Flexibilisierung ist Trumpf: Interview mit Dr. Marcus Hübel, Accenture
Liquiditätssicherung und Flexibilisierung als Hebel gegen die Krise
Kurzarbeit, Anlagenstilllegungen, Personalabbau, Gläubigerschutz - kaum ein Unternehmen der chemischen Industrie ist derzeit nicht von den Auswirkungen der Rezession betroffen. Doch was können Unternehmen tun, um sich im Abschwung für die Zeit nach der Krise fit zu machen? CHEManager sprach dazu mit Dr. Marcus Hübel, Leiter der Strategieberatung Chemieindustrie bei Accenture. Das Gespräch führte Dr. Michael Klinge.
CHEManager: Herr Hübel, die chemische Industrie ist nicht zuletzt aufgrund der Nachfrageschwächen ihrer Kundenbranchen Bau und Automobil von der aktuellen wirtschaftlichen Situation betroffen. Was können Unternehmen tun, um sich in dieser Situation zu behaupten?
Dr. M. Hübel: Die chemische Industrie als ein Zulieferer für viele Industrien ist stark von den wirtschaftlichen Randbedingungen betroffen. Das Geschäft mit Agrochemikalien geht dagegen weiterhin recht gut. Etliche wesentliche Abnehmer, wie beispielsweise Automobil oder auch Bau, sind aber von signifikanten Nachfrageeinbrüchen betroffen. Sie verzeichnen im Automobilbereich Rückgänge um 50-60%, in einigen Sektoren sogar bis zu 90%. Das zeigt die Größenordnung der Veränderung.
Und deswegen kommen Sie mit klassischen Maßnahmen der Kostenreduzierung, also etwa Kurzarbeit oder vorübergehende Anlagenstilllegungen, nur ein Stück voran. Ausreichen werden diese Maßnahmen vermutlich nicht. Das hängt auch davon ab, wie lange dieser Nachfragerückgang anhält.
Außerdem sollte man die spezifische Situation der Chemieunternehmen vor Auge haben. Wenn das Unternehmen aus einer Position der Stärke heraus agiert, wird es sich anders verhalten können, als wenn es ein Unternehmen ist, das bereits sehr knapp mit Finanz- und Personalressourcen ausgestattet ist.
Je nach Lage ist zu entscheiden, wie die Handlungsfähigkeit beizubehalten ist. Hier ist die Liquidität des Unternehmens entscheidend, zu dessen Sicherung teilweise große Aufgaben in puncto Kostenreduktion und Sicherung des Cashflows anstehen.
Bei gesicherter Liquidität bestehen Handlungsfreiräume, um die Fähigkeit zu verbessern, im Markt zu operieren. Unternehmen sollten deutlich anschauen, was die Bedürfnisse der Kunden sind, gerade in dieser veränderten Situation. Das kann zu einer Veränderung des Angebots führen und der Art und Weise, wie dieses Angebot im Markt platziert wird. Beispielsweise, indem technische Dienstleistungen und technische Services, die bisher mit den Produkten gebündelt verkauft wurden, jetzt separat angeboten werden. So kann sich der Kunde überlegen, ob er diese denn mitkaufen möchte oder eben auch nicht. Eine derartige stärkere Entflechtung von einzelnen Aspekten des Angebots ermöglicht unterschiedliche Preisgestaltung. Damit kann man einen Beitrag zur Preiserhaltung und damit auch zur Liquiditätssicherung des Unternehmens leisten.
Was können wir denn aus den vergangenen Phasen wirtschaftlichen Abschwungs für die heutige wirtschaftliche Situation ableiten? Schließlich ist die chemische Industrie als zyklische Branche seit jeher vom Auf und Ab der Konjunktur betroffen.
Dr. M. Hübel: Die chemische Industrie ist eine Industrie, die im Umgang mit Zyklen vertraut ist. Auf der anderen Seite haben wir derzeit einen Abschwung in einer Größenordnung, wie wir ihn noch nicht gesehen haben. Zudem waren vergangene Abschwünge geografisch isoliert, und jetzt haben wir eine weltweit synchronisierte Situation. Das macht einen Teil der Einmaligkeit des jetzigen Abschwungs aus. Es lohnt sich aber auch zu schauen, was in anderen Industrien Erfolgsfaktoren beim Meistern vergangener Abschwünge waren.
Dort sieht man, dass die Unternehmen am Ende der Krise gestärkt herausgekommen sind, die sehr sorgsam mit den Gegenmaßnahmen agiert haben. Sie haben nicht Kosten durch die Bank reduziert, sondern haben sie selektiv reduziert. Sie haben ihre Fähigkeit, Produkte im Markt zu platzieren, die nachgefragt sind, sogar gestärkt. Sie haben darüber hinaus das Thema Innovation weiterbetrieben. Also waren sie am Ende der Krise auch in der Lage, sich gegenüber dem Wettbewerb zu differenzieren.Ein anderer Aspekt ist die Fähigkeit, flexibel mit der Situation umzugehen. Am Beispiel der Dienstleistungen hatte ich das bereits skizziert. Die gilt auch für den Einsatz von Mitarbeitern und die Lohnkosten, also alle Instrumente, die Flexibilität ermöglichen, um den Abschwung zu begleiten, und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit stärken, Geschäftsmöglichkeiten, wenn sie sich ergeben, kraftvoll zu nutzen. Hält man dies in einer vernünftigen Balance, zieht man die wichtigsten Lehren aus den Erfahrungen der letzten Abschwünge.
Was unterscheidet Unternehmen, die auch in der Krise erfolgreich arbeiten, von denen, die stärker betroffen sind?
Dr. M. Hübel: Flexibilität ist der entscheidende Punkt. Die Fähigkeit, die Hausaufgaben in Richtung Handlungsfähigkeit des Unternehmens zügig und konsequent durchzuführen und gleichzeitig an sich eröffnenden Geschäftsmöglichkeiten aktiv zu partizipieren.
Sehen Sie Unterschiede zwischen den einzelnen Teilbereichen der Chemie, etwa Basischemie oder Spezialchemie?
Dr. M. Hübel: Natürlich sind die einzelnen Spieler entlang der chemischen Wertschöpfungskette unterschiedlich in der Lage, an einer solchen Flexibilisierung teilzunehmen. Nehmen Sie einfach einen großen Steamcracker, dort werden Sie viel weniger an Flexibilisierung realisieren können, als wenn Sie kundenspezifische Formulierungen und Mischungen produzieren. Daher ist die Fähigkeit, solche Maßnahmen zu ergreifen, unterschiedlich ausgeprägt. Für Spieler, die geringere Flexibilität haben, bedeutet dies, eine stärkere Weitsicht an den Tag zu legen, um z.B. über Teilstilllegungen eine Fixkostenverdünnung realisieren zu können. Unternehmen, die in verschiedenen Teilen der Wertschöpfungskette aktiv sind, müssen eine besonders große Komplexität steuern.
Lyondellbasell hat Gläubigerschutz beantragt, der Merger von Dow und Rohm & Haas drohte aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten zu platzen. Im Vergleich dazu scheinen deutsche Unternehmen noch relativ robust zu sein. Worauf führen Sie das zurück?
Dr. M. Hübel: Tendenziell sind die chemischen Unternehmen in Deutschland und der Schweiz solider finanziert als die in den USA. Sie hatten in den Jahren seit 2004 einen geringeren Verschuldungsgrad und weisen höhere Zinsdeckungen auf. Der Fremdkapitalanteil an der Bilanzsumme ist bei den deutschen Unternehmen ebenfalls seit 2004 geringer als der der US-amerikanischen Unternehmen. Gleichzeitig verfügen die deutschen und schweizerischen Unternehmen in der Regel über höhere Barmittelbestände.
Die chemische Industrie hat unterschiedliche Eigentümerstrukturen, börsennotierte Unternehmen, Firmen im Besitz von Private-Equity-Unternehmen und eher langfristig orientierte Firmen in Familienbesitz. Sind langfristig orientierte Unternehmen im Moment im Vorteil?
Dr. M. Hübel: Liquidität ist für alle Unternehmen ein wichtiger Aspekt. Unternehmen haben in den einzelnen Finanzierungsmodellen unterschiedliche Notwendigkeiten, ihre Kapitalgeber zu bedienen. Das erfordert an vielen Stellen ein Herausnehmen von Cash aus dem Unternehmen, was dann nicht zur Verfügung steht, um Akquisitionen oder Investitionen zu tätigen. Daher gibt es in nahezu allen Unternehmen Überprüfung von größeren Investitionen in Sachanlagen, die zum einen aus den sich verändernden Marktsituationen getrieben sind, aber auch aus der Notwendigkeit, Liquidität zu schützen.
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass bestimmte Finanzierungsformen per se im Vorteil sind. Sicher ist aber, dass eine gut aufgestellte solide Finanzierung einem Unternehmen Handlungsfreiräume bewahrt.
Sowohl der BASF-Chef Hambrecht als auch der VCI-Chef Tillmanns haben geäußert, dass die Banken noch nicht zu einem normalen Geschäftsgebaren bei der Vergabe von Krediten zurückgefunden haben. Behindert dies die chemische Industrie bei Expansions- und Investitionsvorhaben?
Dr. M. Hübel: Banken nehmen eine zentralen Rolle in der Volkswirtschaft wahr. Unabhängig davon, ob es die chemische Industrie ist oder ein anderer Wirtschaftszweig. Derzeit kommt der Finanzsektor dieser volkswirtschaftlichen Aufgabe nur in reduziertem Maße nach. Viele Maßnahmen von Administrationen rund um den Globus dienen ja dazu, diese volkswirtschaftliche Grundaufgabe des Finanzsystems sicherzustellen. Einen Blick in jede Tageszeitung, aber auch in die Unternehmen zeigt sehr deutlich, dass wir noch nicht zu einer Normalisierung zurückgekehrt sind. In der chemischen Industrie behindert dies ganz sicher Neuinvestitionen, aber auch das Angehen überfälliger Konsolidierungen und Restrukturierungen.
Die großen amerikanischen Banken machen wieder Gewinne und wollen Staatsgelder baldmöglichst wieder zurückzahlen. In der Folge hat die Börse in den USA positiv auf diese Entwicklung reagiert. Und auch bei uns hier sind die Börsenkurse in den letzten Wochen gestiegen. Haben wir das Schlimmste hinter uns?
Dr. M. Hübel: Ich glaube, dass positive Signale für ein Überwinden einer schwierigen Situation immer von Vorteil sind. Durch sich immer wieder verstärkende negative Nachrichten ist bestimmt auch eine Beschleunigung des Abschwungs gefördert worden. Von daher ist eine solche Trendumkehr, wenn sie denn kommt, stark von psychologischen Elementen begleitet. Andererseits gilt es, ganz normale Korrekturaktivitäten des Marktes nicht als Trendwende überzuinterpretieren. Die Fähigkeit, hier mit Augenmaß zu urteilen, ist ebenfalls nicht unerheblich dafür, welches Unternehmen rascher und erfolgreicher aus der jetzigen Situation herauskommt als der Wettbewerb.
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