Digitale Typenschilder als Wegweiser zu digitalen Zwillingen
Kleines Schild – große Wirkung
Jede Anlage, Maschine oder Komponente sammelt im Laufe ihres Lebens zahlreiche Daten. Digitale Typenschilder sorgen dafür, dass diese Daten nicht verschwinden, sondern als wertvolle Informationen dem Anwender zur richtigen Zeit am gewünschten Ort zur Verfügung stehen.
Die Identifikation von Produkten, bzw. Komponenten, Maschinen und Anlagen, sowie die Bereitstellung der relevanten Informationen spielen in der Industrie eine wichtige Rolle. In der Theorie sollte bei jeder Anlage die gesamte Dokumentation (inkl. der unterlagerten Produkte und Komponenten) an den Anlagenteilen direkt verfügbar sein. Die Praxis zeigt jedoch ein anderes Bild: Auf die relevanten Informationen, Daten und Dokumente ist ein Zugriff zu jedem Zeitpunkt oft nicht möglich. Meist ist es schon allein aus Platzgründen nicht möglich, die Dokumentation an der Anlage direkt zu hinterlegen. Darüber hinaus gibt es weitere Widrigkeiten, angefangen von unterschiedlichen Sprachen der Dokumente über Aktualisierungen bis hin zu einer vernünftigen und praktikablen Ablage von Informationen und Daten (z.B. Wartungsberichte) über den gesamten Lebenszyklus einer Anlage.
Nun könnte man argumentieren, dass es mit der zunehmenden Digitalisierung leichter wird. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar werden in vielen Unternehmen begleitende Softwareanwendungen genutzt, um einen ungestörten Betrieb der Anlage aufrecht zu halten. Hierzu gehören insbesondere Asset- und Dokumenten-Management-Systeme, sowie Wartungs- und Servicesoftware. Aber auch diese Systeme müssen für die Nutzung mit allen Daten der Anlagen, bzw. der genutzten Komponenten, gefüllt werden. Das bedeutet für den Betreiber einen entsprechend großen manuellen Aufwand, da sich die Daten häufig nur von Hand einpflegen lassen.
Eine passende Lösung für die Probleme bieten digitale Typenschilder in Kombination mit digitalen Zwillingen auf Basis der Verwaltungsschale (Asset Administration Shell – kurz AAS). Mit dieser Kombination wird es möglich, jederzeit und weltweit auf alle verfügbaren Informationen und Dokumente einer Anlage, Maschine oder Komponente zuzugreifen. Einzige technische Voraussetzung hierzu ist ein Smartphone/Tablet mit integrierter Kamera und Internetverbindung. Um auf die Informationen eines Assets zuzugreifen, muss lediglich der entsprechende Code auf dem gedruckten Typenschild eingescannt werden.
Wie bekomme ich ein digitales Typenschild?
Digitale Typenschilder sind eine Weiterentwicklung von bestehenden, gedruckten Typenschildern. Für eine Verknüpfung des digitalen Informationsmodells mit dem realen Produkt (Asset) wird das gedruckte Typenschild um einen QR-, RFID- oder 2D-Data-Matrix-Code erweitert. Zur einfachen Identifizierung des digitalen Typenschilds wird um den Code ein spezieller Rahmen gedruckt. In dem auf dem Typenschild aufgebrachten QR-, RFID- oder 2D-Data-Matrix-Code ist ein Link zur Herstellerplattform, sowie die Seriennummer des Assets codiert. Die Kombination aus Seriennummer und Herstellerlink ist weltweit einmalig und eignet sich für die eindeutige Identifikation eines Assets. Gleichzeit lassen sich hierdurch alle Informationen und Dokumente zu einer Seriennummer aufrufen. Die genauen Spezifikationen eines digitalen Typenschilds sind in der IEC 61406 im Detail beschrieben; die Verwendung der Kennzeichnung darf kostenfrei von Unternehmen genutzt werden. Durch diesen Mechanismus dient das gedruckte digitale Typenschild als Wegweiser zum digitalen Zwilling.
Digitale Zwillinge auf Basis der Verwaltungsschale
Digitale Zwillinge werden in der Industrie umgangssprachlich fast inflationär verwendet. Oft verstehen Firmen darunter ein Simulationsmodell, welches in eigenen Formaten erstellt und angeboten wird. Digitale Zwillinge auf Basis der Verwaltungsschale (Asset Administration Shell) unterscheiden sich hier deutlich.
Verwaltungsschalen sind Datenmodelle, die in herstellerübergreifenden Spezifikationen beschrieben sind. Sie werden maßgeblich durch die „Industrial Digital Twin Association“ (IDTA) entwickelt, einer Organisation, in der sich über 80 Firmen, Verbände und Universitäten zusammengeschlossen haben. Unter den Mitgliedsunternehmen befinden sich u.a. das Who-is-Who der Zulieferindustrie. Ziel der IDTA ist die Etablierung der Verwaltungsschale, sowie der Weiterentwicklung von Submodellen.
Verwaltungsschalen als Datenmodell zeichnen sich insbesondere durch ihre Interoperabilität aus. Durch die Verwendung von Klassifizierungen, z.B. ECLASS können alle Informationen problemlos in Softwareumgebungen, wie in ein ERP- oder Asset-Management-System, importiert werden. Für den Austausch von Informationen in systemübergreifenden Anwendungen stehen standardisierte REST-API-Schnittstellen zur Verfügung.
Verwaltungsschalen sind in Submodelle unterteilt, die die entsprechenden Informationen zum Asset enthalten. Diese decken alle Aspekte in einem Produktleben ab. Besonders interessant sind Verwaltungsschalen in folgenden Bereichen:
- Digitales Engineering: Mit einer Verwaltungsschale können alle relevanten Daten für ein digitales Engineering übergeben werden. Sie bilden zukünftig die Basis für ein digitales Engineering. Typischerweise werden hierzu 3D- und ECAD-Modelle, technische Daten und Maßzeichnungen in einer Verwaltungsschale hinterlegt.
- Simulation: Mit Verwaltungsschalen können Simulationsmodelle, sowie die benötigten Daten für Simulationen übergeben werden.
- Übergabe von Stammdaten: Über Verwaltungsschalen lassen sich in der gesamten Wertschöpfungskette der Industrie wesentlich effizienter Daten übergeben und dadurch Ressourcen sparen. Es ist eine durchgängige Datenübergabe, angefangen von der kleinsten Schraube über Komponenten und Maschinen bis hin zur gesamten Anlage über alle beteiligten Firmen möglich. Die Daten aus Verwaltungsschalen können für die Integration von Produktdaten in ERP- oder Asset-Managementsystemen genutzt werden. Derzeit ist dies in vielen Unternehmen ein manueller Aufwand, der aus Ressourcengründen oft nur rudimentär durchgeführt wird.
- Dokumentenmanagement: In der Verwaltungsschale können Dokumente über das Submodell „Handover Documentation“ übergeben werden. Als Basis dient die VDI 2770, die zu jedem Dokument weitere Klassifizierungen und Beschreibungen verlangt. Dies vereinfacht eine automatische Einbindung der Dokumente in ein Dokumenten-Managementsystem deutlich.
- Kommunikation von Maschinen untereinander: In vernetzten Systemen können Maschinen mit Hilfe der Verwaltungsschale im Sinne von Industrie 4.0 untereinander kommunizieren. Über die Verwaltungsschale sind z. B. Maschinen in der Lage, bei Bedarf selbstständig einen Service zu ordern.
- Nutzung als „digitaler Produktpass“: Anlagen und Maschinenbauer sowie Betreiber können die Daten der Verwaltungsschale weiter anreichern. Hierbei kann es sich z. B. um Informationen über den Installationsort, Verdrahtungsdetails, Parametrierungen, Reparatur und Wartungsdaten handeln.
- Steuerung von Produktionen: Verwaltungsschalen können genutzt werden, um Produktionen im Sinne einer autonomen Produktion zu steuern. Daten aus einem Konfigurator können z. B. mit einer Verwaltungsschale direkt mit einer Produktion interagieren.
Die Beispiele zeigen: Den Einsatzmöglichkeiten von Verwaltungsschalen sind nur sehr wenige Grenzen gesetzt. Doch gerade dieser Umstand erschwert es, die jeweils benötigten Anwendungen zu identifizieren. Insbesondere bei Bestandsanlagen mit einem geringeren Vernetzungsgrad stellt sich für viele Anwender die Frage nach dem Nutzen von digitalen Typenschildern und Verwaltungsschalen.
„Mit Verwaltungsschalen können Simulationsmodelle sowie die benötigten Daten für Simulationen übergeben werden.“
Wie gelingt der Sprung in die Praxis?
Antworten darauf liefert u.a. der Demonstrator von R. Stahl: Für eine bestimmte Anzahl an explosionsgeschützten Produkten wurde ein Demonstrator erstellt, der zeigt, wie Verwaltungsschalen aufgebaut sind. Anhand von sechs beispielhaften Anwendungen werden die realen Vorteile dargestellt, die sich aus der Nutzung von digitalen Typenschildern in Kombination mit Verwaltungsschalen für Bestands- und Neuanlagen ergeben:
Automatische Kundeninformation bei Firmware-Updates: Kunden können automatisch über Firmware-Updates per E-Mail informiert werden. Ein mühsames Suchen entfällt.
Vereinfachte Suchen nach Produktdetails für Servicetechniker: Bei Unterstützung von Technikern durch ein Back Office können alle Daten zu einem Produkt mit wenigen Mausklicks aufgerufen werden. Eine zeitaufwändige Suche in der mitgelieferten Papierdokumentation entfällt.
- Automatisierte Erstellung von vorausgefüllten Rücksendescheinen: Retouren-Prozesse werden einfacher und automatisiert. Alle vorhandenen Daten zum Asset werden direkt in einen Rücksendelieferschein übertragen und können auf Knopfdruck an den Hersteller gesendet werden. Das verhindert Fehler und reduziert den Aufwand für Rücksendungen.
- Digitales Wartungshandbuch für Komponenten, Maschinen und Anlagen: Auf Basis der Verwaltungsschale und digitaler Typenschilder kann ein digitales Wartungshandbuch realisiert werden. Die aufwändige Papierdokumentation im Feld entfällt. Dies spart Zeit und Kosten.
- Bereitstellung aller Dokumente/Zertifikate für Audits und Zollabwicklungen: Alle Zertifikate im direkten Zugriff durch ein Abscannen des QR-Tags am Produkt. Das mühsame Suchen nach Zertifikaten entfällt bei einem Audit oder den Zollformalitäten.
- Identifikation von Nachfolgeprodukten im Servicefall: Direkte Identifikation von Nachfolgeprodukten ohne Suchen auf Herstellerseiten. Dies reduziert die Downtime und verbessert die Effektivität in Servicefällen deutlich.
Fazit
Die Kombination aus digitalen Typenschildern und Verwaltungsschalen eröffnet allen Unternehmen neue Möglichkeiten und reduziert die Aufwände für die Bereitstellung von Informationen deutlich. Durch den Einsatz von herstellerübergreifenden Standards und Spezifikationen lassen sich entlang der gesamten Wertschöpfungskette Einsparungen erzielen. Darüber hinaus erfüllt diese Kombination bereits die Anforderungen an einen zukünftigen digitalen Produktpass der EU und ist somit zukunftssicher.
Autor: Roland Dunker, Digital Transformation Manager, R. Stahl GmbH, Waldenburg
„Durch den Einsatz herstellerübergreifender Standards lassen sich entlang der gesamten Wertschöpfungskette Einsparungen erzielen.“