Deutschland 2064 – Die Welt unserer Kinder
DieInitiative 361° von A.T. Kearney zeigt Szenarien für die Zukunft Deutschlands und des deutschen Mittelstands
A.T. Kearney feierte im Jahr 2014 sein 50-jähriges Bestehen in Deutschland und nahm dies zum Anlass, gemeinsam mit einer Reihe wichtiger Akteure aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft 50 Jahre nach vorne zu schauen. „Wie können wir Wachstum und Wohlstand sichern, damit die Welt unserer Kinder lebens- und liebenswert wird?“, fragten sich die Initiatoren der Studie „Deutschland 2064 – Die Welt unserer Kinder“ und identifizierten dabei fünf wesentliche Treiber – einer davon ist der Mittelstand. Mögliche Entwicklungsszenarien für den deutschen Mittelstand wurden in einer Teilstudie „Mittelstand = Mittelwichtig?“ untersucht, die im Juni 2015 veröffentlicht wird. Dr. Andrea Gruß sprach zu diesem Thema mit Dr. Otto Schulz, Partner, Chemieexperte und Leiter der Gesamtstudie bei A.T. Kearney, und Dr. Götz Klink, verantwortlich für die Untersuchung zum Mittelstand.
CHEManager: Herr Dr. Schulz, wie lassen sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen über 50 Jahre hinweg vorhersagen?
Dr. O. Schulz: 50 Jahre sind in der Tat ein langer Zeitraum. Um ihn zu betrachten, muss man zunächst Fragen formulieren, die auch noch in 50 Jahren relevant sind. Viele Technologien, die wir heute schätzen, werden wir dann nicht mehr nutzen. Aber ein Haus, das wir heute bauen, wird wahrscheinlich auch noch in fünf Jahrzehnten stehen. Oder ein Kind, das heute geboren wird, wird vorrausichtlich das Jahr 2064 erleben und auch eine Firma, die 2014 gegründet wurde, hat Chancen, in 50 Jahren noch zu bestehen.
Basierend auf diesen Überlegungen haben wir fünf prägnante Fragen formuliert: Wer werden wir sein? Wie wird in Deutschland Wert geschaffen? Wie werden sich unsere Unternehmen entwickeln? Wie werden wir Daten, Personen und Güter bewegen? In welcher Welt werden wir leben? Aus diesen Fragestellungen leiten sich die fünf Schwerpunktthemen Gesellschaft, Wertschöpfung, Mittelstand, Infrastruktur und Deutschland in der Welt für unsere Studie ab. Jedes dieser Themen haben wir dann gemäß zweier möglicher Zukunftsszenarien untersucht: dem Bartleby-Szenario und dem Gulliver-Szenario.
Welche Annahmen stecken hinter diesen Szenarien?
Dr. G. Klink: Beim Bartleby-Szenario gehen wir davon aus, dass die Entwicklung den altbewährten Weg nicht verlässt. Das Szenario ist benannt nach dem Schreiber Bartleby, einer Figur aus der gleichnamigen Erzählung des „Moby Dick“-Autors Herman Melville. Bartlebys radikales Lebensmantra war: „Ich möchte lieber nicht“, und er hält an alten Gewohnheiten fest und passt sich dem äußeren Wandel nicht an. Ganz anders Gulliver: Er ist kühn, tatkräftig, ein Visionär und Macher. Dem Gulliver-Szenario liegt daher der Ansatz zugrunde: „Mehr Zukunft wagen!“
Warum haben Sie sich bei der Frage ‚Wie werden sich unsere Unternehmen entwickeln?‘ auf mittelständische Unternehmen fokussiert?
Dr. O. Schulz: Der deutsche Mittelstand mit seinem zahlreichen Weltmarktführern, den Hidden Champions, ist eine Besonderheit, die es anderen Ländern nicht gibt. Er ist das Herz der deutschen Wirtschaft. Doch wird das auch in Zukunft so bleiben? Wie stabil ist der deutsche Mittelstand über lange Zeit in einer Welt, die sich immer stärker globalisiert? Diese Fragen haben uns interessiert.
Der Begriff Mittelstand ist diffus, zum einen wird er über Umsatzgrößen, zum anderen über Mitarbeiterzahlen definiert. Für einige ist er gar keine Betriebsgröße, sondern eine Haltung. Wie definieren Sie Mittelstand?
Dr. G. Klink: ‚Unser‘ Mittelstand hat eine relativ große Bandbreite. Die beginnt bei einem Jahresumsatz von 50 Mio. EUR und reicht bis zu 5 Mrd. EUR. Und: Mittelstand ist für uns immer ein familienkontrolliertes Unternehmen, das von einer überschaubaren Anzahl von Einzelpersonen kontrolliert wird, wie es zum Beispiel bei vielen Hidden Champions der Fall ist. In den oben genannten Umsatzbereich fallen im Übrigen etwa 45 % aller Unternehmen in Deutschland.
Werden diese Unternehmen auch künftig das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden?
Dr. G. Klink: Angenommen, der Mittelstand macht weiter wie bisher, dann wird sein Beitrag zur Gesamtwirtschaft abnehmen. Denn er konzentriert sich auf klassische Branchen, wie Automobilindustrie, Maschinenbau und industrienahe Dienstleistungen. Viele Unternehmen verfolgen zudem eine Ein-Produkt-Strategie und bedienen teilweise nur ein Produktsegment, zum Beispiel Spezialmaschinen. Damit der Mittelstand auch zukünftig Rückgrat der Wirtschaft bleibt, müssen Mittelständler in neuen, wachsenden Branchen entstehen.
Eine Analyse von A.T. Kearney zu den Top 50 Hidden Champions in Deutschland aus dem Jahr 2014 ergab, dass nur 6 % von ihnen in den letzten 50 Jahren gegründet wurden. Nur 14 % sind in Zukunftsbranchen tätig. In der Batterietechnik, der Biotechnologie oder Solarindustrie gab es beispielsweise im Jahr 2013 kein deutsches Unternehmen, das weltweit zu den Top 3 Unternehmen am Markt gehörte.
Dr. O. Schulz: Einigen Mittelständlern ist es in der Vergangenheit sehr gut gelungen, ihr Geschäftsmodell über die Zeit anzupassen oder die Branche zu wechseln. Sie haben eine hohe unternehmerische Aktivität gezeigt. Aber das gilt nicht für alle. In einigen Segmenten kommt es zu Kommodisierung. Der Mittelstand verliert seine Technologieführerschaft und wird durch internationale Wettbewerber bedroht. Die Hidden Champions von 2064 müssen daher heute gegründet werden, denn es dauert eine Weile, bis ein Marktführer entsteht.
Wie sind die Voraussetzungen dafür?
Dr. O. Schulz: In Deutschland fehlt es an einer Wagniskapital-Kapital-Kultur. Während in den USA im Jahr 2013 33 Mrd. USD an Venture Capital investiert wurden, waren es in Deutschland gerade mal 1,3 Mrd. EUR. Die wichtigste Kapitalquelle für deutsche Gründer sind Ersparnisse.
Hinzu kommt, dass viele erfolgreiche Firmen von heute aus einer Umbruchsituation heraus gegründet wurden, zum Beispiel in der Gründerzeit – die BASF feiert gerade ihr 150-jähriges Bestehen – oder nach den beiden Weltkriegen. Hier fällt mir das Unternehmen Espe Dental ein, das heute zum 3M Konzern gehört. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von zwei Chemikern gegründet, die ein improvisiertes Labor einrichteten, in dem sie Material für Zahnfüllungen herstellten.
Heute dagegen strebt jeder dritte Student in Deutschland eine Karriere im öffentlichen Dienst an. 72 % der Deutschen sind nicht an einer Unternehmensgründung interessiert, damit belegen wir in Europa den letzten Platz.
Dr. G. Klink: Hinzu kommen bürokratische und kulturelle Hürden. In Singapur kann ein Unternehmen binnen zweieinhalb Tagen gegründet werden; in Deutschland sollte ein Gründer dafür 14 Tage Adminstrationszeit einplanen. Auch wird in kaum einem anderen Land das Scheitern so sehr gefürchtet, wie in Deutschland. Für über die Hälfte der Deutschen ist die Angst vorm Scheitern ein Gründungshemmnis.
Dr. O. Schulz: Zur Kultur der „German Angst“ gehört auch die Skepsis gegenüber Innovationen und neuen Technologien, von der insbesondere Zukunftsbranchen, wie die Bio- oder Nanotechnologie, aber auch die Chemieindustrie betroffen sind. Unter den gesellschaftlichen Debatten zu neuen Technologien leidet insbesondere der Mittelstand, weil er oft sehr technisch argumentiert und die andere Seite sehr ideologisch. Das macht es für beide schwer, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Was muss sich ändern in Deutschland, damit sich Gulliver durchsetzt?
Dr. O. Schulz: Nicht nur Unternehmen müssen mehr Zukunft wagen, auch der Staat und wir als Gesellschaft bzw. wir als Mitarbeiter. Wir müssen Kulturen und Denkweisen ändern. Im Rahmen unserer 361° Initiative „Deutschland 2064“ haben wir unterschiedliche Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten analysiert und wollen einen gesellschaftlichen Diskurs zu diesen Themen anstoßen.