Interimsmanagement in der chemischen Industrie
Warum Unternehmen gerade jetzt auf externe Kompetenzen setzen sollten
Ihre Stärke liegt darin, operative Verantwortung zu übernehmen, weit über die typischen Ergebnisse von Beratungsprojekten hinauszugehen und Wandel nachhaltig umzusetzen. Iordanis Savvopoulos und Lukas von Hippel, zwei erfahrene Industriemanager mit Interimserfahrung, geben Einblicke in die Welt des Interimsmanagements und erläutern, warum Unternehmen gerade jetzt auf diese Expertise setzen sollten.
CHEManager: Obwohl das Interimsmanagement insbesondere in der Schweiz zunehmend an Bedeutung gewinnt, schöpft die Chemieindustrie in der DACH-Region das volle Potenzial noch nicht aus. Woran liegt das?
Iordanis Savvopoulos: Ein zentraler Hemmfaktor in Deutschland ist die mangelnde Akzeptanz des Interimsmanagements in der chemischen Industrie. Laut einer aktuellen Umfrage sehen 67 % der Teilnehmenden dies als Hauptbarriere, während 19 % den Mangel an branchenspezifischen Managern und 19 % unzureichende Bekanntheit der Vorteile als Hindernisse bewerten. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass das Bewusstsein für den strategischen Mehrwert von Interimsmanagement dringend gestärkt werden muss.
Lukas von Hippel: In der Schweiz und in Österreich sind nach meiner Erfahrung Interimsmanager tatsächlich deutlich häufiger im Einsatz als in Deutschland. Hierzulande tun sich vor allem Konzerne noch immer schwer damit, externe Kompetenz in die Umsetzung einzubinden. Ein Beispiel aus eigener Erfahrung zeigt das: In meiner letzten Tätigkeit bei einem deutschen Unternehmen der chemischen Industrie ging es um den Carve-out einer Division aus einem Konzern, den Verkauf, die spätere Geburt eines neuen Unternehmens und die Phase des neuen konzernunabhängigen Unternehmens. Ich durfte ein großes CDMO-Teilgeschäft leiten. Zusätzlich ging es um die Restrukturierung des mir anvertrauten Geschäfts, teilweise einen Turnaround. Wir hatten im Vorfeld lange darüber gesprochen, ob ich als Mitarbeiter oder Interimsmanager kommen würde. Man entschied sich schließlich für das Angestelltenverhältnis.
„In der Schweiz und in Österreich sind Interimsmanager deutlich häufiger im Einsatz als in Deutschland.“
Welche Ursachen könnte das so unterschiedliche Verhalten haben?
I. Savvopoulos: Die Zurückhaltung ist vor allem in traditionellen, hierarchischen Strukturen verbreitet, die stark auf interne Ressourcen setzen. Interimsmanagement wird oft als vorübergehende, unsichere Lösung wahrgenommen. Zudem fehlen branchenspezifische Experten, weniger als 20 % der Interimsmanager in der DACH-Region haben Erfahrung in der chemischen Industrie. Diese Kombination aus kulturellen, strukturellen und fachlichen Barrieren bremst den Einsatz.
L. von Hippel: Die Schweiz hat das Berufsbild des Interimsmanagements vor 46 Jahren erfunden. Der Markt für Interimsmanagement wird in der Schweiz auf 600 Mio. CHF geschätzt, Tendenz stark steigend. Die chemische und biotechnologische Industrie in der DACH-Region ist weitgehend mittelständisch geprägt. Im Mittelstand ist man es gewohnt, immer „einen Mitarbeiter zu wenig zu haben“ und so auf das absolut Notwendige zu fokussieren. Andere Erfahrung kauft man projektbezogen zu. Das passiert umso mehr, je schneller sich Ergebnisse amortisieren. Also in Themen rund um Innovation, Change, Turnaround – alles mit klarer Aufgabe und ambitionierten Zielen. Die Unternehmer verstehen den Einsatz des Interimsmanagements als Investition und als Flexibilisierung von Kosten. Deutsche Unternehmen kennen das von sogenannten AÜG-Kräften, also nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetzbeschäftigten Mitarbeitenden.
In Deutschland dominieren auch die KMU in der Industrie. Allerdings sind die sichtbaren Unternehmen eher große Organisationen und gewöhnt, die notwendigen Ressourcen selbst vorzuhalten. Funktionen, die man nicht intern besetzt, werden über Executive Search besetzt. Dann wartet man auch mal sechs bis zwölf Monate, bis die Person kommen kann. Das könnte ein typisches Zeitfenster für Interimsmanager sein, damit diese Bereiche nicht irgendwie mitbetreut werden müssen. Konzerne könnten sich sicher mit erfahrenen Kollegen projektbezogen das Leben erleichtern.
Was sind die typischen Aufgaben eines Interimsmanagements?
L. von Hippel: Der Interimsmanager sucht eine komplexe Aufgabe, die nicht alle gleich gut erfüllen können. Er möchte für seinen Auftraggeber den größtmöglichen Erfolg herbeiführen, nicht nur wegen der sich ergebenden Referenz, sondern auch, um selbst Erfolg zu haben. Wenn der Manager eine Situation mehrfach erfolgreich bewältigt hat, während sie für den Mandanten neu ist, ist für beide Seiten die Chance auf Erfolg sehr hoch. Wichtig ist, in den Vorgesprächen zu erkunden, ob die Chemie stimmt, also ob Arbeitsstil und Erwartungen passen.
I. Savvopoulos: Interimsmanager übernehmen Führungsaufgaben in zeitkritischen oder komplexen Situationen. Zu den zentralen Einsatzgebieten gehören Change-Management, Restrukturierungen, Turnarounds und Transformationsprojekte. Sie begleiten Veränderungsprozesse, optimieren Kosten und Strukturen, führen Unternehmen aus Krisen oder leiten die Einführung neuer Technologien, Digitalisierung oder Nachhaltigkeitsinitiativen. Der besondere Mehrwert von Interimsmanagern liegt in ihrer Fähigkeit, unabhängig von internen Strukturen zu agieren und mit ihrer umfassenden Erfahrung schnelle, praxistaugliche Lösungen umzusetzen.
Haben Sie konkrete Beispiele dafür, wie Interimsmanager durch innovative Lösungen und messbare Ergebnisse echten Mehrwert schaffen?
I. Savvopoulos: Ein gutes Beispiel aus der chemischen Industrie zeigt, wie ein Interimsmanager die Umstellung eines Produktionsstandorts auf nachhaltigere Verfahren leitete. Innerhalb von zwölf Monaten wurde der Energieverbrauch um 20 % gesenkt, die CO2-Emissionen um 15.000 t jährlich reduziert und
3 Mio. EUR an Energie- und Zertifizierungskosten eingespart. Über 200 Mitarbeitende wurden geschult, um die neuen Systeme zu nutzen.
Ein weiteres Beispiel: Ein Interimsmanager führte in einem mittelständischen Chemieunternehmen ein digitales Qualitätssicherungssystem ein. Innerhalb von neun Monaten konnte die Fehlerquote um 25% und die Durchlaufzeit der Qualitätskontrolle um 30% reduziert werden. Dies führte zu geringeren Produktionskosten und höherer Kundenzufriedenheit.
L. von Hippel: Im Turnaround geht es um Rentabilität, und Zeit ist knapp. Die eigens entwickelte ganzheitliche 5P-Methodik erfasst das ganze Unternehmen. Wie im Getriebe führt die Veränderung eines Bereichs zu Änderungen in anderen Bereichen.
Aber vielleicht helfen Themenfelder: In einem Projekt ging es um die Optimierung des Vertriebs eines mittelständischen Unternehmens. Das Unternehmen hatte eine bemerkenswert hohe Unternehmenskultur, die gleichzeitig komplett auf Konfliktvermeidung ausgelegt war. Es ging für das Unternehmen unter anderem darum zu lernen, konfliktäre Situationen auszuhalten und zum Erfolg aller zu nutzen. Das führte auch im täglichen Miteinander zu starken Veränderungen.
In einem anderen Projekt ging es um die Neugestaltung der Innovationspipeline für ein Unternehmen mit hohen Ambitionen. Es konnten Millionen gespart und Abläufe beschleunigt werden. Durch das Projekt zeigte sich – nicht ganz unerwartet – weiterer Veränderungsbedarf in anderen Bereichen.
In der Zusammenarbeit mit Start-ups gelang vier von fünf Unternehmen binnen weniger Monate der Breakeven. Start-ups haben keine Zeit und kein Geld, also muss es schnell, effizient und ressourcenschonend sein. Das dafür entwickelte Format benötigt lediglich zwei bis drei Tage Vorbereitung und zwei Tage vor Ort. Dann steht die Herangehensweise für etwa das nächste Jahr mit einem weiteren Ausblick.
Was sind die größten Herausforderungen speziell für Unternehmen in Deutschland, bei denen Interimsmanager unterstützen können?
I. Savvopoulos: Die größten Herausforderungen sind globaler Wettbewerbsdruck, hohe Energiekosten und Fachkräftemangel. Hinzu kommen Transformationsprozesse durch Digitalisierung, Nachhaltigkeitsanforderungen und veränderte Lieferketten. Interimsmanager können Unternehmen dabei unterstützen, Geschäftsbereiche neu auszurichten, Nachhaltigkeitsstrategien umzusetzen oder digitale Produktionssysteme einzuführen. Ihre Erfahrung und objektive Außensicht sind hier entscheidend.
L. von Hippel: Es gibt viel Unsicherheit rund um das Thema Wettbewerbsfähigkeit. Es geht um Turnaround, wegbrechende Geschäfte aus unterschiedlichen Gründen. Den Turnaround allein durch Kostenreduktion zu erreichen, gelingt nicht oft. Für mich ist es zielführend, einen Turnaround durch Wachstum zu ermöglichen. Das gelingt gut durch Innovation. Innovation ist unabdingbar mit wirtschaftlichem Erfolg verbunden und mit der Strategie des Unternehmens. Wichtig in diesem Kontext mag sein, dass Innovation nicht teuer sein muss.
Wenn es so einfach wäre, hätten wir viele der aktuellen Aufgabenstellungen nicht. Auch viele Berater bieten Unternehmen ihre Dienste an.
I. Savvopoulos: Die Aufgabenstellungen in der Chemiebranche sind komplex. Interimsmanager und Berater erfüllen unterschiedliche Rollen: Berater liefern strategische Impulse und Analysen, während Interimsmanager direkt in der Umsetzung aktiv werden, Verantwortung übernehmen und schnelle Ergebnisse liefern.
Ein Gespräch mit einem Interimsmanager lohnt sich, wenn ein Unternehmen kurzfristig Führungsstärke und Expertise, operatives Know-how oder Unterstützung bei Transformationen benötigt. Berater hingegen sind ideal, wenn es um langfristige Strategien oder externe Perspektiven geht. Beide ergänzen sich. Die Frage ist nicht „entweder – oder“, sondern wie sie zusammenwirken können.
L. von Hippel: Es gibt Aufgaben, die kommen über Nacht: Covid 19 war so ein Thema. Die Insolvenz eines großen Kunden. Der plötzliche Ausfall einer Schlüsselfunktion ohne geeignete Nachfolge – um nur einige wenige zu nennen. Andere Themen entwickeln sich über einen längeren Zeitraum, bis sie dringlich werden. Branchenerfahrene Interimsmanager haben Aufgaben, wie sie sich stellen, bereits erfolgreich gelöst. Sie sind trittsicher. Sie haben bestimmte Methoden, die temporär benötigt werden. Gleichzeitig wollen Interimsmanager nicht auf Dauer bleiben.
Ein Vorgespräch kann auch dazu führen, dass es zu keiner Zusammenarbeit kommt. Der Vorstand eines größeren Unternehmens fragte nach einem Projekt für einen Turnaround in einem Teilgeschäft an. Ein unglaublich reizvolles und interessantes Thema. Der angedachte Zeitraum und das gewünschte Ziel passten einfach nicht zusammen. Daher war es sinnvoller, dem Vorstand zu empfehlen, andere Überlegungen weiter zu verfolgen.
Letztlich ist Interimsmanagement nur eine Facette meiner Tätigkeit. Oft startet es mit einer Analyse der Ist-Situation, die dann in eine interimistische Tätigkeit mündet oder in die Begleitung des Unternehmens oder einer Teileinheit auf Zeit. Vom ersten Tag an ist es das erklärte Ziel, die Organisation in einem stabilen Zustand so schnell wie möglich wieder zu verlassen.
„Das Bewusstsein für den strategischen Mehrwert von Interimsmanagement muss dringend gestärkt werden.“
Wie wichtig ist der unsichtbare Erfolgsfaktor Unternehmenskultur, um Veränderungen durch Interimsmanagement nachhaltig zu gestalten?
I. Savvopoulos: Die Unternehmenskultur ist ein entscheidender Faktor, um den Erfolg von Interimsmanagement in der chemischen Industrie der DACH-Region sicherzustellen. Ich habe das folgendermaßen formuliert: „Die Kultur eines Unternehmens ist wie der Wind – unsichtbar, aber ihre Wirkung spürst du überall.“ Dieses Bild verdeutlicht, dass Kultur den Erfolg von Veränderungen maßgeblich beeinflusst. Aktuelle Umfrageergebnisse untermauern dies: 63% der Befragten sehen die Unternehmenskultur als entscheidenden Erfolgsfaktor. Interimsmanager müssen daher mehr sein als Experten für Prozesse und Projekte. Sie müssen als Kulturversteher agieren. Ihre Aufgabe ist es, Vertrauen aufzubauen und Wandel im Einklang mit der bestehenden Kultur des Unternehmens zu gestalten.
Das Schlüsselwort lautet: Kultursensibilität. Wer diese beherrscht, spürt den Wind der Unternehmenskultur nicht nur, sondern nutzt ihn gezielt, um Veränderungen nachhaltig voranzutreiben.
Zur Person
Iordanis Savvopoulos sammelte fast 36 Jahre Erfahrung in der chemischen Industrie bei Degussa bzw. Evonik, davon acht Jahre in Sub-Sahara Afrika. Der promovierte Chemiker gilt als Transformationsexperte. Mit fundierter interkultureller Managementerfahrung und Führungskompetenz in internationalen Märkten versteht er die Dynamiken globaler Märkte. Er entwickelt nachhaltige Geschäftsmodelle im Interimsmanagement und leitet eine LinkedIn-Serie zum Thema „Interimsmanagement und die chemische Industrie in der DACH-Region“.
Zur Person
Lukas von Hippel bringt rund 35 Jahre Erfahrung im Management von tiefgreifenden Veränderungen in Konzernen und im Mittelstand mit, zuletzt als Geschäftsführer und Bereichsleiter. Der promovierte Chemiker war u.a. für Degussa, Allessa Chemie, Pharma Waldhof und Lonza tätig. Mitte 2023 hat er sich als Interimsmanager selbstständig gemacht. Im Fokus seiner Tätigkeiten liegen Veränderungen wie Turnaround, Restrukturierungen oder der Aufbau neuer Geschäftsfelder, immer unterstützt durch Innovation.