaupt lieferfähig zu sein.“ Diese Engpässe, die nicht nur Stahlverpackungen, sondern auch Kunststoffverpackungen wie IBC Container betreffen, wurden von den Verbandsmitgliedern als gravierend und langfristig eingestuft.
„Die Industriechemikalien haben im letzten Jahr ein Plus von 5,9 % verzeichnen können.“
Recycling
Für die gesamte Recyclingbranche 2020 war ein sehr gutes Jahr. Grund dafür waren vor allem die Verknappung von Waren. Hierzu erklärte Bastian Geiss: „Recycler leben von volatilen Märkten. Für uns als Recycler ist es das Schlimmste, wenn die Mengen über Jahre absolut stabil sind. Wenn wir wenig Abfälle bekommen, müssen wir diese oftmals beim Kunden ankaufen. Dadurch gleichen sich die Preise immer mehr den Frischmarktpreisen an.“ Hilfreich war für etliche Marktteilnehmer natürlich, dass sie große Mengen an Bioethanol aufarbeiten und der Verwendung als Desinfektionsmittel zuführen konnten. Neben des bereits angesprochenen Mangels an Verpackungen und daraus resultierender Störungen in der Lieferkette, wies Geiss noch auf eine andere Problematik für die Recycling-Branche hin: „Probleme macht uns die CO2-Steuer, die uns jetzt massiv betrifft. Wir verbrauchen mehrere Tausend Kilowatt an Gas im Jahr inklusive Strom und wir sind nur ein mittelgroßer Marktteilnehmer. Trotzdem kostet uns das in der ersten Ausbaustufe erst einmal rund 80.000 EUR mehr an Steuern. Die Regierung wird das weiter drastisch anziehen und wir müssen sehen, wo wir im internationalen Wettbewerb bleiben.“
„Wir sind seit Jahren sehr intensiv mit der Digitalisierung befasst.“
Investitionen und Digitalisierung
Trotz des insgesamt schwierigen Umfelds lag die Investitionsquote der Branche bei knapp 3 %. Sicherlich auch der Pandemiesituation geschuldet, wurde deutlich mehr als in den Vorjahren in die digitale Infrastruktur investiert. Hier wurden in erheblichem Maße Möglichkeiten für das Homeoffice geschaffen, wobei die Branche ihrem Wesen nach durch den Anteil der gewerblichen Mitarbeiter beschränkt ist.
Späth kommentierte: „Wir sind seit Jahren sehr intensiv mit der Digitalisierung befasst und die Tatsache, dass es mit dem Homeoffice so gut funktioniert hat, ist darauf zurückzuführen, dass es nur funktioniert, wenn die Mitarbeiter ihre ganzen Systeme, wie zum Beispiel das ERP, online zur Verfügung haben. Wir sind gerade im Chemiehandel sehr intensiv damit befasst, weitere Digitalisierungsschritte und Prozessoptimierungen durchzuführen, die Automatisierung von Abfüllprozessen eingeschlossen. Die Homeoffice-Thematik hat das Ganze nochmals gepusht und bestätigt, wie wichtig das alles war. In der Folge wurde deswegen vielleicht die ein oder andere Investition getätigt, bei der man vorher noch vorsichtig war.“
„Die Pandemie führt dazu, dass ein sehr abgekürztes Gesetzgebungsverfahren gewählt wird.“
Brexit
Zusätzlich zur Pandemie wurde die Wirtschaft und auch der Chemiehandel u.a. durch den Brexit belastet. Hier bereiten derzeit neben den logistischen Herausforderungen im Umgang mit z.B. den Zollformalitäten auch die regulatorischen Unsicherheiten erhebliche Probleme. So wurden zwar viele Verordnungen der EU „kopiert“, verursachen aber in der Praxis regulatorische Unsicherheiten und einen bürokratischen Mehraufwand. Michael Pätzold berichtete hierzu aus diversen Arbeitskreisen des VCH, die sich mit dieser Thematik befassen: „Gerade im Biozid-Bereich sehen sich die Unternehmen mit sich wiederholenden Anforderungen konfrontiert. Im Zuge von UK-REACh oder dem UK-Biozidrecht müssen neue Registrierungen vorgenommen oder Daten doppelt beschafft werden – und dies teilweise aus Quellen, auf die man derzeit keinen Zugriff hat. Man sieht hier einen zusätzlichen Aufwand zu dem, den man in Europa betreiben muss.“ Der damit verbundene Zeit- und Kostenaufwand ist so hoch, dass die Unternehmen in der Folge überlegen, ob bzw. zu welchen Preisen die Produkte in UK auf den Markt gebracht werden können. „Während wir davon ausgehen, dass sich die logistischen Herausforderungen erledigen werden, wenn alle Prozesse wieder laufen, sehen wir bei den regulatorischen Problemen zeitlich eher zwei oder drei Jahre und eine Menge an Geld, das zu investieren ist, wenn man dort Produkte auf den Markt bringen will“, so Pätzold weiter.
Abgabevorschriften für Explosivstoffe
Getrübt werden die mittelfristigen Aussichten auch durch die deutsche Gesetzgebung. Ein großes Problem für die Branche ist, dass seit dem 1. Februar die Abgabevorschriften für die sog. Explosivstoffe anzuwenden sind, nachdem die Verordnung schon im Jahr 2019 in Kraft getreten war. Damit verbunden sind deutlich strengere Vorschriften, auch was die Abgaben im B2B-Bereich angeht. Es gilt bei den vorgegebenen Konzentrationsgrenzen auch sehr schnell für Commodities wie z.B. Wasserstoffperoxid oder Salpetersäure die Verpflichtung, Daten aus dem Personalausweis des Bestellers in der Endverbleibserklärung angeben zu müssen. „Das ist eine Verpflichtung, die in den heutigen Zeiten des Datenschutzes, in der man angehalten wird, möglichst wenige persönliche Daten herauszugeben, ein Thema, das den Kunden nur sehr schwer beizubringen ist. Bedauerlich ist außerdem, dass nur wenige die Verordnung überhaupt kennen und vom Chemiehandel erstmal über die geltenden rechtlichen Vorschriften Aufklärungsarbeit zu leisten ist. Das erschwert im Moment das tägliche Geschäft“, fügte Ralph Alberti erklärend hinzu.
„Probleme macht uns die CO2-Steuer, die uns jetzt massiv betrifft.“
Sorgfaltspflichtengesetz in Lieferketten
Das Sorgfaltspflichtengesetz, das der Verbesserung der internationalen Menschenrechtslage dienen soll, indem es Anforderungen an ein verantwortliches Management von Lieferketten für bestimmte Unternehmen festlegt, wird derzeit ohne die Möglichkeit einer angemessenen Einbringung wirtschaftlicher Expertise mit Hochdruck durch das gesetzgeberische Verfahren gebracht, was Alberti mit den folgenden Ausführungen verdeutlichte: „Die Pandemie führt dazu, dass ein sehr abgekürztes Gesetzgebungsverfahren gewählt wird. Wenn man zur Prüfung eines Entwurfs nur ein paar Stunden Zeit bekommt, ist es sehr schwierig, diesen tatsächlich sinnvoll zu bewerten und dazu Stellung zu nehmen. Dies lässt an dem Willen zweifeln, die Wirtschaft ernsthaft beteiligen zu wollen.“ Zu befürchten ist insbesondere eine Überforderung der mittelständischen Unternehmen. Denn entgegen der Verlautbarungen sind diese sehr wohl durch entsprechende Klauseln, die die Weitergabe der Pflichten in der Lieferkette nicht nur erlauben, sondern einfordern, betroffen. Als letzten Punkt fand es Alberti schwierig zu erklären, dass es bei einem solch wichtigen Thema eines deutschen Alleingangs bedarf: „Da sich die EU auch des Themas angenommen hat und parallel zum deutschen Gesetzgebungsverfahren einen Lieferkettenansatz verfolgt, kann man sich die Frage stellen, ob dieser Alleingang einen Wettbewerbsnachteil für die deutschen Unternehmen darstellt.“
Auch Harke kritisierte das Lieferkettengesetz aus der Sicht eines Außenhändlers: „Ein Lieferkettengesetz erhöht die Rechtsunsicherheit, die dadurch entsteht, dass deutsche Unternehmen für das Verhalten ihrer Zulieferer verantwortlich gemacht werden. Wie sollen wir alles überprüfen, wenn Waren in Fernost produziert, aber über europäische Händler importiert werden? Im Grunde werden wir für Rechtsverstöße von Zulieferern verantwortlich gemacht. Wir können gerne dafür geradestehen, dass wir selbst immer gesetzestreu sind und für unsere eigenen Fehler haften, aber nicht für alle anderen. Diese geforderte Überwachung überfordert insbesondere mittelständische Unternehmen.“
„Im Zuge von UK-REACh oder dem UK-Biozidrecht müssen neue Registrierungen vorgenommen oder Daten doppelt beschafft werden.“
In diesem Zusammenhang erinnerte Späth an die Initiativen wie Responsible Care oder ESAD, denen der Chemiehandel bereits angeschlossen ist und die ebenfalls die Lieferketten berücksichtigen. „Die Politik müsste viel mehr mit der Industrie und mit dem Handel vorab kommunizieren, um zu sehen, was wirklich helfen würde. Hier entsteht der Eindruck, dass man durch den Druck der Öffentlichkeit überreagiert“, so Späth.
Aussichten
Nachdem die getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie das Bild zum Ende des abgelaufenen Jahres zunächst eingetrübt hatten, ist die Branche doch positiv in das Jahr 2021 gestartet. Die Branche schaut aber angesichts der wieder steigenden Nachfrage nach ihren Produkten und Dienstleistungen deutlich positiver in die Zukunft als noch zum Ende des vergangenen Jahres. „Es ist die Frage, wie jetzt sichergestellt werden kann, dass die Kundennachfrage so hoch bleibt. Es ist schwer vorauszusehen, wann diese Industrieanlagen wieder Kapazität haben werden. Das macht es ausgesprochen schwierig, in die Zukunft zu blicken. Dass wir als Chemiedistributionsbranche Lösungen haben, und versuchen werden, unsere Kunden mit unseren Dienstleistungen zu beliefern, das ist selbstverständlich“, beurteilte Westphal die Zukunftsaussichten abschließend.
„Gerade im Binnenhandel werden wir große Probleme mit Verpackungsmaterial haben.“
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