Aus dem Datenkeller zum Digitalisierungsgipfel
Kuraray treibt die Digitalisierung von Betrieb, Instandhaltung und Engineering voran
Chemieproduzenten in Deutschland kämpfen mit steigenden Kosten, hohen Energiepreisen, globalem Wettbewerb und einer sich abzeichnenden Wissenslücke aufgrund des demografischen Wandels. Kuraray, ein weltweit führender Spezialchemie-Hersteller, begegnet diesen Herausforderungen mit einer umfassenden Digitalisierungsstrategie.
Seit den 1970er-Jahren bestehen in Frankfurt die Anlagen zur Produktion von Polyvinylalkohol (PVA), die Kuraray 2001 von Clariant übernommen hat. Diese Anlagen werden regelmäßig vom Engineering- und Maintenance-Team modernisiert und an neue Anforderungen angepasst. In den historisch gewachsenen Anlagen der chemischen Industrie sind Informationen und Daten meist über verschiedene Bereiche und Tools verstreut und zum Teil auch nicht digitalisiert. Das Auffinden dieser Daten erfordert einen erheblichen Zeitaufwand für Techniker und Ingenieure. Und häufig müssen dieselben Daten in unterschiedliche Systeme eingepflegt werden.
Inkonsistente Daten schaffen Anwenderfrust
Trotz des Einsatzes moderner IT-Systeme wie dem EMR-Planungssystem Prodok, dem Asset-Managementsystem Maximo und SharePoint reichten bei Kuraray digitale Tools allein nicht aus, um den steigenden Anforderungen gerecht zu werden. Denn wenn verschiedene Abteilungen auf unterschiedliche Datenstände zugreifen, sind Verzögerungen und Fehler die Folge. Ingenieure und Betriebsmitarbeiter verbringen viel Zeit damit, benötigte Informationen aus verschiedenen Systemen zusammenzusuchen – eine ineffiziente und frustrierende Aufgabe. Deshalb sollte der Workflow optimiert werden und ein zentraler Datenpool als ‚Single Source of Truth‘ alle Datensilos miteinander verbinden. Dabei war klar, dass datenbankbasiertes Arbeiten ein Umdenken und Standardisieren von Prozessen erfordert.
Um eine nahtlose Integration mit bestehenden Systemen wie Prodok zu ermöglichen und die existierenden Herausforderungen zu bewältigen, setzen die Ingenieure bei Kuraray die CAE-Plattform Cadison von ITandFactory ein. Die multidisziplinäre Ausrichtung der Plattform und ihre Fähigkeit, Datenbank-, Grafik- und Dokumentenmanagement in einer Lösung zu vereinen, überzeugte. Insbesondere die bidirektionale Schnittstelle für den Austausch von EMR-Daten war ein gewichtiges Argument.
Datenzentrierte Workflows für langfristig höhere Effizienz
Mit der Einführung der CAE-Plattform verfolgen die Experten bei Kuraray klare Ziele. Das datengetriebene Engineering soll nicht nur die Effizienz erhöhen, sondern auch eine Automatisierung der Datenpflege und die Standardisierung von Workflows ermöglichen. Und fast schon nebenbei werden so aus manuell erstellten „dummen“ Grafiken objektorientierte intelligente Dokumente. Darüber hinaus wird angestrebt, durch optimierte Prozesse nachhaltiger zu wirtschaften und gleichzeitig die Basis für innovative Entwicklungen wie KI-gestützte Analysen und prädiktive Wartung zu schaffen. Digitalisierung bedeutet damit nicht nur technische Veränderungen, sondern auch eine neue Art der Zusammenarbeit zwischen Engineering, Instandhaltung und Produktion.
Durch die zentrale Datenbank wird es möglich sein, Informationen wie Rohrleitungs- und Instrumentierungs-Fließbildern (R&Is), Rohrleitungsdokumentationen und Wartungspläne schneller und effizienter auszutauschen und die Fließbilder jederzeit aktuell zu halten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit, die Fließbilder je nach Anforderung mit verschiedenen Tools zu erstellen: So nutzen die Verfahrenstechniker im Betrieb den einfacheren Cadison PID Designer auf Basis von Visio, um verfahrenstechnische Änderungen oder geänderte Daten in Fließbilder einzupflegen. Dazu gehören bspw. Medien, Rohrleitungsklassen, Schriftfelder oder Daten für Apparateleisten, die in Formulare eingetragen werden. Für umfangreichere Arbeiten an den Fließbildern können Instandhaltung und Engineering den P&ID-Designer auf Basis des deutlich mächtigeren Autocad einsetzen. Der Clou: Die in Visio erstellen R&Is können ohne Datenverlust in das dwg-Format konvertiert werden.
„Die bidirektionale Schnittstelle für den Austausch von EMR-Daten war ein gewichtiges Argument.“
Schnell wurde deutlich, dass die Integration eines solchen Systems nicht nur technologische Ressourcen, sondern auch Geduld und Durchhaltevermögen erfordert. Die initiale Bereinigung und Strukturierung von Datenbanken und Workflows war deutlich aufwändiger als zunächst angenommen. Zudem müssen Mitarbeitende geschult werden. Und so kostet Digitalisierung Geld und Ressourcen, die sich erst langfristig auszahlen – doch auch die alten Workflows kosten Geld, ohne den Mehrwert einer konsistenten und zentralen Datenquelle.
Ein oft übersehener, aber entscheidender Aspekt war die Notwendigkeit, den sprichwörtlichen „Keller“ aufzuräumen: Alte, redundante Datenstrukturen und veraltete Prozesse mussten bereinigt und neu geordnet werden. Doch diese „Entschlackung“ war unverzichtbar, um das volle Potenzial auszuschöpfen.
Akzeptanz der Nutzer schaffen
Ein wichtiger Aspekt ist die Integration in die bestehende IT-Systemlandschaft. Die Geschwindigkeit und Stabilität der technischen Umgebung sind von zentraler Bedeutung für die Akzeptanz des neuen Systems. Um dies zu gewährleisten, arbeiten die Fachabteilung, die interne IT-Abteilung sowie der Systemanbieter ITandFactory eng zusammen. Ein weiterer wesentlicher Faktor für den Erfolg des Projekts ist die Unterstützung durch das Management. Denn die Nutzer benötigten nicht nur Schulungen, sondern auch die notwendige Zeit und Freiräume, um sich mit dem neuen System vertraut zu machen. Ressourcen müssen zur Verfügung gestellt werden. Wenn die Mitarbeitenden das Gefühl haben, dass andere Prioritäten immer wichtiger sind, wird das Projekt scheitern.
Die Integration von Cadison zeigt trotz aller Herausforderungen klare Vorteile. Durch die zentrale Datenbasis konnten Fehlerquellen reduziert, Suchzeiten minimiert und Prozesse beschleunigt werden. Die Möglichkeit, auf stets aktuelle Fließbilder und Wartungspläne zuzugreifen, verbesserte die Zusammenarbeit zwischen Engineering, Instandhaltung und Betrieb erheblich. Besonders die automatische Aktualisierung von Daten in verschiedenen Modulen erleichterte den Arbeitsalltag und führte zu spürbaren Effizienzgewinnen.
Doch der Erfolg des Projekts hängt nicht nur von der Technologie ab. Die gewonnenen Erfahrungen haben gezeigt, dass Geduld, eine saubere Datenbasis, robuste IT-Strukturen und ein klares Change Management entscheidende Faktoren sind.
Ausblick: Der Weg zum Gipfel
Mit den gesammelten Erfahrungen blicken die Verantwortlichen bei Kuraray optimistisch in die Zukunft. Die nächsten Schritte umfassen die Optimierung der IT-Systemlandschaft, die Erweiterung des Projekts auf das Tagesgeschäft und auf weitere Standorte und damit die schrittweise Annäherung an das langfristige Ziel: den Aufbau eines digitalen Zwillings, der den gesamten Lebenszyklus der Anlagen abbildet. Damit ist das Projekt im Bereich Engineering ein wichtiger Baustein der umfassenden Digitalisierungsstrategie von Kuraray, die global von der IT getrieben wird. So führt der Weg vom digitalen Keller voller unstrukturierter Daten und fragmentierter Prozesse Schritt für Schritt hinauf zum Gipfel einer vernetzten, effizienten und datengetriebenen Arbeitswelt. Auch wenn der Gipfel noch nicht vollständig erreicht ist, stehen die Ingenieure, Betriebsleiter und IT-Experten heute auf einem soliden Plateau – bereit für die nächsten Etappen dieser digitalen Expedition.
Autor: Michael Brückner, Technischer Direktor, ITandFactory GmbH, Bad Soden