Strategie & Management

Der Markt für Erdgas entwickelt sich

Strategien für die Erdgasbeschaffung von Unternehmen der chemischen Industrie

11.12.2019 -

Etwa 40 % des Erdgasverbrauchs in Deutschland entfällt auf die Industrie. Geringe CO2-Emissionen, gute verbrennungstechnische Eigenschaften (z. B. die geringen NOx- oder Staubemissionen) und vielfältige Einsatzmöglichkeiten (z. B. als Reduktionsmittel von Eisenerz) machen Erdgas zu einem idealen Energieträger, insbesondere in der energieintensiven Industrie. Die gute Anbindung an die Produzentenländer sowie liquide Märkte bieten beste Voraussetzungen, dass Erdgas auch weiterhin ein wettbewerbsfähiger Energieträger bleibt.

Erdgas kommt auf vielen Wegen nach Deutschland (vgl. große Abbildung: Gashandelsströme 2018) Das führt dazu, dass Deutschland sehr komfortabel mit Erdgas versorgt ist und eine Drehscheibenfunktion im europaweiten Erdgashandel hat.   „Um den richtigen Zeitpunkt zum Kauf zu finden, ist eine tiefergehende
Beschäftigung mit den Energiemärkten unumgänglich.“
  Versorgungssicherheit für die Industrie   Deutschland ist per Pipeline sehr eng an die Produzentenländer Russland, Norwegen und Niederlande angebunden und verfügt über eine exzellente Gasinfrastruktur mit einem annähernd flächendeckenden Pipelinenetz und modernen Erdgasspeichern. Weitere Punkte, die die exzellenten Rahmenbedingungen für die Versorgungssicherheit für die Industrie in Deutschland charakterisieren, sind ein vorbildliches Technisches Regelwerk und transparente Marktbedingungen, die einen freien und fairen Wettbewerb ermöglichen, sowie die zunehmende Bedeutung von LNG aus Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Asien.   Erdgas wird an verschiedenen Handelspunkten gehandelt, wobei die Marktpreise von mehreren Faktoren (mittlerweile auch globale Faktoren wie z.B. der Konjunktur in Asien) abhängen. Das lässt sich sehr gut anhand der Spot-Preise am TTF (Abk. für engl. „Title Transfer Facility“, dem virtuellen Handelspunkt, über den der Erdgashandel für die Niederlande abgewickelt wird) zeigen.    Am Ausgang des Winters 2018/2019 drückten hohe Importmengen aus Russland und Norwegen, außergewöhnlich hohe Speicherstände sowie die überdurchschnittlich milde Temperatur die Handelspreise. Eine geringe Nachfrage in Asien führte zu einem Anstieg der LNG-Lieferungen nach Europa. Dies erhöhte die Liquidität an den Handelspunkten zusätzlich und übte einen verstärkten Druck auf den Markt und die Handelsnotierungen aus.Diese Situation blieb im Jahresverlauf erhalten. Erst ab Anfang November 2019 gab es nennenswerte Preisbewegungen nach oben. Die Preiserwartung (PFC) im weiteren Kurvenverlauf wird durch die Erwartung eines etwas engeren Markt­umfeldes unterstützt.   Einer der Gründe für diese Preis­unterstützung ist die kontinuierliche Verringerung der Produktion von L-Gas (Abk. für engl. „Low-Gas“, Bezeichnung für Erdgas mit geringem Methan- bzw. Energiegehalt) in den Niederlanden und Deutschland aufgrund erschöpfter Lagerstätten. Dadurch notwendig wird die in Deutschland bereits begonnene Umstellung einzelner Netzbereichen von L-Gas auf H-Gas (Abk. für engl. „High-Gas“, Erdgas mit höherem Methan- bzw. Energiegehalt). Allerdings wird allgemein davon ausgegangen, dass durch die langfristig steigenden LNG-Importe die Produktionsverringerung kompensiert wird.

Der Gasmarkt im Kontext anderer Energien   Der Gasmarkt in Europa ist nicht singulär zu betrachten, sondern eng mit den Entwicklungen anderer Commodities wie z.B. Öl, Kohle, CO2-Zertifikate oder auch Strom verbunden. Bspw. unterstützen die massiven Preissteigerungen von CO2-Zertifikaten der letzten Zeit auch die Gaspreise. Denn steigende Kosten für Emissionsrechte verteuern Strom aus Kohlekraftwerken, der Einsatz von Erdgas für die Verstromung wird attraktiver und der Bedarf an Erdgas steigt.    Die aktuellen Analysen des sogenannten Coal-Switch-Price zeigen, dass momentan der Einsatz von Gas in der Stromerzeugung gegenüber der Kohle vorteilhafter ist. Mittelfristig kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund des Ausstieges aus der Kohleverstromung die Bedeutung von Erdgas im Strommix zunehmen und die Gaspreise stützen wird. Die Vielzahl von Einflussfaktoren und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Commodities sind auch ein Grund für die hohe Preisvolatilität des Erdgasmarktes.   „Die hohe Volatilität bedeutet, dass die Einschätzung des richtigen Beschaffungszeitpunkts für Industriekunden essenziell wird.“   Auswirkungen auf die Erdgasbeschaffung von Industrieunternehmen    Für Industriekunden ist es eine komfortable Situation, dass es in Deutschland seit einigen Jahren einen Käufermarkt gibt. Kunden können auf eine Vielzahl von Lieferanten zurückgreifen. Allerdings bedeutet die vorstehend erläuterte hohe Preisvolatilität, dass Entscheidungen z. B. über den richtigen Beschaffungszeitpunkt ohne vorhergehende tiefgründige Analyse zunehmend schwerer werden.   Der hohe Wettbewerb der Anbieter ermöglicht Industriekunden, die für sie passende Lösung in Verbindung mit einem verlässlichen Lieferanten zu finden. Da Anbieter oftmals unterschiedliche Lieferkonstrukte mit unterschiedlichen Preisgestaltungen anbieten, muss vor der eigentlichen Ausschreibung klar sein, welches Belieferungsmodell genutzt werden soll. Der Lieferant ist die Schnittstelle zwischen den Anforderungen des Industriekunden und den Möglichkeiten des Markts.    Ein Belieferungsmodell hängt im Wesentlichen von der Bedarfssituation (Menge, Struktur, maximale Leistung usw.) sowie dem gewünschten Grad der eigenen Handlungsspielräume und damit dem internen Aufwand ab. Ein Lieferkonstrukt mit geringen Handlungsspielräumen ist bspw. ein Vollversorgungsvertrag mit Festpreis. In einem solchen Fall ist nur zu Vertragsschluss eine Entscheidung zu treffen. Hat man hingegen einen Tranchenvertrag geschlossen, ist vor Fixierung jeder Tranche eine Entscheidung zu treffen.    Je komplexer ein Modell ist, desto höher ist also der interne Aufwand des Industrieunternehmens und desto öfter müssen Entscheidungen getroffen werden. Dafür sind Voraussetzungen wie eine Beschaffungsstrategie sowie Risikovorgaben zu schaffen und auch die entsprechenden Ressourcen für die kontinuierliche Marktbeobachtung vorzuhalten oder sich von Dritten zu beschaffen. Die Energiemärkte mit ihrer hohen Preisvolatilität bieten eine ganze Reihe von Chancen, die man jedoch nur mit entsprechendem Know-how heben kann. Günstige Marktsituationen ergeben sich oftmals nur über kurze Zeiträume, was einen hohen Handlungsdruck verursacht.

Prinzipiell gibt es zwei gegensätzliche Beschaffungsmodelle   Mit dem Abschluss z. B. einer Vollversorgung mit Festpreis werden alle Risiken an den Lieferanten delegiert. Industriekunden haben somit nur einen geringen Aufwand, allerdings können sich ergebende Marktchancen nicht genutzt werden.Die Bewirtschaftung des eigenen Portfolios durch Marktzugang und Sicherstellung von Portfolio- und Bilanzkreismanagement bietet die höchsten Chancen, von günstigen Marktsituationen zu profitieren. Die Voraussetzungen dafür sind jedoch hoch und bedeuten einen zusätzlichen internen Aufwand.   Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Beschaffungsmodellen sind auch Mischformen möglich, die den individuellen Anforderungen eines Kunden hinsichtlich Risikobereitschaft und Aufwand entsprechen. Insbesondere bei vergleichsweise geringem Erdgasbedarf (wenige Hundert Mio. kWh) steht der Aufwand möglicherweise in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Nutzen.

Liquider Markt, in dem Timing (fast) alles ist   Die aktuelle Marktsituation zeigt: Erdgas hat sich zu einem weltweiten Handelsgut mit globaler Preisbeeinflussung entwickelt. Hieraus bieten sich zusätzliche Chancen, die sich allerdings nur mit einem erhöhten Aufwand realisieren lassen. Generelle Voraussetzung für eine sichere Ausschreibung von Erdgasmengen ist, dass man sich über seine eigenen Anforderungen im Klaren ist und sich mit dem Markt und den Preisentwicklungen intensiv aus­einandersetzt. Die hohe Volatilität an den Handelspunkten bedeutet aber auch, dass die Einschätzung des richtigen Beschaffungszeitpunkts für die Industriekunden essenziell wird.    Die Preisvolatilität nimmt zu, das Timing im Erdgaseinkauf wird immer wichtiger. Und um den richtigen Zeitpunkt zum Kauf zu finden, ist eine tiefergehende Beschäftigung mit den Energiemärkten unumgänglich.

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