„Grüner Strom allein macht noch keinen Klimaschutz“
VCI fordert moderne Zulassungsverfahren für Industrieanlagen und stellt Neun-Punkte-Papier vor
Der Umbau der Wirtschaft zur Treibhausgasneutralität wird nach Ansicht des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) die Zahl der Genehmigungsverfahren vervielfachen, denn auch zahlreiche Industrieanlagen müssen umfangreich modernisiert werden. Wenn die Politik Wachstumsbremsen lösen und Klimaschutzhemmnisse abbauen wolle, dürfe sie sich nicht auf Windräder beschränken.
Mit einem Neun-Punkte-Papier schlägt der VCI Politik und Behörden einen Weg vor, wie die Zulassungsverfahren für Industrieanlagen beschleunigt werden können. VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup: „Mit Genehmigungsverfahren von gestern können wir das Morgen nicht klimaneutral gestalten. Wir müssen uns jetzt die Zukunft genehmigen.
Was für Windräder, Stromtrassen und Solarparks gelte, so VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup, müsse für alle nachgelagerten Wertschöpfungsketten und daher auch für alle Industrieanlagen gelten. Hierzu brauche Deutschland noch in diesem Jahr dringend ein Beschleunigungsgesetz für Planungs- und Genehmigungsverfahren, das auch Anlagen in der Industrie einschließt. „Grüner Strom allein macht noch keinen Klimaschutz“, erklärte Große Entrup.
Das Neun-Punkte-Papier ist die Quintessenz aus einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) über das volkswirtschaftliche Potenzial effizienterer Genehmigungsverfahren sowie eines Rechtsgutachtens der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft zur Weiterentwicklung der Öffentlichkeitsbeteiligung. Sowohl die Studie als auch das Rechtsgutachten hat der VCI in Auftrag gegeben.
Große Entrup bewertet die vor Deutschland liegenden Herausforderungen für die Transformation der Industrie als gewaltig und vergleicht sie mit den Anstrengungen der Wiedervereinigung. „Es braucht eine ‚Allianz des Wollens‘ zwischen Bund, Ländern, Gesellschaft und Industrie. Ohne einen veränderten Mindset auf allen Ebenen werden wir diese nationale Kraftanstrengung nicht meistern.“ Er appelliert deshalb an die Regierungen der Bundesländer, einen Gesetzesvorschlag der Bundesregierung konstruktiv zu begleiten, in einem Schulterschluss unabhängig von Parteifarben gemeinsam zügig anzugehen und einheitlich umzusetzen.
Kürzere Verfahren bringen ökonomische Dividende
Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, sieht in einer Verkürzung von Planungs- und Genehmigungsverfahren sowohl ökologisches als auch ökonomisches Potenzial: Würde es in Deutschland einen Tag weniger dauern, ein Unternehmen zu gründen, könnte das zwei Milliarden Euro zusätzliche Direktinvestitionen pro Jahr ermöglichen, hat das IW ermittelt. „Der hohe bürokratische Aufwand bedeutet für unsere Wirtschaft international einen enormen Wettbewerbsnachteil“, sagt Hüther. Gleichzeitig sei es von elementarer Bedeutung für das Erreichen der ambitionierten Klimaziele, Planungs- und Genehmigungsverfahren effizienter zu gestalten. Rund 1.500 Verfahren zu Industrieanlagen auf Basis des Bundesimmissionsschutzgesetzes werden nach Kenntnis des IW pro Jahr in Deutschland abgewickelt. Solche Verfahren mit Umweltverträglichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung dauern bis zur Genehmigung in der Regel fünf bis acht Jahre. Mit Blick auf die Länge der Verfahren bekräftigt Hüther: „Das ist fatal, denn zu den Anlagen zählen auch solche, die für die Dekarbonisierung der deutschen Industrie unverzichtbar sind.“
Beteiligung der Öffentlichkeit und Geheimnisschutz miteinander versöhnen
Der VCI hält eine Beteiligung der Öffentlichkeit für relevant und richtig. Um schneller zu werden, müssen die Beteiligungsverfahren aber gezielter und straffer ausgerichtet werden. Dabei ist der Branche besonders wichtig, dass die Balance zwischen der Öffentlichkeitsbeteiligung und dem Schutz von Betriebsgeheimnissen und vor Cyberkriminalität besser justiert wird. „Uns geht es um die Qualität der Beteiligung sowie einen verbesserten und zügigeren Interessenausgleich zwischen der Öffentlichkeit und Unternehmen“, unterstreicht Große Entrup und regt einen frühzeitigen Dialog über die Transformation der Wirtschaft an. Hierfür schlägt der VCI eine Beteiligung für die betroffene Öffentlichkeit vor und empfiehlt, den Umfang der auszulegenden Unterlagen auf ein rechtssicheres Maß zurückzuführen. Ziel könnte ein verständlicher Bürgerbericht sein, so der Chemieverband. Einem Know-how-Diebstahl könnte man vorbeugen, indem Behörden beispielsweise auf Kopier-, Weiterleitungs- oder Download-Möglichkeiten verzichten oder Dokumente verschlüsselt werden.
Stefan Altenschmidt von der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft in Düsseldorf befürwortet eine vollständige Digitalisierung der Öffentlichkeitsbeteiligung. Er betont aber: „Um die Interessen am Geheimnisschutz und an einer stärkeren Digitalisierung der Öffentlichkeitsbeteiligung zu versöhnen, könnte das im staatlichen Geheimnisschutz etablierte in-camera-Verfahren genutzt werden.“ Bei diesem Verfahren prüfen drei zur Verschwiegenheit verpflichtete Richter die Berechtigung des geltend gemachten Geheimnisschutzes. In Verbindung mit einer kurzen Entscheidungsfrist von zwei Monaten könne hierdurch allen betroffenen Interessen entsprochen werden.
Altenschmidt plädiert auch dafür, den Erörterungstermin zu streichen, da er europarechtlich nicht gefordert ist und in der Praxis regelmäßig ergebnislos verläuft. Schließlich sei das rechtliche Instrumentarium für eine frühestmögliche und intensive Öffentlichkeitsbeteiligung nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz bereits vorhanden.
Digitalisierung vorantreiben, Bürokratie abbauen, Komplexität reduzieren
Der VCI fordert weiter eine Digitalisierungsoffensive sowie eine Einstellungs- und Qualifikationsinitiative in den Behörden. Auch müsse überkomplexe Bürokratie abgebaut werden. Das könne gelingen, wenn jede neu geplante gesetzliche Regelung einen ‚Transformations-Check‘ bestehen muss, der kritisch hinterfragt, ob sie Prozesse beschleunigt oder behindert. Auch Doppelregelungen und Widersprüche seien zu beseitigen. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie „zumutbar“ und „verhältnismäßig“ sollten so weit wie möglich geklärt werden, um teure Gutachten zu vermeiden und die Entscheidungsfreude von Beschäftigten in den Behörden zu stärken. Das Verbandsklagerecht sollte ebenfalls gestrafft werden, indem als erste Instanz gleich Oberverwaltungsgerichte bei industriellen Großvorhaben zuständig sein sollten.
Darüber hinaus mahnt der VCI-Hauptgeschäftsführer, dass Deutschland die europäische Gesetzgebung deutlich stärker in die Pflicht nehmen muss: „Wir machen uns große Sorgen, dass die Vielzahl neuer Maßnahmen, die auf dem Green Deal aufbauen, die deutschen Beschleunigungspläne extrem konterkarieren.“
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