Forschung & Innovation

Auswirkungen des neuen Annex 1 auf die sterile Abfüllung

02.06.2024 - Der 25. August 2023 wird als ein wichtiges Datum in die Geschichte der Pharma­industrie eingehen: An diesem Tag trat der neue Annex 1 der EU Good Manufacturing Practices zur Herstellung steriler pharmazeutischer ­Produkte in Kraft. Das Dokument hat weitreichende Folgen für die sterile Abfüllung.
Doch was gilt es ab sofort zu beachten – und wie können Maschinenbauer wie ­Syntegon bei der Umsetzung unterstützen?

Es ist vollbracht: 15 Jahre nach Inkrafttreten der Vorgängerversion gilt seit dem 25. August 2023 der neue Annex 1 „Manufacture of Sterile Medicinal Products“ der EU GMP-Richtlinie. Allein der Umfang lässt auf zahlreiche Auswirkungen auf den sterilen Herstellungsprozess schließen. Das Dokument selbst umfasst jetzt 58 statt bisher 16 Seiten und der Umfang des Kapitels zur Barriere-Technologie hat sich sogar vervierfacht. Schon lange vor der Veröffentlichung sorgte der neue Annex 1 für kontroverse Diskussionen, die sich bis heute fortsetzen. Einerseits lässt das Dokument Spielraum für Interpretationen, andererseits befürchten viele Akteure in der pharmazeutischen Industrie eine Überregulierung.

EU-Richtlinie mit weltweiten Folgen

Der neue Annex 1 setzt insgesamt ein deutliches Zeichen in Richtung höchstmöglicher Produktqualität. Oberstes Ziel ist es, Produktkontamination zu vermeiden. Dass die Umsetzung nicht einfach ist, zeigte die Übergangsfrist von einem Jahr; für die Be- und Entladung von Gefriertrocknern beträgt diese sogar zwei Jahre. Diese, verhältnismäßig langen Fristen unterstreichen aber auch die Erwartungshaltung von behördlicher Seite: Die Änderungen sollen nicht nur geplant oder angedacht, sondern konkret umgesetzt werden – sowohl bei der Installation neuer als auch bei der Umrüstung bestehender Anlagen.

Obwohl der Annex 1 eine EU-Richtlinie ist, hat das Dokument Folgen für die globale pharmazeutische Industrie. Zum einen betreffen die Vorgaben die Herstellungsprozesse von in die EU importierten Medikamenten. Zum anderen unterstreicht die Abstimmung des Dokuments zwischen EMA, WHO und PIC/S und die Veröffentlichung gleichlautender Dokumente dieser Organisationen die globale Relevanz. Entsprechend hat die Veröffentlichung hohe Wellen in der ganzen Welt geschlagen. Inspektoren aus allen Regionen leiten die Anforderungen für ihren Markt ab – und stellen sich teilweise die gleichen Fragen bezüglich ihrer Umsetzung.

Barriere-Technologien im Fokus

Ein Grundgedanke des gesamten neuen Annex 1 ist die Trennung des aseptischen Prozessraumes von der Bedienerumgebung. Hierfür em­pfiehlt das Dokument zum ersten Mal eindeutig, entsprechende Barriere-Technologien einzusetzen – Isolatoren und RABS (Restricted Access Barrier Systems) werden dabei als gleichwertig betrachtet. Für die Zulassung neuer Produkte benötigen pharmazeutische Hersteller also mindestens RABS; eine Neuzulassung auf existierenden Reinraumlinien wird nur noch in Ausnahmefällen möglich sein.

Das hat im Jahr nach der Veröffentlichung der Richtlinie zu einem wahren „Run“ auf RABS-Aufrüstungen bestehender Reinraumlinien geführt, der bis heute andauert. Dabei gilt es, die Anforderungen des Annex 1 für den Betrieb von RABS so vollständig wie möglich abzudecken, was durchaus herausfordernd ist. Produzierende Pharmaunternehmen müssen sich entscheiden, ob sie für das neue Produkt eine bestehende Reinraumlinie nachrüsten oder doch gleich in neues Abfüllequipment investieren, das mit Isolator (oder RABS) betrieben wird. Isolatortechnik wird das neue „Normal“ werden, da die automatischen Biodekontaminationsprozesse und die Druckdifferenz zur Bedienerumgebung zusätzliche Sicherheit geben. RABS wird eher bei häufigen Produktwechseln und erfahrenem Bedienpersonal zum Zuge kommen.

Eine Frage der Sterilität

Um diese, im Annex 1 geforderte Herstellung und Aufrechterhaltung der Sterilität zu erzielen, müssen pharmazeutische Unternehmen eine Kontaminationrisikoanalyse durchführen und in Form einer Contamination Control Strategy (CCS) mit Maßnahmen hinterlegen. Dazu leisten fortschrittliche Anlagen einen wichtigen Beitrag. Im zweiten Kapitel des Annex 1 werden unter dem Schlagwort „Appropriate technologies“ Automatisierung und Robotersysteme besonders hervorgehoben. Durch den Einsatz dieser Technologien lassen sich Handschuhe und menschliche Eingriffe in Barriere-Systemen auf ein absolutes Minimum reduzieren oder sogar eliminieren. Gerade das Thema Handschuhe bringt viele Herausforderungen mit sich, die in eigenen Absätzen des Annex 1 gewürdigt werden. So sollen bei längeren Kampagnen Handschuhe im Betrieb zusätzlich getestet werden – was mit den bisher üblichen Handschuhprüfgeräten nicht möglich ist, ohne die Integrität des Abfüll-Sterilraums zu riskieren.

Tatsächlich fordert der neue Annex 1 eine Desinfektion, sobald die Handschuhe der RABS-Umgebung ausgesetzt wurden. Neben der aseptischen Rüstsituation betrifft das auch die Intervention mit Türöffnung während der Produktion. Das macht den Desinfektionsprozess sehr anspruchsvoll, da die letzten Schritte mit geschlossenen Türen vorgenommen werden müssen. Gleichzeitig dürfen sich die Desinfektionsreagenzien nicht auf Packmittel, Komponenten und unverschlossene Produkte auswirken. Eine Umstellung auf handschuhlose Systeme mit Robotik, die diese Handhabungen übernimmt, bildet den „Gral der Lösungsszenarien“ ab. Ein Beispiel ist die neue Versynta microBatch von Syntegon für die Verarbeitung von Kleinstchargen: Die vollautomatisierte Isolator-Produktionszelle befüllt zwischen 120 und 500 Behältnisse pro Stunde nahezu ohne Produktverlust und mit 100-prozentiger In-Prozess-Kontrolle. Handschuheingriffe findet man in dieser Lösung nicht mehr.

„First Air“ als große Herausforderung

Ebenfalls klare Vorgaben formuliert der Annex 1 bei der Luftströmung: Für offene Isolatoren und RABS ist der uni-directional air flow (UDAF) in allen Klasse A-Bereichen vorgeschrieben und sollte zwischen Lufteintritt und offenem Produkt nicht unterbrochen werden. Die Luftgeschwindigkeit (0,45m/s ± 20 %) und deren Messung wird „at working position“ verortet. Damit ist nicht die vertikale Position („working height“) gemeint, sondern der Bereich der kritischen, qualitätsrelevanten Prozesse auf der Maschine, wie Füllen, Stopfensetzen und Begasen. Der UDAF hat die Aufgabe dort eventuell vorhandene Restpartikel vom Produkt wegzutragen. Und dies kann auch bei kleineren Luftgeschwindigkeiten auf Produkthöhe gut erreicht werden.

Doch insbesondere das zum ersten Mal in einer europäischen GMP-Richtlinie thematisierte „First Air“-Prinzip stellt produzierende Unternehmen vor neue Herausforderungen. First Air bezieht sich auf einen Strom gefilterter Luft, der vor dem Kontakt mit dem freiliegenden Produkt und den produktberührenden Flächen nicht unterbrochen werden darf. So wird sichergestellt, dass die Luft das Produkt ohne Verwirbelung und ohne Verunreinigungen erreicht. Diese unterbrechungsfreie Strömung ist nicht überall möglich. Eine typische Ausnahme bildet die Füllnadel samt Füllnadelhalter, die exakt über dem offenen, vor­sterilisierten Packmittel positioniert werden muss, um eine verlustfreie Füllung zu erreichen. Hier wird dann erwartet, dass diese Bauteile aerodynamisch so gestaltet sind, dass Verwirbelungen minimiert und diese Gegenstände separat sterilisiert und aseptisch eingebaut werden können.

 

QRM und CCS von Beginn an mitdenken

Weitere wichtige Themen im neuen Annex 1 sind Quality Risk Management (QRM) und die bereits erwähnte CCS, die pharmazeutischen Herstellern mehr Möglichkeiten bieten sollen, um den optimalen Herstellungsprozess für ihr Produkt zu definieren. Insgesamt hat die neue Richtlinie einen stärkeren Fokus auf ein ganzheitliches, risikobasiertes Vorgehen. CCS betrifft nicht nur die Arbeitsweisen in der unmittelbaren Produktion, um mikrobiellen, partikulären und endotoxinen/pyrogenen Verunreinigungen im Endprodukt vorzubeugen, sondern auch die gesamte Herstellungskette vom Rohstoff über Komponenten und Packmittel bis hin zum fertigen Medikament.

Beim Thema QRM sind jedoch auch die Anlagenhersteller in der Pflicht. Eine gute Konstruktion von Anlage, Ausrüstung und Prozess ist ausschlaggebend für eine Annex 1-konforme Produktion. Auch darüber hinaus bieten Zulieferer wie Syntegon umfangreiche Unterstützung an: Gemäß den QRM-Grundsätzen lassen sich potenzielle Qualitätsrisiken proaktiv identifizieren, wissenschaftlich bewerten und kontrollieren. Qualifizierungs- und Validierungsmaßnahmen weisen nach, dass sowohl das Design als auch die Verfahren korrekt implementiert wurden und den Erwartungen entsprechen.

Ausblick

Der neue Annex 1 wird die sterile Abfüllung stark verändern. Viele neue, verbindliche Details erfordern innovative Lösungen, während die fortschreitende Automatisierung weitere Optimierungen ermöglicht. Zudem öffnet das Dokument mit der Einführung von CCS und QRM auch regulatorischen Raum für produktspezifische Lösungen. In der frühen Phase nach Inkrafttreten der Richtlinie geht es vor allem darum, dass alle Akteure – von Pharmaunternehmen über Inspektoren bis hin zu Zulieferern – im engen Austausch bleiben und voneinander lernen. Denn eines ist gewiss: Der neue Annex 1 ist gekommen, um zu bleiben. Und trotz bestimmter Herausforderungen und Widersprüche hat er eine klare Intention: Patientinnen und Patienten weltweit mit Medikamenten höchster Qualität zu versorgen.

Autor:

© Syntegon   Johannes Rauschnabel, Leiter Vorausentwicklung, Syntegon

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