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Diskussion um Biomassenutzung und Ernährungssicherheit

Betrachtung der Nutzung von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen als Rohstoffe für biobasierte Materialien

16.08.2023 - In einer aktuellen Studie diskutiert die Renewable Carbon Initiative (RCI) die komplexen Zusammenhänge zwischen Biomassenutzung, Klimawandel und Ernährungssicherheit und beschäftigt sich mit der verbreiteten Behauptung, dass die Nutzung von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen als Rohstofflieferanten für biobasierte Materialien unverantwortlich sei, weil sie Hunger verursache. Die Publikation erscheint im Kontext einer weltweiten Hungerkrise und dramatischer Weizen­engpässe infolge des Kriegs in der Ukra­ine.

Nach Angaben des Welternährungsprogramms sind im Jahr 2023 rund 349 Millionen Menschen in 79 Ländern von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen – ein gewaltiger Anstieg von 287 Millionen im Jahr 2021. Noch erschreckender ist die Zunahme um 200 Millionen Menschen gegenüber dem Niveau vor der Covid-19-Pandemie. Und weltweit kämpfen heute mehr als 900.000 Menschen unter Hungerbedingungen ums Überleben. Das sind zehnmal so viele wie noch vor fünf Jahren, ein alarmierend schneller Anstieg (WFP 2023).

Fokus auf die zentralen Ursachen für den Hunger in der Welt

Vor diesem Hintergrund mag es menschenverachtend erscheinen, ein Papier zu veröffentlichen, welches die weit verbreitete Ansicht in Frage stellt, dass die Nutzung von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen für andere Zwecke – nämlich für biobasierte Chemikalien und Materialien – die Ernährungssicherheit beeinträchtige. Die Publikation der RCI will jedoch zeigen, dass die übliche Biomasse-Debatte fehlerhaft, subjektiv und nicht vollständig durch eindeutige Beweise gestützt ist und damit von den weitaus schwerwiegenderen Ursachen des Hungers in der Welt ablenkt. Diese sind laut Welt­ernährungsprogramm 2023 vor allem Klimawandel, Konflikte, extreme Ungleichverteilung von Wohlstand, hohe Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten aus Indus­trieländern, übermäßiger Fleischkonsum, Verluste entlang der Wertschöpfungskette und die Auswirkungen der Covid-Pandemie. Die Konkurrenz der Biomassenutzung wird nicht als relevante Ursache genannt.

Biobasierte Materialien und die Bekämpfung des Klimawandels

Die Nutzung von Biomasse für industrielle Anwendungen hat das Potenzial, fossile Rohstoffe zu ersetzen und damit einen Beitrag zur dringend notwendigen Reduzierung der fossilen CO2-Emissionen in die Atmos­phäre zu leisten, um den Klimawandel abzumildern. Fossile Ressourcen tragen ca. 70 % zu den klimarelevanten Emissionen bei (IPCC 2021), und während man den Energiesektor mithilfe von Solar- und Wind­energie vollständig dekarbonisieren kann, wird die Chemie- und Werkstoffindustrie dauerhaft Kohlenstoff benötigen und emittieren. Dies liegt daran, dass Kohlenstoff das zentrale Element in den Molekülen der organischen Chemie ist, das am Ende des Lebenszyklus dieser Materialien und den daraus gefertigten Produkten – wenn sie nicht eingesammelt und rezykliert werden – in Form von klimarelevantem Gas freigesetzt wird. Das heißt, dass die Substitution von fossilem durch biogenen Kohlenstoff in ebenjenen Molekülen eine Kernstrategie des Kampfs gegen den Klimawandel sein muss, der bereits heute eine der Hauptursachen für Hunger in der Welt ist. Dies ist eine Kernerkenntnis des Papiers, die in der vorherrschenden Debatte oft vergessen wird (siehe Grafik)

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Erneuerbare Energie und erneuerbarer Kohlenstoff für eine nachhaltige Zukunft (Quelle: Nova-Institut 2021)


Ohne in Frage zu stellen, dass die Bekämpfung des globalen Hungers von elementarer Wichtigkeit ist, argumentieren die Autoren des Papiers, dass die Nutzung von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen für chemische und stoffliche Zwecke die Ernährungsunsicherheit nicht zwangsläufig verschärfen muss. Im Gegenteil, eine solche Nutzung bietet sogar das Potenzial, vielfältige Vorteile für die lokale und globale Ernährungssicherheit, den Klimaschutz und andere Faktoren mit sich zu bringen. Die Studie nennt sieben potenzielle Vorteile durch die Nutzung von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen für biobasierte Materialien (siehe Grafik):

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Potenzielle Vorteile der Nutzung von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen (Quelle: Nova-Institut 2023)

 

  1. Das Klima gewinnt. Um den Klimawandel einzudämmen, ist eine Abkehr von fossilen Rohstoffen notwendig. Bio-basierte Materialien sind Teil der Lösung und können so dazu beitragen, eine der Haupt­ursachen des Hungers in der Welt zu bekämpfen.
  2. Die Flächenproduktivität steigt. Nutzungskonkurrenzen bestehen nicht um die Art der angebauten Pflanzen, sondern um die Fläche. Die Gesamtverfügbarkeit von Anbauflächen und damit von Nahrungs- und Futtermitteln auf der Erde bestimmt, was möglich ist und was nicht. Nahrungs- und Futtermittelpflanzen bieten hohe Erträge durch langfristige Optimierung und eine Vielzahl von Nebenprodukten, die gleichzeitig in einer Vielzahl von Anwendungen genutzt werden, um die verfügbare Fläche optimal zu nutzen.
  3. Die Umwelt profitiert von der höheren Ressourceneffizienz und Produktivität von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen und dem geringeren Flächenbedarf, insbesondere wenn landwirtschaftliche Praktiken verbessert werden, um die Gesundheit von Böden und Ökosystemen besser zu schützen.
  4. Die Landwirte gewinnen, weil sie mehr Möglichkeiten haben, ihre Bestände auf verschiedenen Märkten (Lebensmittel, Futtermittel, Biokraftstoffe, Werkstoffindustrie) zu verkaufen, und damit eine größere wirtschaftliche Sicherheit haben. Dies kann Investitionen stärken und letztlich die Verfügbarkeit von Ackerland erhöhen und eine nachhaltige ländliche Entwicklung zur Erhaltung der Landwirtschaft in der EU gewährleisten.
  5. Die Marktstabilität wird gestärkt durch die erhöhte globale Verfügbarkeit von Nahrungs- und Futtermitteln, wodurch das Risiko von Engpässen und Spekulationsspitzen verringert wird. Der Einfluss von Biokraftstoffen und biobasierten Materialien auf die Lebensmittelpreise ist vernachlässigbar.
  6. Die Futtermittelsicherheit wird erhöht durch den hohen Wert der proteinreichen Nebenprodukte von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen (die auch als Proteinquelle für die menschliche Ernährung genutzt werden können).
  7. Die Ernährungssicherheit gewinnt durch die erhöhte Gesamtverfügbarkeit von essbaren Pflanzen, die gelagert und in Krisenzeiten flexibel verteilt werden können (Notfallreserve), wodurch das Risiko regionaler Hungersnöte, ausgelöst durch den Versorgungszyklus, wirksam reduziert wird.

Die Autoren der Studie argumentieren, dass „es im Gesamtzusammenhang nicht um die spezifische Frage geht, ob Nahrungs- oder Nichtnahrungspflanzen für die Produktion von Biomaterialien verwendet werden, sondern vielmehr um die Integration jedes Rohstoffs für die Produktion von Biomateria­lien in ein Gesamtsystem und seine sozialen, ökologischen und preislichen Auswirkungen auf dieses System“ (BFA 2022, übersetzt von den Autoren). Die Wahl des Rohstoffs hängt von vielen Faktoren ab und ist standortspezifisch. Es gibt keine „Einheitslösung“.

Fazit: breite Diskussion notwendig

Alles in allem erfordert dieses komplexe Thema fundierte, detaillierte und regionalspezifische Analysen – simple Aussagen werden ihm nicht gerecht. Im schlimmsten Fall lenken solch vereinfachende Aussagen nur von den eigentlichen Ursachen des Hungers in der Welt ab und verhindern gleichzeitig, dass eine junge und innovative Industrie ihr Potenzial ausschöpft, zum Klimaschutz beizutragen und nachhaltigere Materialien anzubieten. Die Renew­able Carbon Initiative regt eine breite Diskussion an, die die Notwendigkeit der Ernährungssicherheit mit den potenziellen Vorteilen biobasierter Materialien aus Nahrungs- und Futtermittelpflanzen in Einklang bringt.

Autorin: Lara Dammer, Abteilungsleiterin Ökonomie und Politik, Nova-Institut für politische und ökologische Innovation GmbH, Hürth

 

„Die Substitution von fossilem durch biogenen Kohlenstoff in Molekülen muss eine Kernstrategie des Kampfs gegen den Klimawandel sein.“

 

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Zur Person

Lara Dammer studierte Politikwissenschaft, Anglistik und Geschichte in Bonn. Nach ihrem Magisterabschluss 2010 arbeitete sie in der Entwicklungszusammenarbeit für eine deutsche NGO auf den Philippinen. 2012 begann sie, als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Nova-Institut an Themen rund um die Bioökonomie zu arbeiten. Seit 2016 leitet sie die Abteilung Ökonomie & Politik des Nova-Instituts sowie seit 2021 die Arbeitsgruppe Politik der Renewable Carbon Initiative (RCI) und ist aktiv an mehreren politischen Prozessen der EU beteiligt.

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