Starke Gewinne, schwache Aussichten
Deutschlands Chemieindustrie startet trotz Ungewissheit mit Zuversicht ins Jahr 2023
Nach dem Produktionseinbruch in der chemischen Industrie im vierten Quartal 2022 hat sich der Blick in die Zukunft der Branche aufgehellt. Die deutlich gesunkenen Energie- und Rohstoffpreise der vergangenen Monate haben die Situation etwas stabilisiert. Die Talsohle scheint erreicht, doch eine kraftvolle Erholung ist nicht in Sicht. Die Lage am Chemiestandort Deutschland bleibt schwierig.
Große Unsicherheiten prägten das Jahr 2022: steigende Preise für Rohstoffe und Energie, Inflation und steigende Zinsen sowie die Sorge um weitreichende geopolitische und wirtschaftliche Verwerfungen. Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und der Energiekrise in Europa für die Wirtschaft waren gewaltig, besonders betroffen: die energieintensiven Chemieunternehmen in Deutschland. Die Branche hat im vergangenen Jahr eine Achterbahnfahrt erlebt. In der ersten Jahreshälfte stieg die Nachfrage rasant. Kunden füllten ihre Läger, um Lieferengpässen und Preissteigerungen vorzubeugen. Ab dem Spätsommer schwächelte die Konjunktur und die Gaskrise hatte die Unternehmen fest im Griff.
Die deutsche Basischemie drosselte im vierten Quartal 2022 ihre Produktion um etwa 30 %. In der Spezialchemie und bei Konsumchemikalien betrug der Rückgang knapp 9 %. Die Kapazitätsauslastung der Branche sank Ende des Jahres auf 76,5 %, den tiefsten Wert seit der Finanzkrise im Jahr 2009.
Lange Zeit gelang es den deutschen Unternehmen jedoch, ihre gestiegen Kosten für Rohstoffe und Energie durch Preissteigerungen von knapp 22 % weiterzugeben. So konnte die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie trotz sinkender Absatzmengen ihren Umsatz im Jahr 2022 um 16,6 % auf 265 Mrd. EUR steigern.
Steigende Gewinne in der Spezialchemie treiben die Inflation
Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Bilanzen der größten Chemiekonzerne in Deutschland wider (vgl. Seite 3 und 5). Vor allem die Spezialunternehmen unter ihnen konnten nicht nur ihre Umsätze, sondern auch ihre Gewinne steigern. So profitierte z. B. Lanxess vom Boom in der Bauindustrie. Der Umsatz des Kölner Unternehmens stieg um 33 % auf 8,1 Mrd. EUR, das EBITDA um 14 %. Möglich wurde dies durch Preiserhöhungen um 24 %, die die gestiegenen Kosten mehr als wettmachten. Auch der Essener Chemiekonzern Evonik steigerte trotz hoher Energiepreise seinen Betriebsgewinn auf 2,5 Mrd. EUR und erzielte damit das beste Ergebnis seit zehn Jahren. Viele Unternehmen, nicht nur in der Chemiebranche, erhöhten im vergangenen Jahr aufgrund der unsicheren Lage ihre Preise stärker, als dass ihre Kosten stiegen. Mit ihren steigenden Gewinnen treiben sie die Inflation zusätzlich an.
Neben Preiserhöhungen trugen auch Währungseffekte zu steigenden Gewinnen bei. So profitierten vor allem Unternehmen mit hohen Umsatzanteilen im Dollarraum von einem deutlich schwächeren Eurokurs, dazu zählt z. B. der Darmstädter Merck-Konzern, der sowohl bei Umsatz als auch Ergebnis (EBITDA pre) im vergangenen Jahr um über 12 % zulegte. Ein Trend, der sich in den ersten Monaten 2023 genauso wenig fortsetzte wie die steigenden Erzeugerpreise. Darüber hinaus klagte bei einer VCI-Umfrage vom November 2022 rund jedes dritte Chemieunternehmen über einen Auftragsmangel. Ein Warnzeichen, denn die Konjunktur in der Chemieindustrie gilt als Frühindikator für die Entwicklung der gesamten Wirtschaft. Die Branche versorgt viele Industrien mit Chemikalien und Kunststoffen und spürt Veränderungen in der Nachfrage sehr früh.
Keine schnelle Erholung
Zwar hellte sich die Stimmung in der deutschen Chemieindustrie zu Ende des Winters trotz stagnierender Nachfrage dank der deutlich gesunkenen Energiepreise und ausreichender Gasvorräte wieder auf. Doch anders als nach der Pandemie oder der Weltwirtschaftskrise wird es aus Sicht des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) dieses Mal keine schnelle Konjunkturerholung geben. Die im internationalen Vergleich hohen Energiekosten, der Auftragsmangel und Standortprobleme sprechen dagegen. Auch aus dem Chinageschäft kommen aktuell wenige Impulse.
„Die Energiekrise hat es offenbart: Deutschland hat ein enormes Standortproblem. Ob Energie, Infrastruktur, Fachkräfte, Digitalisierung oder ein effizientes, leistungsfähiges Staatswesen: Wir glauben uns vorne, spielen aber inzwischen gegen den Abstieg“, sagt VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup und fordert einen industriepolitischen Neustart. „Dabei gilt: Weniger ist mehr. Weniger Regulation für mehr Transformation. Unsere Antwort auf den IRA der USA sollte ein RRA sein – ein Regulation Reduction Act“, fordert Große Entrup.
Strukturwandel in der Basischemie
Martin Brudermüller, Vorstandsvorsitzender bei BASF, sieht darin ein europäisches Problem: „Die Wettbewerbsfähigkeit Europas leidet zunehmend unter Überregulierung. Sie leidet auch immer mehr unter langsamen und bürokratischen Genehmigungsverfahren und vor allem unter hohen Kosten für die meisten Produktionsfaktoren“, sagt der BASF-Chef und unterlegt dies mit Zahlen aus dem eigenen Unternehmen: Aufgrund der Energiekrise stiegen die Erdgaskosten des Konzerns im Jahr 2022 weltweit um 2,2 Mrd. EUR, allein 2,0 Mrd. EUR entfielen dabei auf Europa, und das, obwohl der Gasverbrauch dort um 33 % gesenkt wurde.
Auch mittelfristig rechnet das Unternehmen nicht mit wettbewerbsfähigen Energiekosten in Deutschland und Europa und kündigte daher Ende Februar eine grundlegende Anpassung der Verbundstruktur in Ludwigshafen an, bei der mehrere gasintensive Produktionsanlagen in den kommenden beiden Jahren stillgelegt werden. Ein ergänzendes, massives Kostensparprogramm und Investitionen in den Klimaschutz sollen zur Zukunftsfähigkeit des BASF-Geschäfts in Deutschland und Europa beitragen (vgl. Seite 3). „Wir wollen Ludwigshafen zu dem europaweit führenden emissionsarmen Chemiestandort entwickeln“, so Brudermüller. Hierfür will das Unternehmen eine stärkere Versorgung des Standorts mit erneuerbaren Energien sicherstellen.
Diesen Plan verfolgen auch andere Unternehmen der Branche: Nach einer aktuellen Mitgliederbefragung des VCI planen viele Firmen Investitionen in die Eigenerzeugung (z. B. Solaranlagen oder Windparks) und energieeffiziente Produktionsverfahren. Ziel einer zukunftsfähigen Industriepolitik sollte es sein, diese nachhaltige Transformation weiter zu beschleunigen.
Andrea Gruß, CHEManager