Brenntag: Gestalter einer nachhaltigen Zukunft
Der Essener Chemiedistributor übernimmt Verantwortung in der Wertschöpfungskette
Nachhaltigkeit steht nicht nur bei den großen Chemieproduzenten ganz oben auf der Agenda. Als weltweit führendes Distributionsunternehmen für Chemikalien und Inhaltsstoffe übernimmt auch Brenntag Verantwortung in allen ESG-Bereichen und treibt zahlreiche, notwendige Veränderungen aktiv voran. Seit Jahren sind Themen wie Sicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz, Ressourceneffizienz und Compliance in den Unternehmenswerten verwurzelt. Bereits 2020 hat der DAX-Konzern eine Strategie zu den drei ESG-Bereichen Umwelt (Environment), Soziales (Social) und Unternehmensführung (Governance) entwickelt sowie im Frühjahr 2022 eine langfristige Nachhaltigkeitsvision vorgestellt.
Michael Reubold sprach mit Brenntag-CEO Christian Kohlpaintner und Vice President Sustainability Andreas Kicherer über ihre Strategie und ihre Ziele.
CHEManager: Herr Kohlpaintner, in der Unternehmensstrategie von Brenntag spielen Nachhaltigkeitsprinzipien schon länger eine Rolle. Wie haben sich Ihre Ziele im Lauf der Jahre entwickelt und bei welchen Nachhaltigkeitsaspekten setzen Sie Schwerpunkte?
Christian Kohlpaintner: Wir haben das Thema Nachhaltigkeit schon lange in unserer Unternehmensstrategie verankert und berichten auch schon seit vielen Jahren regelmäßig darüber. Und wir haben die einzelnen Aspekte auch sehr konsequent und bewusst weiterentwickelt. Vor allen Dingen seitdem Andreas Kicherer im Unternehmen ist, haben wir ein überzeugendes Rahmenwerk geschaffen und unsere kurz-, mittel- und langfristigen ESG-Ziele klar herausgearbeitet. Ich glaube, heute ist es notwendig, das Thema Nachhaltigkeit umfassender zu betrachten. Ich bevorzuge es deshalb, über ESG zu sprechen, weil es um die Bereiche Umwelt, Soziales und Unternehmensführung geht, von denen sich der Begriff ESG ableitet. Es sind viele Ziele, die wir hier erreichen wollen; Ziele in verschiedenen Dimensionen. Aber es ist auch klar, dass der Klimawandel derzeit die größte Herausforderung ist, vor der wir und die gesamte Industrie stehen.
Im November haben Sie die zweite Phase der Unternehmenstransformation eingeläutet. Welche Rolle spielen Ihre ESG-Ziele in diesem Transformationsprozess?
C. Kohlpaintner: Die „Strategy to Win“ stellt die zweite Phase unserer Transformation dar. Die erste Phase, „Project Brenntag“, konzentrierte sich auf die Umsetzung der neuen operativen Geschäftsstruktur mit zwei globalen Geschäftsbereichen und klarer Kundensegmentierung, die Optimierung des Standortnetzwerks und die strukturelle Verbesserung der Produktivität bis 2023. Die nun begonnene zweite Phase beinhaltet dezidierte Wachstumsstrategien für die beiden Geschäftsbereiche Brenntag Specialties und Brenntag Essentials, Details und Ziele für die Transformation des Unternehmens in den Bereichen Digitalisierung, Daten und Exzellenz sowie natürlich unsere ESG-Strategie. Letztere zielt darauf ab, Brenntag eine entscheidende Rolle im Bereich der verantwortungsvollen globalen Distribution von nachhaltigen Chemikalien und Inhaltsstoffen zu zuordnen.
Für die Chemieindustrie sind – schon aufgrund der Historie – insbesondere Nachhaltigkeitsaspekte wie Sicherheit, Umwelt- und Klimaschutz sehr relevant. Sie haben beide auch für andere große Chemieunternehmen gearbeitet. Inwieweit hat das die Agenda von Brenntag beeinflusst und geprägt?
C. Kohlpaintner: Die Chemieindustrie hat sich schon sehr frühzeitig mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt, auch wenn das häufig übersehen wird. Das begann schon vor Jahrzehnten, beispielsweise mit der Responsible-Care-Initiative. Gerade auf der Chemieproduzentenseite haben wir schon frühzeitig mit ESG-Themen zu tun gehabt, Ziele gesetzt und diese auch verfolgt. In den Unternehmen, in denen ich mitwirken durfte, haben wir zum Teil sehr ambitionierte Nachhaltigkeitsstrategien implementiert und vorangebracht.
Als ich vor drei Jahren das Amt übernahm, bin ich hier schon auf eine sehr nachhaltigkeitsorientierte Sichtweise auf das Distributionsgeschäft gestoßen. Diese bedurfte einer Schärfung, um die Nachhaltigkeitsstrategien auf der Lieferanten- und auf der Kundenseite noch zu verstärken. Und ich glaube, das ist das zentrale Element, das wir jetzt mit an den Tisch bringen. Wir kennen die Sichtweise und die Themen der Produzenten sehr gut, und damit die unserer Kundenindustrien natürlich auch. Dies jetzt symbiotisch zu verstärken, ist etwas, was uns hilft, unsere ESG-Agenda mit einem sehr holistischen Blick auf die Wertschöpfungskette der chemischen Industrie voranzutreiben.
Andreas Kicherer: Ich bin ebenfalls schon fast 30 Jahre in der Chemieindustrie und vor allen Dingen im Bereich Nachhaltigkeit tätig. In den 1990er Jahren hat die Branche angefangen, sich stark mit Nachhaltigkeit zu beschäftigen. Damals war die Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks der Haupttreiber, dass man also noch sicherer arbeitet und weniger Schadstoffe emittiert. Diese Thematik der Verringerung negativer Einflüsse war in den 1990 er Jahren sehr wichtig. Da hat die Chemieindustrie, auch aufgrund des Drucks vonseiten der Öffentlichkeit, schon früh begonnen, sich zu positionieren und besser zu werden. Das ist immer noch ein Antrieb, gar keine Frage. Was sich in den vergangenen fünf bis zehn Jahren aber geändert hat, ist, dass jetzt auch ein großer Fokus darauf gelegt wird, welche positiven Beiträge die Produkte der Chemieindustrie für die Kunden und die Gesellschaft leisten.
Als Bindeglied zwischen Chemikalienproduzenten und -verarbeitern spielen Chemiedstributoren eine zentrale Rolle nicht nur in der Lieferkette, sondern zunehmend auch in der Wertschöpfungskette. Entsteht dadurch eine besondere Verantwortung?
C. Kohlpaintner: Ja. Und um dieser Verantwortung auch in Zukunft gerecht zu werden, haben wir unsere ESG-Strategie entwickelt, die unser Engagement für Nachhaltigkeit unterstreicht. Brenntag hat sich über die reine Distribution von Chemikalien und Inhaltsstoffen hinaus hin zu einem Unternehmen entwickelt, das Innovationsunterstützung, Mehrwertdienstleistungen, Anwendungs-Know-how und nachhaltige Produkte und Lösungen auf globaler Ebene zur Verfügung stellt. Diese Entwicklung spiegelt auch unser neuer Markenauftritt wider. Die neue Brenntag-Marke unterstreicht unsere Identität als Weltmarktführer mit dem klaren Anspruch, die Zukunft unserer Branche zu gestalten – auch und insbesondere in Sachen Nachhaltigkeit.
„Wir wollen die Zukunft unserer Branche auch und insbesondere in Sachen Nachhaltigkeit gestalten.“
- Christian Kohlpaintner, Vorstandsvorsitzender von Brenntag
A. Kicherer: Alle Industrien haben Nachhaltigkeitsziele, zu denen Chemieprodukte einen Beitrag leisten können. Durch die zentrale Position der Chemiedistribution in der Wertschöpfungskette zwischen Chemikalienherstellern und -verarbeitern und -anwendern wissen wir von deren unterschiedlichen und vielfältigen Nachhaltigkeitsbedürfnissen und können ihnen helfen, sie zu erfüllen. Wir haben weltweit rund 190.000 Kunden in allen Industrien, darunter sind viele kleinere Kunden. Durch die intensive Kundenbeziehung auf der einen und die enge Zusammenarbeit mit den Chemikalienherstellern auf der anderen Seite können wir die verschiedenen Nachhaltigkeitsbedürfnisse durch maßgeschneiderte Produkte und Services bedienen, damit wiederum unsere Kunden noch nachhaltiger agieren können.
Und hier kommt der Chemie eine besondere Rolle zu. Wir haben eben nicht nur den immer kleiner werdenden ökologischen Fußabdruck von negativen Faktoren wie Energie- und Ressourcenverbrauch, sondern auch den ökologischen Handabdruck der Chemieprodukte, also deren zunehmend positiven Beiträge, beispielsweise zur Emissionsminderung in der Anwendungsphase. Ein anschauliches Beispiel ist Isolationsmaterial zur Gebäudedämmung. Das Styropor, das zur Hausdämmung verwendet wird, spart in der Nutzungsphase bis zu hundertmal mehr CO2 ein, als bei der Herstellung emittiert wird. Das reduziert zweifelsohne Treibhausgasemissionen. Die große Frage ist: Wer darf sich diese positiven Beiträge zum Klimaschutz gutschreiben?
Die Herstellung und die Anwendung von Chemikalien ist komplex, was vor allem Klima- und Umweltschutzeffekte schwer messbar macht. Wie bringen Sie Transparenz in die Materie?
„Alle Industrien haben Nachhaltigkeitsziele, zu denen Chemieprodukte einen Beitrag leisten können.“
- Andreas Kicherer, Vice President Sustainability bei Brenntag
A. Kicherer: Die Chemieindustrie hat früh angefangen, durchschnittliche Product Carbon Footprints – kurz: PCFs – zu ermitteln. Ich selbst war schon Mitte der 1990er daran beteiligt, bei PlasticsEurope den durchschnittlichen Carbon Footprint von Kunststoffen zu berechnen. In dieser Zeit waren andere Industrien noch lange nicht so weit, Ökoprofile zu erstellen. Was wir aber jetzt sehen, ist in der Tat, dass für viele Kunden die durchschnittlichen Werte nicht mehr ausreichend sind. Sie wollen eine Differenzierung, um dann auch entscheiden zu können, von welchem Hersteller sie das Produkt beziehen und mit welchen Rohstoffen es hergestellt werden soll. Um diese deutlich spezifischeren Fragen beantworten zu können, arbeiten wir zum einen mit der Together for Sustainability-Initiative zusammen, die federführend für die Chemieindustrie eine Methode entwickelt und unlängst vorgestellt hat, wie man die PCFs vergleichbarer machen kann. Auf der anderen Seite arbeiten wir mit den Experten von Carbon Minds zusammen, die Berechnungen von länder- und technologiespezifischen PCFs anstellen, also zum Beispiel den spezifischen Energiemix eines Landes oder Produktionsstandorts zur Herstellung von Chemikalien berücksichtigen.
Unser Konzept, umfassende Product Carbon Footprints für unser Produktportfolio zu erstellen, gibt wertvolle Antworten darauf, wie viel Treibhausgasemissionen mit einem Produkt über seinen gesamten Herstellungs- und Distributionsprozess verbunden sind. Wir arbeiten kontinuierlich daran, dieses System weiterzuentwickeln, indem wir die Datenqualität weiter verbessern und die Anzahl der verfügbaren Datensätze erhöhen.
Aber wie Sie richtig sagen, die Herstellung und die Anwendung von Chemikalien ist komplex, und die Komplexität wird noch erhöht durch viele Zwischenschritte wie Lagerung, Transport, Mischung, Formulierung und Verarbeitung oder auch durch Verpackungsmaterialien. Das berücksichtigen wir ebenfalls, damit unser Kunde tatsächlich einen umfassenden Carbon Footprint eines Produkts bekommen kann.
Und wie nehmen die Kunden das an?
A. Kicherer: Einige Kunden fangen bereits an, ihre Scope 3-Emissionen zu erfragen und sie zu messen, um sie im nächsten Schritt zu reduzieren. Sie interessieren sich für andere Möglichkeiten des Transports oder andere Rohstoffe für die Herstellung der Chemikalien und Inhaltsstoffe. Das ist die nächste Stufe der Diskussion, und dies sind wirklich interessante und gute Gespräche, die zunächst nicht über die Menge oder den Preis geführt werden, sondern über eine Reduzierung des Footprints.
C. Kohlpaintner: Wir stellen fest, dass diese Transparenz für mehr als zwei Drittel unserer Kunden eine hohe Relevanz hat. Und deshalb haben wir dieses Thema, Transparenz zum Product-Carbon-Footprint zu geben, mit in unsere Serviceangebote aufgenommen, weil wir inzwischen einen breiteren Zugang zu diesen Daten haben als in der Vergangenheit.
Wie sind Sie denn vom Portfolio her darauf eingestellt?
A. Kicherer: Zu einigen Produkten mit unterschiedlichen Carbon Footprints machen wir konkrete Angebote an unsere Kunden. Zum Beispiel bieten wir eine Standardchemikalie wie Isopropanol in drei verschiedenen Nachhaltigkeitsausprägungen an. Es gibt sie als fossiles Produkt mit dem gängigen Product Carbon Footprint. Dann kann sie von uns schon biobalanciert mit reduziertem PCF bezogen werden. Dabei tauscht der Hersteller im ersten Schritt der Produktion die fossilbasierten Rohstoffe teilweise gegen biobasierte aus und allokiert diese Menge anschließend auf das Endprodukt. Der Vorteil dabei ist, dass die biobalancierten Produkte in kritischen Industrien wie zum Beispiel bei Pharma-Anwendungen direkt eingesetzt werden, ohne dass eine neue Zertifizierung notwendig ist. Und es gibt Isopropanol mittlerweile auch schon in einer komplett biobasierten Variante.
Dieses Segment bauen wir sukzessive aus und geben den Kunden so die Möglichkeit, bezüglich ihrer Nachhaltigkeitsbedürfnisse die richtige Wahl zu treffen. Das ist genau die Stärke der Chemiedistribution und dort sehen wir eine große Chance für uns als Distributor. Wir arbeiten mit vielen Zulieferern zusammen und können den Kunden mit unserer Angebotsbreite an Produkten mit unterschiedlichen Nachhaltigkeitsausprägungen eine Wahl bieten.
C. Kohlpaintner: Ein weiteres Nachhaltigkeitsthema ist Recycling und Wiederverwendung, das für fast 80 % unserer Kunden ein wirklich relevantes Thema ist. Mit dieser erheblichen Relevanz für unsere Geschäftspartner ist auch unsere Rolle definiert. Es entspricht meinem Verständnis von nachhaltiger Unternehmensführung, dass wir uns dort auch entsprechend positionieren und die Standards mit setzen.
Banken und Fonds richten ihre Finanzierungen heute auch an Nachhaltigkeitskriterien aus. Brenntag ist seit 2021 Mitglied im DAX. Hat die Aufnahme in den deutschen Aktienindex das Thema Nachhaltigkeit zusätzlich beschleunigt?
C. Kohlpaintner: Ja, das Thema Nachhaltigkeit wird auch für Finanzinstitute immer wichtiger. Aber viele Aspekte werden bei den gängigen Ratings gar nicht berücksichtigt, zum Beispiel die positiven Effekte nachhaltiger Produkte. Da wird immer noch mehr auf den negativen Footprint als auf den bereits erwähnten positiven Handprint fokussiert. Wir sehen zudem, dass immer mehr Finanzinstitute Kredite nach ESG-Kriterien vergeben. Das sind Themen, mit denen wir uns intensiv beschäftigen. So wurde unsere Nachhaltigkeitsleistung kürzlich im renommierten EcoVadis-Assessment mit dem Platin-Status ausgezeichnet – womit wir zu den bestbewerteten Unternehmen gehören. Aber ein Top-Ranking ist für uns nicht das primäre Ziel. Wir verstehen es als Auftrag und Selbstverpflichtung, dass wir als Weltmarktführer die Nachhaltigkeitsagenda aktiv beeinflussen und ein starkes Rahmenwerk schaffen, das wir mit Inhalten füllen und die gesetzten Ziele erreichen.
Sie haben Ihr Portfolio in zwei Bereiche gegliedert: Essentials und Specialties. Muss es – wenn man sich den Strukturwandel in der Chemieindustrie als Vorbild nimmt und die Finanzmarktbewertungen verschiedener Geschäftsmodelle ansieht – früher oder später nicht zu einer Abspaltung des Essentials-Geschäfts kommen?
C. Kohlpaintner: Faktisch ist es so, dass sich die Welt der Chemieproduzenten und die Welt der Kunden bereits im Verlauf der vergangenen 20 Jahre in diese beiden groben Segmente, Industriechemikalien oder Spezialitäten, einsortiert haben. Und das gilt auch für heterogene Großkonzerne, bei denen es die Unterscheidung auf Business-Unit-Ebene gibt – dort, wo häufig die Entscheidung getroffen wird, mit welchem Distributeur man zusammenarbeitet – und wo diese Business Units klar wissen, ob sie eher zu den Industriechemikalien oder eher zu den Spezialitäten gehören. Diese Einordnung, die wir um uns herum beobachten, muss sich zwangsläufig auch in unserer Organisationsstruktur widerspiegeln. Das haben wir bereits vor zwei Jahren mit der Etablierung unserer beiden Geschäftsbereiche realisiert. Und wir werden weiterhin daran arbeiten, die Profile dieser beiden Divisionen zu schärfen und weitere Fähigkeiten und Kompetenzen in diesen Divisionen anzusiedeln, die es ihnen erlauben, dieses Profil noch stärker in ihren Märkten auszuspielen.
Das ist für uns ein Prozess, den wir weiter konsequent vorantreiben, auch mit notwendigen Investitionen in Menschen, Fähigkeiten, und Anpassung von Denk- und Sichtweisen. Unsere Wachstumsstrategie ist ein wichtiger Teil dieses Weges.
A. Kicherer: Nachhaltigkeit spielt jedoch in beiden Brenntag-Geschäftsbereichen eine große Rolle, nur gibt es verschiedene Themen und Schwerpunkte. Bei Essentials steht das Produktionsverfahren mehr im Vordergrund, also ob eine Chemikalie zum Beispiel biobasiert, biobalanciert oder rezykliert hergestellt wird. Dabei geht es um große Mengen an Industrie- oder Prozesschemikalien wie etwa Lösungsmittel, die auch nach der Nutzenphase häufig noch existieren und mitunter auch recycliert werden können. Bei Specialties hingegen, wo wir sehr industriespezifische Lösungen und Inhaltsstoffe anbieten, steht mehr die Performance des Produkts in der Nutzenphase im Vordergrund. Das heißt beispielsweise, ob das Produkt in der Anwendung hilft, Energie oder Ressourcen einzusparen, weil weniger Material gebraucht wird, um dieselbe Performance zu erreichen.
Sie hatten eingangs die Innovationsunterstützung für Ihre Kunden angesprochen. Welche Rolle spielt Ihr Innovationsbeitrag für die Kunden?
C. Kohlpaintner: Ich spreche vermehrt auch öffentlich über das Thema Distribution als Innovationsraum im weitesten Sinne – ein Aspekt, der in der Chemiedistribution und der gesamten Chemiebranche oft noch nicht wahrgenommen wird. Wir arbeiten mit einem sehr heterogenen und kleinteiligen Kundensegment zusammen, das in der Regel von großen Chemieproduzenten nicht bedient werden kann. Nichtsdestotrotz haben diese Kunden anwendungstechnische Fragestellungen oder brauchen Formulierungshilfe. Hier unterstützen wir mit unseren mehr als 80 Anwendungslabors weltweit, in denen in Zusammenarbeit mit unseren Kunden und unseren Technikern innovative Lösungen entstehen. So tragen wir dazu bei, dem Innovationsdruck, unter dem diese Kunden zum Teil stehen, etwas entgegenzusetzen.
„Das gewaltige Innovationspotenzial der Chemieindustrie und Chemiedistribution wird heute noch zu wenig genutzt. Das ist eine vertane Opportunität.“
- Christian Kohlpaintner, Vorstandsvorsitzender von Brenntag
A. Kicherer: Die Chemieindustrie legt traditionell einen sehr starken Fokus auf Prozess- und Produktinnovationen. Aber bei Anwendungs- oder Geschäftsmodellinnovationen sehe ich große Möglichkeiten für Chemiedistributoren, weil sie über einen großen Werkzeugkasten für diese beiden Innovationsmodelle verfügen. Zum Beispiel, wenn es um zirkuläre Geschäftsmodelle geht, kann die Chemiedistribution einen wesentlichen Beitrag leisten. Circular Economy ist im Grunde genommen Reverse Distribution, also umgekehrter Vertrieb. In der Distribution kauft man große Mengen ein und bringt sie in die Fläche. Recycling ist genau das Gegenteil, nämlich aus der Fläche kleinere Mengen sammeln und wieder zu großen Mengen bündeln, um sie dann aufzuarbeiten. Hier liegen für mich gute Möglichkeiten für die Chemiedistribution, gemeinsam mit den Chemieherstellern der Innovationslandschaft einen deutlichen Schub zu geben.
Wenn man sich die Probleme weltweit ansieht, die auf innovative Lösungen aus der Chemie warten, wäre es höchste Zeit für diesen Schub.
C. Kohlpaintner: Das ist richtig, aber dieses gewaltige Innovationspotenzial wird heute noch zu wenig genutzt, um Innovationsprogramme auszulösen oder zumindest anzuregen. Das gleiche gilt auch für die Nachhaltigkeitsaspekte. Viele unserer Kunden haben sehr spezifische Bedürfnisse, wenn es um das Thema Nachhaltigkeit geht. Wir bedienen rund 190.000 Kunden weltweit, es gibt keine andere Firma in unserer Branche mit einem solch breiten Kundenstamm. Und das, kombiniert mit den Tausenden von Lieferanten, macht unser Know-how extrem inhaltsreich – es wird aber heute noch zu wenig genutzt. Und dafür werbe ich nicht nur als Chef dieses Unternehmens, sondern generell für die Chemiedistribution und für die Chemieindustrie. Das ist noch eine vertane Opportunität, die wir noch viel klarer herausstellen müssen. Wenn das vernünftig angegangen wird, kann etwas sehr Positives für die gesamte Chemieindustrie entstehen.
Das Interview mit Brenntag-CEO Christian Kohlpaintner und Vice President Sustainability Andreas Kicherer führte Michael Reubold, CHEManager.
Zur Person
Christian Kohlpaintner (Jahrgang 1963) ist seit dem 1. Januar 2020 Vorstandsvorsitzender von Brenntag. Der promovierte Chemiker verfügt über knapp 30 Jahre Managementerfahrung in der chemischen Industrie. Nach dem Chemiestudium an der TU München arbeitete Kohlpaintner zunächst in verschiedenen Positionen bei Hoechst, bevor er zu Celanese wechselte. Ab 2003 war Kohlpaintner für die Chemische Fabrik Budenheim tätig, zuletzt als CEO. 2009 kam er als Mitglied der Konzernleitung zu Clariant und war dort zuletzt u.a. für die Region Asien verantwortlich.
Zur Person
Andreas Kicherer ist seit September 2021 Vice President Sustainability bei Brenntag. In dieser Rolle ist er u.a. für die Entwicklung und Implementierung einer ganzheitlichen Nachhaltigkeitsstrategie sowie die Entwicklung eines innovativen Carbon-Management-Programms verantwortlich. Vor seinem Wechsel zu Brenntag war der promovierte Ingenieur 25 Jahre in unterschiedlichen Rollen bei BASF tätig, u.a. als Director Sustainability Strategy. Kicherer ist eine preisgekrönte Führungskraft im Bereich Nachhaltigkeitsmanagement.