Anlagenbau & Prozesstechnik

AIRA Challenge 2024

Mobile Industrieroboter im Wettstreit auf der Achema

15.05.2024 - Fünf Weltklasse-Teams präsentieren auf der Achema 2024 in Frankfurt am Main Advanced Industrial Robotic Applications – kurz: AIRA – und demonstrieren, wie zuverlässig und intuitiv realistische Aufgaben in Betrieben oder Laboren der Chemieindustrie per Teleoperation bewältigt werden können.

Ziel der durch die Prozessindustrie gesponsorten AIRA Challenge ist es, zu demonstrieren, dass diese Robotiklösungen im realen Industriealltag extrem flexibel und spontan für fast beliebige Aufgaben eingesetzt werden können.

Potenziale der mobilen Robotik aufzeigen

Stellen Sie sich zwei Szenarien vor: Erstes Szenario: Ein mobiler Roboter führt seine Routinetätigkeiten durch – wie jene, die im Finale der AIRA Challenge auf der Achema 2022 gezeigt wurden: Er inspiziert Anlagen innerhalb und außerhalb von Ex-Zonen, nutzt Treppen und zieht Proben. In der Realität des Betriebsalttags wird der Roboter aber auch auf unerwartete Situationen treffen – wie z.B. eine verschlossene Tür oder eine vergessene Flasche, die der Probennahme im Weg steht. Zweites Szenario: Es ist spät abends am Wochenende – nur wenige Kollegen arbeiten in der Nachtschicht. Tief im Inneren des Labyrinths aus Rohren und Gängen kommt es zu einer unerwarteten Sensormeldung, die die Anwesenheit vor Ort erfordert.

Im Rahmen der AIRA Challenge 2024 zeigen die fünf Finalteams von EngRoTec-Solutions & Rollomatic, Roboverse Reply, TruPhysics/UnitedRoboticsGroup, der ETH Zürich und dem FZI Forschungszentrum Informatik, wie solche Situationen zukünftig gelöst werden können – ohne dass sie vorab geplant und programmiert wurden: Ein Mitarbeiter aus der Leitwarte übernimmt das Kommando über den Roboter. Ausgestattet mit fortschrittlichen Sensoren und einem vielseitigen Roboterarm wird im ersten Szenario dem Roboter geholfen eine Lösung zu finden, im zweiten Szenario der Roboter eingesetzt um die Situation unter der Leitung und Verantwortung des Mitarbeiters einzuschätzen und nach Möglichkeit zu beheben.

Der AIRA-Wettbewerb auf der Achema 2024 zielt darauf, das Spektrum der ferngesteuerten Aufgaben in der Prozessindustrie zu demons­trieren. Diese Herausforderung ist Teil einer ehrgeizigen Initiative, die von einem Konsortium von BASF, Bayer, Boehringer Ingelheim und Wacker Chemie organisiert durch Invite – der Public-Private-Partnership der TU Dortmund, HHU Düsseldorf und Bayer – und unter der Schirmherrschaft der NAMUR vorangetrieben wird.

Sebastian Schmidt, Head of Site Technical Management, Bayer Dormagen, erklärt: „Die autonome Mobilität entwickelt sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Das schafft auch viele Chancen in der chemischen Industrie. Um diese zu realisieren, müssen wir uns auf die gemeinschaftliche Entwicklung von praxistauglichen Lösungen für unsere Produktionsprozesse und -abläufe fokussieren.“

Die Erwartung, die hinter dieser Herausforderung steht, ist einfach: Teleoperation wird die Wertschöpfung der mobilen Robotik vervielfachen. „Unsere Erwartung an die AIRA Challenge ist es, die Potenziale der mobilen Robotik als eine künftige Schlüsseltechnologie der chemischen Industrie für alle sichtbar zu machen“, erläutert Christine Hau, Vice President Machinery & Reliability Solutions bei BASF in Ludwigshafen. „Im Schulterschluss mit den Herstellern braucht es konkrete Maßnahmen entlang des gemeinsamen Wegs, um diese Potenziale Wirklichkeit werden zu lassen.“

Carl-Helmut Coulon, Leiter Future Manufacturing Concepts bei Invite, fasst die vorangegangene Wettbewerbsrunde 2022 zusammen: „Die Leistung der Robotiklösungen im Wettbewerb AIRA 2022 übertraf die Erwartungen der Jury bei weitem!“ Und auch in diesem Jahr zeigen die fünf Finalteams bahnbrechende Innovationen.

 

„Die autonome Mobilität entwickelt sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Das schafft auch viele Chancen in der chemischen Industrie.“

Sebastian Schmidt, Head of Site Technical Management, Bayer Dormagen

 

Sicherheits- und Effizienzgewinne

Obwohl Aufgaben in schwierigen und gefährlichen Umgebungen wie der Öl- und Gas- oder der chemischen Industrie für den Einsatz von Robotern geeignet sind, lassen sie sich aufgrund der Komplexität nur schwer automatisieren. In diesem Zusammenhang bieten teleoperierte Roboter einen klaren Vorteil: Sie kombinieren die Flexibilität des Menschen mit fortgeschrittenen Entscheidungsfindungsfähigkeiten ohne direkten menschlichen Eingriff und ermöglichen gleichzeitig Fähigkeiten, die für den Menschen unpraktisch oder unmöglich sind. Dies verbessert die Sicherheit erheblich, da Unfälle und Schäden sowie die Exposition gegenüber gefährlichen Stoffen minimiert werden. Darüber hinaus verbessern Roboter die betriebliche Effizienz, indem sie Aufgaben präzise und konsistent ausführen. Ihre Integration ermöglicht einen kontinuierlichen Betrieb auch unter extremen Bedingungen.

Das Robotic Systems Lab (RSL) der ETH Zürich forscht an der Entwicklung von Maschinen und ihrer Intelligenz für den Einsatz in rauen Umgebungen wie der chemischen Industrie. Unsere Forschung konzentriert sich auf Roboter mit Armen und Beinen, und wir haben auf diesem Gebiet große Fortschritte gemacht. Eine der Entwicklungen ist die eines mobilen Manipulators. Dieser Roboter basiert auf dem vierbeinigen Roboter ANYmal von ANYbotics, der mit einem speziell entwickelten Roboterarm (DynaArm) ausgestattet ist, der hochdynamische 6DoF-Bewegungen ermöglicht. Dank eines auf Reinforecement Learning basierenden Controllers kann sich der Roboter stabil fortbewegen und aktive Manipulationsaufgaben ausführen. Er kann eine Nutzlast von 7 kg tragen und mittels Teleoperation ferngesteuert werden.  Die Forschung mit dem mobilen Manipulator konzentriert sich auf den Entwurf ganzheitlicher Planungs- und Steuerungsarchitekturen, um verschiedene Aufgaben der Ganzkörpermanipulation wie das dynamische Heben von schweren Objekten, das Drehen von Ventilen oder das Öffnen von Widerstandstüren, zu lösen.

Großes Potenzial für industrielle Anwendungsfälle

Mit der kontinuierlichen Steigerung ihrer Fähigkeiten bieten mobile Roboter ein erhebliches Potenzial für Inspektionen und andere industrielle Anwendungsfälle. Das Erreichen der vollen Fähigkeiten eines Menschen stellt jedoch immer noch eine Herausforderung dar – insbesondere im vollständig autonomen Betrieb und mit dem erforderlichen Maß an Robustheit. Aus diesem Grund sind effiziente Möglichkeiten zur Fernsteuerung von Robotern zumindest für einige Aufgaben erforderlich, damit eine Integration in großem Maßstab möglich ist. Auf diese Weise kann das Expertenwissen eines menschlichen Teleoperators genutzt werden, um auch die anspruchsvollsten Aufgaben zu bewältigen. Andererseits erfordert die manuelle Steuerung vieler Roboter in Vollzeit auch viele qualifizierte Bediener, was einer effizienten Einführung dieser Technologien ebenfalls im Weg steht.

Um diese Herausforderungen zu lösen, implementiert das FZI eine skalierbare Autonomiearchitektur. Das Kernprinzip dieses Ansatzes besteht darin, dass ein Bediener nahtlos zwischen verschiedenen Abstraktionsebenen wechseln kann, um einen Roboter zu steuern – von der direkten Teleoperation bis hin zur vollständigen Autonomie. Diese Modularität erlaubt es, den Aufwand des Bedieners dynamisch an die aktuelle Aufgabe oder Situation anzupassen. Mit diesem System ist es auch möglich, den Grad der Autonomie einer Lösung langsam zu erhöhen, während sie aufgebaut wird oder das Vertrauen in die autonomen Funktionen wächst. Aufgrund dieser Vorteile kann eine skalierbare autonome Architektur die größten Hindernisse für eine groß angelegte Einführung autonomer Inspektionen auf sichere und effiziente Weise beseitigen.

 

„Wir sehen in der mobilen Robotik eine große Chance. Es wird eine der Antworten auf die großen Herausforderungen des demographischen Wandels sein.“

Stefan Schneiderbauer, Leiter Fertigungsautomatisierung, Wacker Chemie

 

Robustheit, Sicherheit und Wartungsfreundlichkeit

Die Fernsteuerung von Robotern eröffnet die Möglichkeit, Aufgaben zu optimieren, die für autonomes Training zu komplex oder zu teuer sind. Während KI die Flexibilität von autonomen Robotern erhöht, bleibt die Fernsteuerung für bestimmte Aufgaben unerlässlich, insbesondere unter gefährlichen Bedingungen. Die Integration von ferngesteuerten Robotern bietet zahlreiche Vorteile für die Industrie, da die Notwendigkeit einer Vor-Ort-Präsenz entfällt. Diese Flexibilität gilt auch für den Einsatz in gefährlichen Bereichen, da Roboter Risiken anstelle von Menschen eingehen können.

Roboverse Reply hat seine Lösung entwickelt auf Basis von Know-how im Bereich des Spatial Computing, also der räumlichen Datenverarbeitung, die eine intuitive Steuerung von Robotern in dreidimensionalen Räumen ermöglicht. Mit einem verbesserten Verständnis der Umgebung und der Tiefenwahrnehmung wollen die Forscher die Effizienz steigern und den Schulungsbedarf durch Ferncoaching und einen Multi-User-Ansatz verringern. Im Rahmen der AIRA Challenge soll die Entwicklung auf die tatsächlichen Bedürfnisse der chemischen Industrie abgestimmt werden, wobei der Schwerpunkt auf Robustheit, Sicherheit und Wartungsfreundlichkeit liegt.

Effizientere und anpassungsfähigere Logistiklösungen

In der Welt der Robotik ist das Potenzial der generativen KI in der Tat faszinierend. Die Realität stellt Entwickler jedoch oft vor Herausforderungen. Generative KI arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten, d.h. ihre Erfolgsraten schwanken in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie Lichtverhältnissen, Hindernissen und Umgebungsgeräuschen. TruPhysics ist sich dieser Komplexität bewusst und plädiert für die Integration von Teleoperationen – ein wichtiges Instrument, um die Zuverlässigkeit von KI-Systemen zu gewährleisten, insbesondere in der Anfangsphase der Entwicklung. Menschliche Teleoperatoren stehen bereit, um als Backup einzugreifen und wichtige Unterstützung zu leisten, wenn die KI auf Hindernisse stößt.

Herzstück der Bemühungen von TruPhysics ist Robert M1 Lite, ein mit dem intelligenten Betriebssystem TruOS, ausgestatteten System. Durch rigorose Simulation und Optimierung sind die KI-Algorithmen so abgestimmt, dass sie eine Vielzahl von Aufgaben bewältigen können, von der einfachen Navigation bis hin zu komplexeren Aktionen wie dem Öffnen von Türen. Die Entwickler des Unternehmens, das tief im Ingenieurwesen verwurzelt ist, vertrauen der Teleoperation, die ein menschliches Eingreifen ermöglicht, wenn die KI auf Hindernisse stößt. Teleoperatoren verwenden Tools wie die 6D-Maus oder den Meta Quest 2 Pro, um nahtlose Unterstützung zu bieten und den Erfolg der Robotersysteme zu gewährleisten.
In Zukunft wird die Rolle mobiler Roboter in der Industrie deutlich zunehmen, insbesondere im Bereich der Intralogistik. Hier sieht TruPhysics die Möglichkeit, zu effizienteren und anpassungsfähigeren Logistiklösungen beizutragen.

 

„Unsere Erwartung an die AIRA Challenge ist es, die Potenziale der mobilen Robotik als eine künftige Schlüsseltechnologie der chemischen Industrie für alle sichtbar zu machen.“

Christine Hau, Vice President Machinery & Reliability Solutions, BASF Ludwigshafen

 

Prozessoptimierung, Präzision und Rentabilität

Zu den Herausforderungen von mobilen Robotiklösungen gehören auch das Sicherheitsmanagement und die Anpassung der Greifsysteme, bei denen es wiederum darum geht, das zu reproduzieren, was ein Mensch mit zwei Händen und zehn Fingern tun kann. Um Industrieroboter wirklich interessant zu machen, muss ihre Technologie aber auch zugänglich, schnell einrichtbar und einfach zu bedienen sein.
Die MobERT Humanoid Crew bestehend aus EngRoTec-Solutions & Rollomatic Group hat ein System entwickelt, um die Bedürfnisse von Herstellern und Laborumgebungen in Bezug auf Prozessoptimierung, Präzision durch kontrollierte Wiederholbarkeit und Rentabilität zu erfüllen. Der MobERT Humanoid genannte Roboter ist der ideale Partner für die pharmazeutische und chemische Industrie. Anwendungen könnten gesundheitsgefährdende Aufgaben sein, wie z.B. der Umgang mit giftigen Flüssigkeiten oder die Durchführung von Analysen, sowie andere Tätigkeiten, die keine Anwesenheit des Bedieners vor Ort mehr erfordern. Der Bediener kann auch mehrere Roboter im Fernbetrieb steuern.

MobERT Humanoid wurde aus der Beobachtung heraus geboren, dass der Mensch eine der größten Erfolgsgeschichten der Natur ist. Der Roboter ist mit einem Kopf und zwei Augen mit 3D-Stereosicht ausgestattet, um seine Umgebung zu visualisieren, sowie mit Armen und Händen, die von einer 15-achsigen Kinematik angetrieben werden, um Objekte zu manipulieren.

Fazit

Die Zukunft hält aufregende Möglichkeiten für teleoperierte Roboter in der chemischen Industrie bereit. Die Integration dieser fortschrittlichen Roboter in die Industrie wird einen entscheidenden Wandel in der Arbeitsweise von Chemieunternehmen und -laboren markieren.

Stefan Schneiderbauer, Leiter Fertigungsautomatisierung bei Wacker Chemie, erklärt: „Wir sehen in der mobilen Robotik eine große Chance. Es wird eine der Antworten auf die großen Herausforderungen des demographischen Wandels sein.“

Die Finalisten im Überblick:

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