Chemiekonjunktur – kein Ende der Industriekrise in Sicht
19.03.2025 - Die wichtigsten Kundenbranchen deutschen Chemieindustrie stehen unter Druck. Eine Trendwende ist nicht abzusehen.
Die deutsche Wirtschaft gibt derzeit Anlass zur Sorge. Es droht das dritte Rezessionsjahr in Folge und das, obwohl die Weltwirtschaft zuletzt wieder Fahrt aufgenommen hat. Während in China, in den USA, aber auch in vielen Schwellenländern, die wirtschaftliche Dynamik zunimmt, sucht man hierzulande vergebens nach Wachstumsimpulsen. Besonders der industrielle Sektor leidet. 2024 schrumpfte das deutsche Bruttoinlandsprodukt um 0,2 %. Die Wertschöpfung der Industrie nahm im gleichen Zeitraum um 3 % ab. Der Exportmotor stottert – nicht nur, aber besonders im Chinageschäft.
Das Geschäftsklima in der deutschen Industrie ist im Keller. Seit Herbst 2021 wird die aktuelle Geschäftslage durch die Unternehmen im Ifo-Geschäftsklimaindex nahezu kontinuierlich von Monat zu Monat schlechter bewertet. Die Wirtschaft ist im Abschwung und den Unternehmen fehlen zunehmend Aufträge aus dem In- und Ausland. Aber dies ist nur die halbe Wahrheit. Strukturelle Probleme am Standort, wie hohe Energiepreise, Steuern und Abgaben und die Regulierungsflut, bremsen die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten in immer mehr Branchen aus. Die Industrieunternehmen sehen ihre Wettbewerbsposition zunehmend gefährdet – und dies im europäischen und nichteuropäischen Ausland. Selbst auf dem heimischen Markt nimmt der Druck von ausländischen Wettbewerbern zu. Denn auch hier sinkt die Bewertung der Wettbewerbsposition (Grafik 1).
Mit der schwachen Entwicklung der deutschen Industrie ging auch die Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen zurück. Der Auftragsmangel ist mittlerweile für fast jedes zweite Chemieunternehmen ein ernstes Problem. Rund 40 % des Umsatzes machen die Chemieunternehmen im Inland und hier hauptsächlich mit industriellen Kunden. Zu den wichtigsten Kundenbranchen zählen die Kunststoffverarbeitung, die Bauwirtschaft und der Fahrzeugbau. Keine dieser Branchen konnte 2024 Zuwächse verbuchen und bei keiner ist eine wirkliche Trendwende in Sicht.
Die Hoffnung ruht jetzt
auf einem Neustart in der Wirtschaftspolitik.
Mittlerweile mehren sich auch die Anzeichen, dass das Wachstum insgesamt schwach bleiben wird. Ein weiteres Rezessionsjahr ist nicht ausgeschlossen. Für die strukturellen Probleme konnte bisher keine Lösung gefunden werden, von der Weltwirtschaft kommen keine Impulse, der europäische Heimatmarkt entwickelt sich schwach und die Risiken von Seiten der Geopolitik nehmen eher zu als ab.
Kunststoffverarbeitung auf Talfahrt
Die Kunststoffverarbeiter sind die wichtigsten Abnehmer chemischer Erzeugnisse. Rund 30 % des Chemieabsatzes an Industriekunden gehen in die Kunststoffverarbeitung. Die Kunststoffverarbeiter haben allerdings seit längerem mit Problemen zu kämpfen. Seit Ende 2017 zeigt der Produktionsindex, mit Ausnahme der kurzen Erholungsphase nach dem Corona-Einbruch, nahezu kontinuierlich nach unten (Grafik 2). 2024 betrug der Rückgang im Vergleich zum Vorjahr 4,2 %. Kunststofferzeugnisse gehen als Halbzeuge oder technische Komponenten meist als Vorprodukte an die großen Kundenindustrien Bau, Automobilindustrie und Maschinenbau – alles Branchen, die zurzeit unter Druck sind. Dementsprechend schwach fällt der Auftragseingang für die Kunststoffverarbeiter aus. Die Unternehmen leiden an Auftragsmangel. Hinzu kommen die Herausforderungen der Umstellung auf die Kreislaufwirtschaft und auch ein enormer regulatorischer Druck. Es sollen mehr Rezyklate eingesetzt werden, aber häufig stehen diese noch nicht in ausreichender Menge und Qualität zur Verfügung. Manche Anwendungen wie bspw. die Einwegkunststoffe sollen ganz aus dem Markt verschwinden. Und nicht zuletzt sind Rohstoffe und Energie die größten Kostenfaktoren in den meisten Kunststoff verarbeitenden Unternehmen. Die teilweise drastischen Verteuerungen der Rohstoffe während der letzten Jahre haben die Verarbeiter erheblich belastet. Die Talfahrt dürfte zwar langsam zu Ende gehen. Aber eine wirkliche Trendwende zeichnet sich bei dem schwierigen Umfeld nicht ab. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) rechnet mit einem erneuten Produktionsrückgang in Höhe von rund 2 %.
Bau: Krise im Wohnungsbau
Die Impulse für die Chemienachfrage aus dem zweitwichtigsten gewerblichen Absatzmarkt, dem Bau, fallen ebenfalls verhalten aus. Insbesondere der Wohnungsbau steckt in der Krise fest. Hohe Zinsen und explodierende Baupreise hatten die Wohnungsbaunachfrage einbrechen lassen. Trotz wieder sinkender Zinsen hat sich der Wohnungsbau bisher nicht erholt. Die Baugenehmigungen lagen bis zuletzt zweistellig unter Vorjahresniveau (Grafik 3). Der Auftragseingang ist im Sinkflug und der Auftragsmangel erreicht Rekordniveaus. 57 % der Unternehmen meldeten im Januar einen Mangel an Aufträgen. Das ist der höchste jemals gemessene Wert. Nicht viel besser sieht es im Wirtschaftsbau aus. Die unsicheren wirtschaftlichen Aussichten führen zu einer ausgeprägten Investitionszurückhaltung bei den Unternehmen. Das macht sich auch in einer rückläufigen Bautätigkeit für Lagerhallen, Fabrikgebäude und Büros bemerkbar. Etwas besser ist die Situation im Tiefbau. Hier sind die Aufträge zuletzt deutlich gestiegen – sowohl im Straßenbau als auch im sonstigen Tiefbau. Während im Tiefbau damit die Auftragsbücher gut gefüllt sind, nimmt der Auftragsbestand im Wohnungsbau weiter ab. Die Umsätze geraten zunehmend unter Druck. Die Bauflaute dürfte sich auch im laufenden Jahr fortsetzen. Wir erwarten 2025 einen Produktionsrückgang von rund 1,5 % und auch die Bauinvestitionen dürften in Deutschland ein weiteres Jahr einen Rückgang erleben.
Automobil: strukturelle Umbrüche
Die schlechten Nachrichten aus der Automobilindustrie reißen nicht ab. Die Produktion ging 2024 um 7,1 % zurück. Die Stimmung in der Branche erreicht zum Jahresanfang ein neues Tief. Der Index für das Geschäftsklima der Branche sank im Januar auf minus 40,7 Punkte. Die Nachfrage aus dem In- und Ausland war zuletzt rückläufig. Vor allem steht die Branche aber vor strukturellen Umbrüchen. Die Wende vom Verbrenner zur Elektromobilität führt zu massiven Veränderungen – nicht nur bei den Automobilherstellern, sondern vor allem auch bei den Zulieferern. Die Nachfrage nach Elektroautos bleibt dabei weit hinter den Erwartungen zurück – fehlende Ladeinfrastruktur, hohe Preise, Verunsicherung der Verbraucher führen zu Kaufzurückhaltung. Zudem fällt der Qualitätsvorsprung der deutschen Hersteller beim Elektroauto niedriger aus als beim Verbrenner. Die Wettbewerbsfähigkeit der Branche gerät zunehmend unter Druck. Die Position auf den Auslandsmärkten bewerteten die Unternehmen im Januar so niedrig wie noch nie – sowohl außerhalb als auch innerhalb der EU (Grafik 4). Und auch auf dem deutschen Markt haben die Unternehmen deutlich an Boden verloren. Die starke Konkurrenz aus China bei gleichzeitig hohen Belastungen im Inland setzen der Branche zu. Eine schnelle Änderung der Lage und eine deutliche Erholung ist nicht in Sicht. Wir erwarten für 2025 zwar eine Stabilisierung der Entwicklung, die Produktion wird aber erneut unter Vorjahr liegen. Für die Chemie bedeutet dies, dass wichtige Wachstumsimpulse fehlen. Denn die Automobilindustrie zählt zu den wichtigsten Kunden der Branche. Rund 8 % des Absatzes gehen direkt an Kunden der Automobilbranche. Tatsächlich ist die Bedeutung aber deutlich höher, denn viele Chemieprodukte, die bspw. an die Kunststoffverarbeiter gehen, finden sich letztendlich in Fahrzeugen wieder.
Ausblick: Hoffnungen liegen auf einem Neustart
Die Erwartungen der deutschen Industrie haben sich in den letzten Monaten kaum gebessert. Die Mehrheit der Unternehmen geht weiterhin eher von einer Verschlechterung der Lage aus. Die deutsche Wirtschaft stagniert, sowohl der private Konsum als auch die Investitionen fallen schwach aus. Damit bleibt das Inlandsgeschäft schwierig. Auf den Auslandsmärkten bremst die verlorene Wettbewerbsfähigkeit die Chancen, vom Wachstum zu profitieren. Eine schnelle Änderung dieser Situation ist nicht in Sicht. Die Lösung der strukturellen Probleme erfordert nicht nur den politischen Willen, sondern auch einen langen Atem. Auf der anderen Seite fallen die Impulse vonseiten der Auslandsmärkte auch eher verhalten aus. Europa wächst insgesamt nur langsam. Die chinesische Wirtschaft hat ebenfalls mit strukturellen Problemen zu kämpfen. Der zunehmende Protektionismus und die sich unter der Trump-Regierung abzeichnenden Handelskonflikte machen dem für die deutsche Industrie wichtigen Exportgeschäft zu schaffen. Die Hoffnung ruht jetzt auf einem Neustart in der Wirtschaftspolitik. Der VCI rechnet für dieses Jahr noch mit einem schwachen Wachstum der Gesamtwirtschaft. Die Produktion in der Industrie wird erneut unter Vorjahr liegen. Damit wird auch die inländische Chemienachfrage nur moderat ausfallen (Grafik 5).
Henrik Meincke, Chefvolkswirt,
Verband der Chemischen
Industrie e.V., Frankfurt am Main
ZUR PERSON
Henrik Meincke ist Chefvolkswirt beim Verband der Chemischen Industrie. Er ist seit dem Jahr 2000 für den Branchenverband tätig. Meincke begann seine berufliche Laufbahn am Freiburger Materialforschungszentrum. Der promovierte Chemiker und Diplom-Volkswirt studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.
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