Autonome Prozessführung in der Chemie
Möglichkeiten zur Prozessautomatisierung und -optimierung durch Anwendung von Machine Learning
Zunehmende Komplexität bedingt durch kurz- und langfristige Entwicklungen wie Klimawandel, geopolitische Spannungen, demografischer Wandel, steigende regulatorische Anforderungen und nicht zuletzt Covid-19 erfordern einen Paradigmenwechsel in der chemischen Industrie. Agilität, Resilienz und Nachhaltigkeit stehen immer mehr im Mittelpunkt der strategischen Unternehmensziele, ermöglicht durch digitale Transformation der Unternehmen mit Hilfe innovativer Technologien wie Machine Learning, Blockchain, oder auch das Internet of Things (IoT). Die mittelständische Unternehmensberatung Enowa berät Industriekunden hinsichtlich der digitalen Transformation in deren Geschäftsfeldern, unterstützt sie bei der Konzipierung und Umsetzung neuer Geschäftsprozesse und betreut SAP- und IT-Projekte mit einem ganzheitlichen Ansatz.
CHEManager: Herr Haendly, Machine Learning ist einer der wesentlichen Treiber im Hinblick auf die digitale Transformation von Unternehmen. Wo steht die Chemieindustrie heute beim Einsatz von Machine Learning?
Thomas Haendly: Der Stellenwert von Machine Learning ist in der Chemieindustrie wie in fast allen Branchen enorm gestiegen und hat sich dort etabliert, allerdings ist der Einsatz unterschiedlich gewichtet. Die Chemiebranche besteht ja aus sehr verschiedenen Fachbereichen – von der Forschung über Labor, Produktion bis hin zum Vertrieb – deren Prozesse sehr komplex sind und ineinandergreifen. Die Praxis in vielen Unternehmen zeigt im Moment, dass vieles, was auf den ersten Blick aussieht, als sei es für ML geeignet, es in Wahrheit nicht oder noch nicht ist. Die Voraussetzungen müssen stimmen, und das ist in vielen Fällen nicht gegeben.
Woran fehlt es in den Unternehmen?
T. Haendly: Um tatsächlich mit Machine-Learning-Projekten starten zu können, müssen Unternehmen nicht nur über eine sehr große Menge an Daten guter Qualität verfügen, sondern auch eine Reihe anderer, ihre Unternehmensprozesse beeinflussenden Faktoren berücksichtigen.
Was wir derzeit in der Chemieindustrie sehen: In jedem der Fachbereiche wird Machine Learning punktuell eingesetzt, beispielsweise für die automatisierte Zuordnung von Ticketsystemen, bei der Routenfindung von Transportwegen oder für die Optimierung von Produktionsplänen. Allerdings handelt es sich in den meisten Fällen oft noch um Prototypen, Vorüberlegungen oder um kleinere singuläre Anwendungen.
Doch die Entwicklung zeigt auch: Chemieunternehmen investieren im Moment sehr viel in die IT, um die Voraussetzungen für den flächendeckenden und prozessübergreifenden Einsatz von Machine Learning zu schaffen. Rechner mit gigantischen Rechenleistungen werden beschafft, damit ML die Forschung und Laborarbeit revolutionieren kann. Durch globale S/4HANA-Roll-Outs werden weltweit Prozesse harmonisiert und standardisiert, um über eine stabile Plattform für mehr ML zu verfügen.
Welche Möglichkeiten und Potenziale sehen Sie dadurch für die chemische Industrie?
T. Haendly: Die Potenziale, die schon jetzt durch den Einsatz von Robotic Process Automation und Machine Learning gehoben werden können, sind natürlich enorm. Nehmen wir das Beispiel der Digital Supply Chain: Ist diese erst einmal vollständig digitalisiert, lässt sie sich als Ganzes steuern, und das eventuell sogar unter Einbeziehung der Lieferanten und der Kunden. Denkt man diesen Gedanken konsequent weiter, ergänzt die operativen Daten, kurz O-Data, dieser „Extended Digital Supply Chain“ noch weiter um die Experience Data, kurz X-Data, eines Customer Experience Management, dann wird sich hieraus eine ganz neue Art der Customer Journey entwickeln. So kann die gesamte Supply Chain am Kundenwunsch ausgerichtet werden. Es wird also der Kundenwunsch sein, der die Supply Chain definiert und, automatisiert durch Machine Learning, steuert!
Worin sehen Sie die wesentlichen Erfolgsfaktoren?
T. Haendly: Ich denke, das sind im Wesentlichen zwei Faktoren. Der eine betrifft den Faktor Mensch, der andere die IT. Beide Faktoren sind eng miteinander verzahnt: Damit Unternehmen den Einsatz von ML-Algorithmen nutzen können, müssen sie ihre Mitarbeitenden von deren Nutzen und Notwendigkeit überzeugen. Daher bedarf es eines kulturellen Wandels, der es ermöglicht, die Voraussetzungen für ML zu schaffen. Denn machen wir uns nichts vor, ML und Künstliche Intelligenz werden in Zukunft darüber entscheiden, welche Unternehmen noch wettbewerbsfähig sind und welche eher nicht.
Hauke Schaper: Nur durch die Akzeptanz der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für diesen kulturellen Wandel wird es gelingen, den ungeheuren Schatz, der in vorhandenen Daten liegt, auch zu heben. Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eines Unternehmens müssen den Wert der Daten begreifen und mit ihnen arbeiten. Nur wenn sich alle um die Bedeutung von qualitativ hochwertigen Daten bewusst sind, kann der Wandel auch gelingen. „Data is key“ und diese Erkenntnis muss in der Arbeitswirklichkeit ihren Niederschlag finden. Bis vor kurzem wurden Daten vor allem archiviert, zum Beispiel aufgrund von gesetzlichen Vorgaben. Das hat sich grundlegend geändert: Die ungeheuren Datenmengen, die in komplexen Prozessabläufen entstehen, können auf unzählige Weise, zum Beispiel für die Produktentwicklung, die Digital Supply Chain, oder für operative Zwecke genutzt werden. Und: Die Voraussetzung für ML wird durch die Quantität und Qualität der Daten geschaffen.
Gerade für die Chemieindustrie müssen aus unserer Sicht mehrere Voraussetzungen geschaffen werden, um ML einsetzen zu können: Ein vernetzter und mit Sensoren ausgerüsteter Maschinenpark, Stichwort IoT – ohne Maschinendaten sind die Qualitäten der Produkte oft nicht vorherzusagen, da der Entstehungsweg fehlt. Des Weiteren müssen eine saubere Digitalisierung aller QC-Maßnahmen und Ergebnisse und eine einheitliche Verknüpfung der Daten zwischen Charge und Maschine beziehungsweise Charge und Testprobe gegeben sein. Und schließlich muss die Fragestellung klar und eindeutig definiert sein: Was genau wollen wir mit Machine Learning optimieren?
Welche Hürden sind dabei zu überwinden?
H. Schaper: Große Datenmengen alleine reichen nicht aus. Um die Qualität der Daten beurteilen zu können, müssen Data Scientists viel stärker einbezogen werden als es bislang gemacht wird. Sie prüfen die Daten auf ihre Eignung für den Einsatz von Machine Learning. Der Blick unserer Experten richtet sich dabei also nicht nur auf Big Data, sondern auf den Digitalisierungsgrad des gesamten Unternehmens.
Gerade in der Bild- und Spracherkennung liefert Machine Learning bereits sehr erfolgreiche Ergebnisse – Stichwort Alexa/Siri und Krebsfrüherkennung auf CRT-Bildern. In anderen Bereichen können klassische Ansätze wie statistische Analysen Unternehmensprozesse bisher noch besser unterstützen als ML. Ob ML daher für Unternehmen zum Einsatz kommt, hängt von der Qualität und Quantität der Daten, der richtigen Fragestellung sowie der konkreten Zielsetzung ab.
T. Haendly: Um ML-Algorithmen zu bauen, werden nicht nur sehr große Datenmengen, sondern gelabelte Daten benötigt. Daher sind auch unternehmensstrategische Entscheidungen oftmals sehr herausfordernd für den Einsatz von ML: Wenn sich Prozesse ändern, beispielsweise durch Zukäufe, ändern sich auch die Daten, die zur Verfügung stehen und damit wird es auch schwerer, ML-Algorithmen zu entwickeln.
Wo sehen Sie die Chemie in fünf Jahren? Welche Ziele sollten Unternehmen in der Industrie sich jetzt setzen?
T. Haendly: Meine Prognose für das Jahr 2026: Machine Learning wird bei allen größeren Chemieunternehmen in der überwiegenden Anzahl von Prozessen eine bedeutende Rolle spielen. Die ersten Unternehmen beginnen gerade damit, ML auch in übergreifenden Prozessen entlang der gesamten Supply Chain einzusetzen und diese durch ML-Algorithmen zu optimieren.