Anlagenbau & Prozesstechnik

Mobile Industrieroboter in der Prozessindustrie

Ein Rückblick auf die AIRA Challenge 2024 und ein Ausblick in die Zukunft von Teleoperationslösungen

11.12.2024 - Die AIRA Challenge 2024 hat einen Blick in die Zukunft der teleoperierten Arbeitsabläufe in der Prozessindustrie geworfen. Es ist ein Wettbewerb der besonderen Art.

Fünf Teams demonstrierten im Juni auf der Achema 2024 in Frankfurt wie zuverlässig und intuitiv Advanced Industrial Robotic Applications – kurz: AIRA – in nicht allzu ferner Zukunft in Betrieben oder Laboren der Chemieindustrie per Teleoperation ablaufen können. Auch wenn die fünf Finalistenteams während des mehrtägigen Events um den Sieg wetteiferten, siegte am Ende das Gemeinschaftsgefühl und die Überzeugung, gemeinsam an der Zukunft mobiler Robotiklösungen zu arbeiten.

Roboter, die mittels Teleoperation gesteuert werden, bieten signifikante Vorteile für Wartungs- und Instandhaltungsaufgaben in der chemischen Industrie. Mobile teleoperierte Roboter können bspw. in schwer zugänglichen oder gefährlichen Umgebungen eingesetzt werden, etwa in Bereichen mit toxischen oder explosiven Stoffen, wodurch das Risiko für das Personal minimiert wird. Darüber hinaus sind Roboter in der Lage, wiederkehrende Aufgaben mit gleichbleibender Präzision und Zuverlässigkeit auszuführen, was die Qualität und Konsistenz von Wartungsarbeiten erheblich verbessert. Mit der AIRA Challenge wollen die Initiatoren zeigen, dass ferngesteuerte mobile Robotiklösungen im realen Industriealltag flexibel für fast beliebige Aufgaben eingesetzt werden können.

Plattform für bahnbrechende Technologien in der Robotik

Das Finale der AIRA Challenge fand bereits zum zweiten Mal auf der Achema, der weltweit größten Messe für die Prozessindustrie, in Frankfurt am Main statt. Das diesjährige Finale setzte den Erfolg der AIRA Challenge 2022 fort, bei der mobile Roboter autonome Aufgaben durchführen mussten. In diesem Jahr mussten die Finalisten ihre Fertigkeiten in der Fernsteuerung von Robotern in industriellen Umgebungen demonstrieren, einschließlich Navigation, Türöffnung, Materialinspektion, Abfallentsorgung, Schrankinspektion und Wartungsaufgaben. Ziel war es, die Robotertechnologie zu identifizieren, die am besten geeignet ist, um nahezu jede im Betriebsalltag der Prozessindustrie vorkommende Service- oder Inspektionsaufgabe aus der Ferne zu erledigen – ohne dass die Situationen vorab geplant und programmiert wurden. Während KI die Flexibilität von autonomen Robotern erhöht, bleibt die Fernsteuerung für bestimmte Aufgaben unerlässlich, insbesondere unter gefährlichen Bedingungen.

Diese Herausforderung ist Teil der Initiative, die von einem Konsortium von BASF, Bayer, Boehringer Ingelheim und Wacker Chemie organisiert durch Invite – der Public-Private-Partnership der TU Dortmund, HHU Düsseldorf und Bayer – und unter der Schirmherrschaft der NAMUR vorangetrieben wird. Die Erwartung, die hinter dieser Herausforderung steht, ist, dass Teleoperation die Wertschöpfung der mobilen Robotik künftig vervielfachen wird. Genau dies demonstrierten die fünf Finalteams von EngRoTec-Solutions & Rollomatic, Roboverse Reply, TruPhysics/United Robotics Group, der ETH Zürich und dem Karlsruher Forschungszentrum Informatik (FZI). So präsentierte sich die AIRA Challenge auf der Achema nicht nur als Plattform für bahnbrechende Technologien in der Robotik, sondern auch als Publikumsmagnet. Von Montagmorgen bis Freitagnachmittag gab es einen hohen Andrang und die Besucher konnten live erleben, wie die mobile Robotik den nächsten Schritt in die Zukunft macht.

 

Potenziale und Grenzen der mobilen Robotik

Roboter eignen sich grundsätzlich für gefährliche Umgebungen wie Produktionsbetriebe der Öl-, Gas- oder Chemieindustrie, sind aber schwer zu automatisieren. Teleoperierte Roboter bieten hier Vorteile: Sie kombinieren menschliche Flexibilität mit fortgeschrittener Entscheidungsfindung ohne direkten Eingriff. Das verbessert die Sicherheit, minimiert Unfälle und Exposition gegenüber Gefahrstoffen und steigert die Effizienz durch präzise und konsistente Aufgaben. Industrieroboter ermöglichen so einen kontinuierlichen Betrieb auch unter extremen Bedingungen.

Soweit die Theorie. Und das Feed­back, das die Beteiligten während der Achema erhielten, bestätigt die Relevanz: Wäre Teleoperation eine Standardfunktion mobiler Roboter, würde sie überall eingesetzt werden. Denn den Normalprozess autonom zu entwickeln und Abweichungen zunächst ignorieren zu können, ist in der Praxis wünschenswert. Die spontane Handhabung von Abweichungen, wie bspw. das selbstständige Öffnen einer Tür, ist autonom nahezu unmöglich zu bewältigen. Per Teleoperation ist dies zwar herausfordernd, aber immerhin lösbar. Zwar sind teleoperierte Funktionen noch deutlich langsamer als autonome Funktionen, aber auch hier wird es in naher Zukunft Fortschritte geben.

Auch an weiteren Herausforderungen wird gearbeitet. So erhöhen die WLAN-Latenz und der Zeitdruck den Stressfaktor bei Teleoperationen, was auch während der AIRA Challenge auf der Achema deutlich wurde – der Öffentlichkeitsfaktor dürfte dort allerdings auch eine Rolle gespielt haben. Dass WLAN im Gegensatz zu 5G bei hoher Auslastung, wie z.B. auf Messen, nicht stabil ist, ist allgemein bekannt. Ob dies in einer industriellen Umgebung ein relevantes Problem für die Teleoperation darstellt, muss noch unter realen Bedingungen getestet werden. Eine weitere Erkenntnis: Keine der teleoperierten mobilen Lösungen konnte dem Operator zu jeder Zeit eine vollständige Einschätzung der räumlichen Situation, d.h. vom Zustand der Umgebung und dem Zustand des Roboters liefern.

Die Herausforderungen im Bereich mobiler Robotiklösungen umfassen auch das Sicherheitsmanagement sowie die Anpassung der Greifsysteme, wobei versucht wird, die Funktionalität menschlicher Arme und Hände nachzuahmen. Daher konzentriert sich die Entwicklung – wie bei der AIRA Challenge zu sehen – auf Roboter mit Armen und Beinen, die sich sowohl stabil fortbewegen als auch aktive Manipulationsaufgaben ausführen können. Die Finalisten präsentierten verschiedene Lösungen in den Bereichen Navigation, Visualisierung und Mobilität, die zum Teil in der Entwicklung weit fortgeschritten sind.
Auch wenn die Navigation der Robotikplattformen per Teleoperation häufig mit den eingebauten Funktionen der Robotikhersteller möglich ist und auch einige der für Aufgaben in Produktionsumgebungen benötigten Technologien wie Sensoren bereits existieren, ist ihre Integration und Anpassung an spezifische betriebliche Anforderungen eine komplexe Aufgabe. Daher sind weitere Entwicklungen notwendig, um eine realitätsnahe und einfache Bedienung in den speziellen Situationen der Prozessindustrie zu ermöglichen. Derzeit gibt es hierfür noch keine kommerziell erhältlichen Systeme, weil die meisten Roboterhersteller das Potenzial der Prozessindustrie noch nicht erkannt haben oder die hohen Anforderungen scheuen.

Genau hier setzt die AIRA Challenge an. Um die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten mobiler Roboter in der chemischen Industrie zu realisieren, setzt sich die Initiative für eine gemeinschaftliche Entwicklung von praxistauglichen Lösungen für die speziellen Produktionsprozesse und -abläufe ein. Mit Erfolg, wie die AIRA Challenge bewies. Während der Achema demonstrierten die fünf Finalteams bahnbrechende Ergebnisse ihrer Entwicklungen wie z. B. eine Steuerung per Real-Twin-Arm oder 6D-Maus in einem virtuellen Kontrollraum in unterschiedlichen Szenarien. Beim Vergleich der Fortbewegungstechnologien schneiden Laufroboter meist besser ab als Systeme mit Rädern, da sie schneller durch Kurven laufen als radbasierte Plattformen fahren. Daher sind die meisten mobilen Roboter der Anatomie von vierbeinigen Tieren, häufig Hunden, nachempfunden. Doch hier entscheidet letztlich die Einsatzsituation.

And the Winner is …

Bleibt noch zu erwähnen, dass Roboverse Reply als Sieger aus der AIRA Challenge hervorgegangen ist. Das auf Integrationsszenarien rund um Robotik spezialisierte Spin-off des IT-Dienstleisters Reply, hat den Wettbewerb nach 2022 zum zweiten Mal in Folge gewonnen. Mit seiner Plattform hat Roboverse Reply gezeigt, wie künstliche Intelligenz und menschliches Expertenwissen in realen Anwendungen kombiniert werden können, um anspruchsvolle Aufgaben in der Industrie zu bewältigen.

Das Team überzeugte die Jury mit einer benutzerfreundlichen, leicht skalierbaren Lösung, die Enterprise-­ready ist. Diese erlaubt es, mobile Roboter wie Spot von Boston Dynamics mit Standardkomponenten wie einer VR-Brille intuitiv per Hand­tracking oder Controller zu bewegen und deren Greifarme präzise einzusetzen. Außerdem können Nutzer über die Brille auch zusätzliche Informationen wie Messwerte und Lagepläne abrufen und so noch fundiertere Entscheidungen treffen. Da alle Daten in der Cloud-Infrastruktur des Kunden verarbeitet werden, kann die Lösung ortsunabhängig genutzt und schnell in die vorhandenen Systeme integriert werden.

Fazit

In der chemischen Industrie herrscht bereits ein hoher Automatisierungsgrad, bspw. in Logistikbereichen, dennoch gibt es Bereiche, die sich durch den Einsatz von Robotern noch weiter optimieren lassen. So wird der Einsatz mobiler Roboter in der Industrie in Zukunft deutlich zunehmen, insbesondere im Bereich der Intralogistik, wo heute schon autonome Verpackungs-, Sortier-, Palettier und Materialhandlingroboter zum Arbeitsalltag gehören. Dort können teleoperierte Robotiklösungen zu noch effizienteren Arbeitsabläufen beitragen.

Mit der fortlaufenden Verbesserung ihrer Fähigkeiten bieten mobile Roboter auch erhebliches Potenzial für Inspektionen und andere industrielle Anwendungen. Das Erreichen der vollen Leistungsfähigkeit eines Menschen bleibt jedoch eine Herausforderung – insbesondere im Hinblick auf vollständig autonomen Betrieb und die erforderliche Robustheit. Daher sind effiziente Methoden zur Fernsteuerung von Robotern erforderlich, um deren Integration im großen Maßstab zu ermöglichen. Auf diese Weise kann das Fachwissen eines menschlichen Teleoperators genutzt werden, um auch die anspruchsvollsten Aufgaben erfolgreich durchzuführen.

Die Zukunft hält also spannende Möglichkeiten für teleoperierte Roboter in der chemischen Industrie bereit. Die Integration dieser fortschrittlichen Roboter in die Industrie wird einen entscheidenden Wandel in der Arbeitsweise von Chemieunternehmen markieren. Und auch im Hinblick auf den demografischen Wandel und den sich verschärfenden Fachkräftemangel bietet die mobile Robotik eine große Chance für die Unternehmen. Um teleoperierte Robotiksysteme jedoch wirklich attraktiv zu gestalten, müssen ihre Technologien über die technische Funktionalität hinaus kommerziell erhältlich und erschwinglich, schnell einrichtbar und benutzerfreundlich sein.

Überzeugen Sie sich in unserem Video vom Finale der AIRA Challenge auf der Achema, wie die fünf Finalisten ihre Roboter in der simulierten Umgebung aus der Ferne durch Produktionsanlagen navigieren und verschiedene Aufgaben mit ihnen bewältigen können.

Michael Reubold, CHEManager

 

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