Chemie & Life Sciences

Durchflusschemie eröffnet neue Wege

Fortschritte in der kontinuierlichen Synthese von industrierelevanten Feinchemikalien

17.05.2023 - Die sichere Herstellung von Feinchemikalien ist für die pharmazeutische Industrie von höchster Priorität, um eine verlässliche Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten zu gewährleisten.

Die sichere Herstellung von Feinchemikalien ist für die pharmazeutische Industrie von höchster Priorität, um eine verlässliche Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten zu gewährleisten. Zudem steht die chemische Industrie mit der Energiekrise und dem Übergang zu einer nachhaltigen Produktion vor neuen Herausforderungen. Einen Beitrag zur Lösung dieser komplexen Situation kann die Durchflusssynthese in Kombination mit der Mikroreaktionstechnik liefern, durch deren Methoden eine sichere und nachhaltigere Synthese von Feinchemikalien erzielt werden kann.

Die kontinuierliche Synthese in mikrostrukturierten Reaktorsystemen stellt eine definierte technologische Umgebung bereit, in der reaktive Gase, Reaktanden in Lösungsmitteln und feste Katalysatoren in einem definierten Volumen unter kontrollierten Bedingungen chemisch umgesetzt werden können. Damit bietet die Durchflusschemie mehrere Vorteile gegenüber dem Batch-Verfahren:

  • Schnelles und effizientes Aufheizen und Abkühlen von Hochdruck- und Hochtemperaturreaktionen für eine fortschrittliche Prozesskontrolle mit höherem Umsatz;
  • Eine höhere Selektivität durch bessere Durchmischung von Substraten mit Reagenzien oder durch das schnelle Quenchen von Reaktionslösungen;
  • Eine exakte Kontrolle über die Phasenkontaktierung durch die Steuerung der Flussraten.

Diese Vorteile können zu einer Prozessintensivierung in der Synthese von Feinchemikalien führen, die die Grundstoffe für Pharmazeutika darstellen. Eine erhöhte Sicherheit im Syntheseprozess und geringere Energie- und Produktionskosten erweisen sich ebenfalls als wichtige Argumente für die Synthese in Mikroreaktoren. 

Wiederentdeckte Syntheseprozesse und reaktive Intermediate im Fluss
Die Fotochemie hat sich in den letzten 15 Jahren durch neuartige fotokatalytische Konzepte für den Einsatz von sichtbarem Licht zu einer anerkannten Synthesemethode entwickelt. Mikrostrukturierte Durchflussreaktoren eignen sich hervorragend für fotochemische Synthesen, indem sie Licht perfekt mit flüssigen und gasförmigen Stoffströmen und festen Katalysatoren kontaktieren. Die präzise Kontrolle des fotochemischen Prozesses erfolgt über die Bestrahlungszeit in den Mikroreaktoren. Zudem hat sich die effiziente LED-Technologie bestens für die wellenlängenselektive Bestrahlung in der Synthese bewährt. Neben der Einführung von fluorhaltigen Gruppen in pharmazeutisch relevanten Molekülen, konnte die Durchflussfotochemie auch für die Herstellung von Singulett-Sauerstoff als Oxygenierungsmittel verwendet werden. Die fotochemische Aktivierung von Diazoniumsalzen kann mittlerweile sehr gut als katalysatorfreie Alternative mit der Edelmetallkatalysierten C-C-Bindungsknüpfung konkurrieren.
Auch die elektroorganische Synthese erlebt eine Renaissance in der akademischen Forschung und hinterlässt in der Industrie einen bleibenden Fußabdruck. Die Synthese mit Strom hat den Vorteil, die direkte chemische Umsetzung der Edukte ohne weitere Reagenzien zu ermöglichen, die normalerweise von den Produkten wieder abgetrennt werden müssten. Da elektrochemisch ein großer oxidativer und reduktiver Potenzialbereich zugänglich ist, ist die Elektrochemie für die industrielle Produktion organischer Verbindungen von Interesse (z. B. für Adipodinitril, Sebacinsäure, organischen Fluorverbindungen). Weitere Anwendung findet die Elektrochemie in der Herstellung von Bleichmitteln oder Kraftstoffen aus nachwachsenden Rohstoffen. Die Mikroverfahrenstechnik ist dabei der Schlüssel, um die Elektronen möglichst verlustfrei in den Prozess zu bekommen. Optimal angepasste Elektroden ermöglichen in mikrostrukturierten Reaktoren den Einsatz von hohen Stromdichten bei geringer Verlustleistung. Zudem sind in einem Mikroreaktor geringere Mengen an Leitsalz für die elektrochemische Umsetzung notwendig. 
Die Organometallverbindungen des Magnesiums und Zinks sind bekannte reaktive Intermediate, deren industrielle Batch-Prozesse ausgereift und etabliert sind, aber immer noch Nachteile in der Prozesssicherheit und bei Nebenreaktionen aufweisen (z. B. Wurtz-Kupplung). Die Überführung der Synthese der Organometallreagenzien in den kontinuierlichen Betrieb mittels Mikroreaktoren erzielte eine verbesserte Prozessführung mit dem Reaktivmetall in großem Überschuss, um Nebenreaktionen zu unterdrücken. 3D-Druck ermöglichte zudem den Aufbau der Reaktormodule mit komplexen Wärmetauschern, so dass durch die Kombination zweier „Enabling Technologies“ ein optimiertes Wärmemanagement möglich wurde. Eine integrierte Reaktivmetallzuführung inkl. Oberflächenaktivierung sind attraktive Vorteile für eine kontinuierliche Prozessierung. Die Skalierbarkeit dieser Reaktormodule erreicht eine Pilotskala von bis zu 20 l/h an organometallischem Reagenz, das direkt in einem zweiten Schritt umgesetzt werden kann. 

„In Kombination mit den nachhaltigen Methoden der Foto- und Elektrochemie eröffnet die Durchflusschemie völlig neue Möglichkeiten in der Herstellung pharmazeutischer Zwischenprodukte.“

Königsdisziplin Kaskadenreaktionen
In den letzten Jahren hat sich in der organisch-chemischen Forschung das Feld der Kaskadenreaktionen entwickelt: die Kombination unterschiedlicher Katalysemethoden für mehrstufige Reaktionen, die kaskadiert in einem Prozess ablaufen. Dadurch sollen Synergien aus den gekoppelten Katalyseschritten für die Herstellung von komplexen, chiralen Molekülen gewonnen werden. Die Durchflusssynthese und Mikroreaktionstechnik bieten sich für Kaskadenreaktionen sehr gut an, da z. B. Katalysatoren in einem Durchflussprozess immobilisiert und die Reaktionsbedingungen exakt auf jeden Katalyseschritt eingestellt werden können. Aktuell arbeitet ein Konsortium aus vier Fraunhofer-Instituten an der Kombination aus Foto- und Biokatalyse: Es kombiniert lichtgetriebene Reaktionen mit Enzymen und verbindet damit zwei milde Syntheseverfahren, die durch den Einsatz von Mikroreaktoren und neu entwickelten Katalysatoren die Herstellung von Feinchemikalien in hoher Enantiomerenreinheit verbessern sollen. Das vom BMBF geförderte Projekt ist im Rahmen der nationalen Bioökonomiestrategie angesiedelt und läuft noch bis 2024. 

Synergie und Vorteile aus Sicht der pharmazeutischen Industrie
In Kombination mit den nachhaltigen Methoden der Foto- und Elektrochemie eröffnet die Durchfluss­chemie völlig neue Möglichkeiten in der Herstellung pharmazeutischer Zwischenprodukte. Anders als in der Basis- oder Feinchemie, steht in der pharmazeutischen Industrie weniger die Wirtschaftlichkeit einer Methodik im Vordergrund, sondern ein gut verstandener und robuster Prozess. Es gilt, den Einfluss jedes Reaktionsparameters auf die Qualität eines Produkts zu kennen. Durch Kontrolle dieser Parameter sollte ein robuster Prozess immer die bekannte Qualität liefern können. Die kontinuierliche Herstellung – oftmals über mehrere chemische Reaktionsschritte – harmoniert mit den bereits erwähnten Kaskadenreaktionen. Ist es also denkbar, dass pharmazeutisch relevante Molekülklassen am Ende einer Kaskade von chemischen Grundoperationen in kontinuierlicher Weise herstellbar sind? Prozesse dieser Art können eine volle Kontrolle über alle Parameter erlauben sowie die nötige Skalierbarkeit ermöglichen. Es gibt bis heute nur sehr wenige Beispiele, in denen alle Vorteile von Flow-Prozessierung und Kaskadenreaktionen gezeigt werden konnten, dennoch ist das Interesse der Pharmaindustrie sehr hoch. Man denke sich nur einen kontinuierlichen foto- oder elektrochemischen Kaskadenprozess, der je nach Bedarf der Krankenhäuser kurzfristig herauf- oder heruntergeregelt werden kann und damit die Versorgung mit essenziellen Medikamenten absichern könnte. Das wäre die progressive Antwort auf das, was die von Krisen geplagten Lieferketten ertragen müssen.
Am Ende bleibt nur noch die Einbindung enzymatischer Prozesse. Diese Technologie erlaubt die selektive chemische Transformation oftmals ohne Schutzgruppenchemie. Zusätzlich lassen sich Enzyme durch das Konzept der gerichteten Evolution so optimieren, dass industriell nutzbare Produktivitäten entstehen. Zudem kann man Enzyme effizient immobilisieren und in Flow-Reaktionen einsetzen, wie dies in dem oben gezeigten Gemeinschaftsprojekt der vier Fraunhofer-Institute untersucht wird.
Der Weg ist dennoch weit. Die pharmazeutische Industrie ist zurecht eine der am strengsten kon­trollierten Branchen. Demnach muss jede Neuerung und ihr Einfluss auf die analytische Reinheit genau geprüft werden, sodass die produzierte Qualität kein Risiko für Patienten darstellt. Die dafür notwendige Dichte an Prozessdaten in Korrelation zu den analytischen Daten ist Gegenstand aktueller Initiativen in der pharmazeutischen Industrie.

Zusammenfassung
Die Mikroreaktionstechnik bietet mit der Durchflusschemie viele Methoden, um thermische, foto- bzw. elektrochemische Reaktionen sowie auf Katalyse basierende Syntheseschritte auf möglichst effiziente und nachhaltige Weise durchzuführen. Der Übergang von der Batch- zur Durchflusschemie birgt vor allem für die forschende und produzierende chemische Industrie zahlreiche Vorteile, wie z. B. Prozessintensivierung, weniger Abfall, gesteigerte Umsatzraten, einen einfacheren Scale-up und neuartige Reaktionspfade. Insbesondere die Forschung an gekoppelten Syntheseschritten in Form von Kaskadenreaktionen deutet eine kleine Revolution für die Entwicklung und Produktion von neuen Wirkstoffen an. Mit diesen Vorteilen kommt die chemische Industrie Hand in Hand mit der Durchflusschemie den Grundsätzen der grünen Chemie ein ganzes Stück näher und sorgt für eine zuverlässige Versorgung mit Medikamenten und Wirkstoffen.

Thomas H. Rehm, Senior Scientist, Fraunhofer-Institut für Mikrotechnik und Mikrosysteme IMM, Mainz
Ulrich Scholz, Head of Chemical Development, Boehringer Ingelheim, Ingelheim

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Zur Person

Thomas Rehm studierte Chemie an der Universität Würzburg und schloss 2008 seine Promotion über supramolekulare Polymere bei Carsten Schmuck ab. Danach arbeitete er bei Frank Würthner an Perylenbisimiden für die DNA/RNA-Erkennung. Seit 2011 forscht er am Fraunhofer IMM in Mainz mit dem Fokus auf Anwendungen der Mikroreaktionstechnik für Katalyse und Fotochemie.

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Zur Person

Ulrich Scholz studierte Chemie an der Universität Hannover und an der Standford University, USA. Er schloss 1999 seine Promotion über Gallensäure für die Synthese von Cephalostatinanaloga bei Ekkehard Winterfeldt ab und startete im Anschluss daran seine Karriere in der chemischen Industrie. Nach Stationen bei Bayer und Lanxess ist er nun bei Boehringer Ingelheim als Head of Chemical Development u.a. verantwortlich für die Prozessforschung, die Wirkstoffentwicklung und den Scale-up.

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