Chemiekonjunktur: Unsichere Zeiten für die europäische Chemie
21.08.2012 -
Weite Teile Europas befinden sich in der Rezession. Nach dem Auslaufen der Konjunkturprogramme und der einsetzenden Haushaltskonsolidierung musste mit einer Dämpfung der wirtschaftlichen Dynamik gerechnet werden. Dass es aber so schlimm kommen würde, hatten die Experten zunächst nicht erwartet. Seit Mitte letzten Jahres senkten jedoch die Wirtschaftsforschungsinstitute nahezu monatlich ihre Wachstumsprognose für die Europäische Wirtschaft im Jahr 2012. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass das Bruttoinlandsprodukt der Europäischen Union in diesem Jahr stagniert. Rechnet man Deutschland heraus schrumpft die europäische Wirtschaft sogar um 0,5 %. Allgemein wird die Eurokrise für diese Entwicklung verantwortlich gemacht. Das ist aber zu kurz gesprungen, denn die Ursachen liegen in einem maroden Bankensektor, einer ineffizienten Verwaltung, geplatzten Immobilienblasen, in notorisch hohen Staatsschulden und vor allem an fehlender Wettbewerbsfähigkeit.
In Verbindung mit der Eurokrise hat sich aus dieser Gemengelage eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt. Die Industrie wurde von der Rezession erfasst. Die europäische Industrieproduktion legte eine Vollbremsung hin. Nach einem Wachstum von 4,7 % im Jahr 2011 schrumpft die Produktion in diesem Jahr um 1 %. Das bekamen die Chemieunternehmen frühzeitig zu spüren. Bereits im vergangenen Jahr waren die Aufträge seit dem zweiten Quartal rückläufig. Auch für das Gesamtjahr 2012 muss mit einem Rückgang der europäischen Chemieproduktion gerechnet werden. Der EU-Rettungsschirm und der Fiskalpakt werden jedoch allmählich Wirkung zeigen, so dass sich die Lage in der zweiten Jahreshälfte stabilisiert. Im kommenden Jahr könnte dann wieder ein bescheidenes Wachstum verbucht werden (Grafik 1).
Chemieproduktion beendet Talfahrt
Die rasante Erholung nach den herben Rückschlägen zur Jahreswende 2008/2009 hielt nur bis zum ersten Quartal 2010 an. Dann erfasste die Schuldenkrise und die damit verbundene Verunsicherung der Märkte das europäische Chemiegeschäft. Die Produktion sank von Quartal zu Quartal (Grafik 2). Die Produktionskapazitäten waren zuletzt zu 79,1 % ausgelastet. Das liegt am unteren Rand des Normalbereiches. Erst im zweiten Quartal 2012 konnte die Talfahrt gestoppt werden. Die Produktion wurde wieder leicht ausgeweitet. Die europäische Chemie produziert derzeit auf Vorkrisenniveau.
Trotz der Stabilisierung mussten nahezu alle Chemiesparten im bisherigen Jahresverlauf die Produktion drosseln (Grafik 3). Deutliche Rückschläge gab es bei pharmazeutischen Erzeugnisse, Polymeren und Spezialchemikalien. Die Basischemie blieb vergleichsweise stabil. Die Produktion anorganischer Grundstoffe und Petrochemikalien verfehlte ihr Vorjahresniveau nur knapp. Allein die Produktion von Wasch- und Körperpflegemitteln sowie Kosmetika konnte im ersten Halbjahr zulegen.
Preisauftrieb hält an
Mit der Überwindung der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 stiegen weltweit die Rohstoffpreise. Das galt insbesondere für Naphtha, dem wichtigsten Rohstoff der europäischen Chemieindustrie. Viele Unternehmen konnten die Kosten zunächst an die Kunden weitergeben. Bis Sommer 2011 stiegen die Chemikalienpreise daher dynamisch. In der zweiten Jahreshälfte flachte der Preisauftrieb bei Chemikalien jedoch ab. Die Schuldenkrise erreichte das Chemiegeschäft und die Aufträge gingen zurück. Um ihre Erträge zu stabilisieren, versuchten die Chemieunternehmen das Preisniveau zu halten. Dafür nahmen sie sogar leichte Rückgänge im Mengengeschäft in Kauf. Zu Jahresbeginn 2012 besserte sich die Stimmung in der Wirtschaft. Die Kunden orderten wieder mehr Chemikalien. Weil die Ölpreise zulegten und der Euro abwertete stiegen die Rohstoffkosten. Der Preisauftrieb bei Chemikalien hat sich daher im ersten Halbjahr 2012 leicht beschleunigt (Grafik 4). Chemikalien waren im bisherigen Jahresverlauf durchschnittlich 2,5 % teurer als ein Jahr zuvor. Die größten Preiszuwächse gab es dabei in den rohstoffnahen Sparten.
Impulse aus dem Exportgeschäft
Seit dem ersten Quartal 2010 konnten die europäischen Chemieunternehmen angesichts einer guten Mengen- und Preisentwicklung ihren Umsatz kräftig ausdehnen. Seit dem ersten Quartal 2011 stagnierte jedoch das europäische Chemiegeschäft (Grafik 5). Bei den industriellen Kunden war zunehmend eine Verunsicherung spürbar. Die Industrieproduktion wurde zuletzt in vielen europäischen Ländern gedrosselt und die Lagerbestände verringert. Daher nahmen in den zurückliegenden Quartalen die Chemikalienbestellungen ab. Der Chemieumsatz sank wegen der Preissteigerungen aber nur leicht. Positive Impulse kamen hingegen aus dem Auslandsgeschäft. Die Exporte stiegen im bisherigen Jahresverlauf um 7,2 %.
Ausblick: große Unsicherheit
In einem schwierigen Umfeld hat sich die europäische Chemieindustrie gut behauptet. Dennoch konnte sie sich der Rezession in Europa und den Folgen der Staatschuldenkrise nicht entziehen. Die Halbjahresbilanz weist daher einen Produktionsrückgang von 2 % und ein Umsatzminus von 0,7 % aus. Damit liegt die europäische Chemieindustrie aber immer noch auf Vorkrisenniveau. Die aktuelle Lage wird daher überwiegend noch als positiv eingeschätzt.
Die Geschäftserwartungen sind angesichts der anhaltenden Verunsicherung und der Nachrichtenlage zur Eurokrise allerdings deutlich zurückhaltender. Zudem fürchtet man Dämpfer im Exportgeschäft. In den USA und in China verringerte sich zuletzt das Wirtschaftswachstum. In Europa gibt es jedoch erste Anzeichen für eine Stabilisierung. Im zweiten Quartal konnten Chemieproduktion und Umsatz gegenüber den vorangegangenen Monaten wieder zulegen. Für das kommende Jahr sind die Wirtschaftsforschungsinstitute verhalten optimistisch. Die europäische Wirtschaft wird 2013 voraussichtlich um mehr als 1 % wachsen. Die Chemieindustrie bekäme den Aufwind frühzeitig zu spüren. Im zweiten Halbjahr ist daher mit einer Ausweitung der europäischen Chemieproduktion zu rechnen. Dennoch wird sie im Gesamtjahr 2012 das Vorjahresniveau immer noch leicht verfehlen.