Flexible Arbeitszeiten in der Schichtarbeit
Potsdamer Modell schafft Gestaltungsspielräume für Chemieunternehmen
Unser Leben hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Digitalisierung, Automatisierung, Globalisierung, technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel haben dazu beigetragen. Das merken wir im Arbeits- wie im Privatleben.
Und wer im Schichtdienst arbeitet, merkt es doppelt, denn er muss bei der Aufteilung seiner Zeit zwischen Beruf und Privatleben besondere Umstände in Kauf nehmen. Moderne Formen der Arbeitszeitflexibilisierung machen heute vieles möglich. Aber für diejenigen, die im Schichtbetrieb arbeiten, scheinen viele der aktuell diskutierten Konzepte wie ein unerfüllbarer Wunschtraum. Schließlich setzen betriebliche Notwendigkeiten der Autonomie und Selbstbestimmung Grenzen.
Was früher selbstverständlich war, wird heute insbesondere von jüngeren Generationen nicht mehr ohne Weiteres in Kauf genommen. Sie erachten wechselnde Arbeitszeiten in starren Arbeitszeitmodellen mit wohlmöglich kurzfristigen Änderungen als unvereinbar mit einer guten Work Life Balance. Dementsprechend gering ist ihr Interesse an einer Tätigkeit im Schichtbetrieb. In Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels ist das eine durchaus besorgniserregende Entwicklung für die betroffenen Unternehmen.
Schichtarbeit in der Chemie – Potsdamer Modell bietet neue Chancen
Die Chemieindustrie wird diese Entwicklung wohl besonders zu spüren bekommen. Statistisch gesehen werden dort in den nächsten Jahren deutlich mehr Mitarbeiter in den Ruhestand gehen als in anderen Industrien. Daher gilt es, Anreize zu schaffen, die dem schlechten Ruf von Schichtarbeit am Arbeitsmarkt entgegenwirken. Unabhängig davon steigt die Bedeutung einer lebensphasengerechten Arbeitszeit, um den Mitarbeitern das Arbeiten bis zur Regelaltersgrenze zu erleichtern. Schließlich profitieren davon alle Beteiligten.
Das Potsdamer Modell ist richtungsweisend. Geschaffen wurde es vom Arbeitgeberverband Nordostchemie und der Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie (IG BCE). Es gibt den Unternehmen der ostdeutschen Chemie seit dem 1. Januar 2019 größere Gestaltungsspielräume. Abhängig vom benötigten Arbeitsvolumen, den jeweiligen Arbeitszeitsystemen und Arbeitsbedingungen können die Betriebsparteien für den gesamten Betrieb oder für einzelne Betriebseinheiten in der Betriebsvereinbarung eine betriebliche Arbeitszeit zwischen 32-40 h wöchentlich festlegen.
Darüber hinaus können die Betriebsparteien eine individuelle Wahlarbeitszeit vereinbaren. Sie beträgt mindestens 32 h wöchentlich und kann auch oberhalb von 40 h wöchentlich liegen. Durch die Berücksichtigung persönlicher Arbeitszeitwünsche und individueller Arbeitsanforderungen soll den Mitarbeitern eine bessere Flexibilität und Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht werden. Wenn keine betriebliche Arbeitszeit vereinbart wurde, gilt die tarifliche Arbeitszeit (tarifliche Auffangregel).
Das Potsdamer Modell gilt nicht nur in der Chemieindustrie als wegweisend. Als bundesweit erster Manteltarifvertrag mit Wahlarbeitszeit stößt er auch in anderen Branchen auf großes Interesse. Mit Spannung wird erwartet, wie sich die Umsetzung in den Unternehmen gestaltet. Viele möchten wissen, ob das Modell den hohen Erwartungen gerecht wird. Schließlich ist eine flexiblere, mitarbeiterorientierte Arbeitszeitgestaltung auch Teil der Nachhaltigkeitsinitiative Chemie³.
Auswirkungen flexibler Arbeitszeitmodelle auf die Schichtplanung
Was aber heißt das konkret für die Planung von Schichtarbeit? Zunächst einmal bedeutet es mehr individuell nutzbare Freiheitsgrade, die eine flexiblere Schichtplanung ermöglichen. Durch eine Ausweitung der Gestaltungsspielräume kann den unterschiedlichen Belangen der Mitarbeiter stärker Rechnung getragen werden. Statt eines weitestgehend starren Arbeitszeitmodells können verschiedene Modelle eingesetzt werden, die an die betrieblichen und personellen Gegebenheiten angepasst sind. Richtig eingesetzt, lassen sich so die Bedürfnisse der Mitarbeiter und die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens miteinander in Einklang bringen. In Zeiten zunehmenden Fachkräftemangels wird dies immer wichtiger.
In Zukunft wird es in Schichtbetrieben – nicht nur in der Chemiebranche – immer stärker darum gehen, die Schichtplanung individueller und flexibler zu gestalten. Dabei wird es auch, aber nicht nur um eine lebensphasengerechte Anpassung gehen. Vielmehr sind die Erwartungen an die Gestaltung der Arbeitszeit insgesamt vielschichtiger geworden.
Lebensphasengerechte Arbeitszeiten sind wichtig, aber nicht genug
Welcher Arbeitsrhythmus als angenehm oder unangenehm empfunden wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Nicht nur der Biorhythmus, auch persönliche Lebensumstände bis hin zum Arbeitsweg können eine Rolle spielen. Wer bspw. eine lange Anfahrt hat, würde vielleicht lieber längere Schichten arbeiten, dafür aber an weniger Tagen pro Jahr. Vorausgesetzt, das Arbeitszeitmodell bietet die Möglichkeit. Gibt es gleichzeitig kürzere Schichten, z. B. für Teilzeitmitarbeiter, kann das für alle Beteiligten eine perfekte Ergänzung sein – insbesondere, wenn Bedarfsschwankungen auszugleichen sind.
Generell haben Unternehmen mit flexiblen Arbeitszeitmodellen besonders viele Gestaltungsmöglichkeiten. Freiheitsgrade in Bezug auf die Anzahl der Einsatztage oder die Schichtlänge bieten ideale Chancen, individuelle und betriebliche Belange bestmöglich zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere für Unternehmen, die Teilzeitarbeit anbieten, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Fairness im Sinne möglichst einheitlicher Rahmendienstpläne (= Schichtfolgen) sichert heute keine Mitarbeiterzufriedenheit mehr. Vielmehr hängt diese vor allem davon ab, wie gut der Dienstplan zu persönlichen Bedürfnissen passt und die zuverlässige Planbarkeit der Freizeit ermöglicht.
Auf die Umsetzung kommt es an
Auch hier trifft das Potsdamer Modell den Nerv der Zeit. Es schafft die Voraussetzungen, um Arbeitszeit im Sinne aller Beteiligten zu flexibilisieren. Jetzt gilt es das Modell erfolgreich umzusetzen. Und gut auf die Herausforderungen vorbereitet zu sein, die mit mehr Flexibilität und Individualität der Arbeitszeit einhergehen. Denn sie ändern die Anforderungen an die Schichtplanung.
Vor allem wächst die Anzahl zu berücksichtigender Vorgaben und Vereinbarungen – und damit auch die „Kombinatorik“ an Planungsmöglichkeiten. Wichtig ist daher, vorab den Planungsprozess auf den Prüfstand zu stellen.
Zunächst sollten die zukünftigen Anforderungen an die Schichtplanung geklärt werden. Dann sollte untersucht werden, inwiefern der bisherige Planungsprozess sowie die eingesetzten Hilfsmittel in der Lage sind, die zukünftigen Anforderungen abzudecken – sowohl was die generelle Erfüllbarkeit als auch den Zeitaufwand betrifft.
Warum die Umsetzung nicht an der Software scheitern darf
Wie die Erfahrung zeigt, ist diese Phase der Analyse für eine erfolgreiche Flexibilisierung der Arbeitszeit von größter Bedeutung. Insbesondere bedarf es einer kritischen Bewertung der erforderlichen Softwareunterstützung. Ohne sie droht die Umsetzung aus rein technischen Gründen zu scheitern. Je flexibler und differenzierter die Arbeitszeitmodelle, umso größer ist die Kombinatorik der Aufgabenstellung für die Schichtplanung. Excel-Lösungen stoßen hier früh an ihre Grenzen. In der Regel bedarf es einer auf die Personaleinsatzplanung spezialisierten Software.
Obwohl vermeintlich „nur“ ein technisches Thema, steckt dahinter wesentlich mehr. Eine adäquate Softwareunterstützung ist wichtig, um die wichtigste erste Hürde zu nehmen: das Vertrauen und die Akzeptanz der Mitarbeiter.
Scheitert das Vorhaben in erster Instanz, weil es mit den bestehenden Hilfsmitteln nicht gelingt, für die Mitarbeiter akzeptable Schichtpläne zu generieren, leidet die Unterstützung durch die Mitarbeiter. Ein zweiter Versuch geht dann unter ungleich schwierigeren Voraussetzungen an den Start.