Märkte & Unternehmen

Technologiefreiheit statt Denkverbote

Die Transformation zur Klimaneutralität braucht Innovationskraft anstelle von Überregulierung

13.09.2023 - Ulrike Zimmer, Bereichsleiterin Wissenschaft, Technik und Umwelt beim Verband der Chemischen Industrie (VCI) erläutert die Bedeutung von Innovation für die Transformation unserer Gesellschaft zur Klimaneutralität.

Responsible Care (RC) ist die weltweite Initiative der chemischen Industrie zur kontinuierlichen Verbesserung ihrer Leistungen für Umweltschutz, Gesundheit und Sicherheit. Dieses Ziel wird erreicht, indem gesetzliche und andere Vorschriften nicht nur eingehalten, sondern darüber hinaus kooperative und freiwillige Initiativen mit staatlichen Stellen und anderen Stakeholdern ergriffen werden. Die deutsche Chemieindus­trie nimmt seit über 30 Jahren an dem internationalen Programm teil.

Ulrike Zimmer ist als Bereichsleiterin Wissenschaft, Technik und Umwelt beim Verband der Chemischen Industrie (VCI) verantwortlich für die Koordination der RC-Initiativen und die Durchführung des jährlichen RC-Ideenwettbewerbs. Dies und die Bedeutung von Innovation für die Transformation zur Klimaneutralität erläutert sie im Interview mit Michael Reubold.


CHEManager: Frau Zimmer, Sie sind seit Anfang des Jahres Bereichsleiterin Wissenschaft, Technik und Umwelt, aber bereits seit über 18 Jahren beim VCI und mit der Responsible-Care-Initiative vertraut. Warum ist Responsible Care eine Erfolgsgeschichte?

Ulrike Zimmer: Responsible Care ist eine Erfolgsstory, weil Belegschaft und Management erleben, wie das Programm im Betriebsalltag wirkt. Das Zusammenspiel der Einzelnen ist das Grundprinzip, verantwortlich zu handeln. Denn das kann immer nur vom Individuum ausgehen. Die VCI-Responsible-Care-Unternehmen bilden die weltweit größte RC-Community.

Und unsere Erfolge lassen sich auch messen: So konnte die Branche beispielsweise ihren gesamten Wasserverbrauch annähernd konstant halten, obwohl ihre Produktion seit 1995 um gut 40 % gestiegen ist. Auch in der Arbeitssicherheit hat unsere Branche viel erreicht: Die meldepflichtigen Arbeitsunfälle je eine Million Arbeitsstunden sind seit Gründung der RC-Initiative um rund 75 % gesunken.

Eine wesentliche Rolle spielt auch das Thema Transparenz, daher lässt der VCI seit vielen Jahren den Responsible-Care-Bericht einer Third Party Verification unterziehen. Wir waren einer der ersten Chemieverbände weltweit, die einen RC-Bericht auf diese Weise nachvollziehbar gemacht haben.

1985 ins Leben gerufen umfasste das Responsible-Care-Programm die sechs Handlungsfelder Umweltschutz, Produktverantwortung, Arbeitssicherheit/-Gesundheitsschutz, Anlagensicherheit/Gefahrenabwehr, Transportsicherheit und Dialog. Heute stehen wir vor der globalen Herausforderung, den Klimawandel zu bremsen. Wie hat sich RC dadurch und auch sonst bis heute verändert?

U. Zimmer: Das Programm ist auch nach über 30 Jahren noch so aktuell wie bei seiner Initialisierung. Der Spirit von Responsible Care ist, den Schutz von Gesundheit und Umwelt sowie die Sicherheit unserer Beschäftigten kontinuierlich zu verbessern – und zwar über die gesetzlichen Vorgaben hinaus. Aus Überzeugung.

Mittlerweile handelt die zweite und dritte Generation der Responsible-Care- Mitarbeitenden verantwortungsvoll. Wir verstehen diese Initiative als eine generationenübergreifende Aufgabe, die ständig weiterentwickelt wird. Das ist umso wichtiger, da auch die technologische Entwicklung voranschreitet und es beispielsweise regelmäßig neue Erkenntnisse zur Sicherheit von Chemikalien gibt.
Das Responsible-Care-Engagement ist zentrales Element einer nachhaltigen Unternehmensführung. Vorausschauend handeln, kreative Lösungen für mehr Umweltschutz, Gesundheit und Sicherheit entwickeln – das ist es, was die Responsible-Care-Initiative ausmacht.

Beispiele für solche einfallsreichen Lösungen sucht der VCI gemeinsam mit seinen Landesverbänden jedes Jahr mit dem Responsible-Care-Wettbewerb. Dieses Jahr lautete das Wettbewerbsmotto „Unser nachhaltiger und sparsamer Umgang mit Energie“. Die Unternehmen haben der Jury eine breite Auswahl an erfindungsreichen Lösungen vorgelegt. Sie reichten von kurzfristigen Maßnahmen – als Reaktion auf die Gasknappheit zur Aufrechterhaltung der Produktion – bis hin zu Projekten, die schon länger laufen und eine klimaneutrale Produktion noch vor 2045 sicherstellen können.

Die chemische Industrie steht vor einer tiefgreifenden Transformation, die vor allem von den Aspekten Nachhaltigkeit und Digitalisierung getrieben wird. Auch hier sind einfallsreiche Lösungen gefragt, denn um diesen Umbau der Branche zu meistern, ist Innovation von zentraler Bedeutung. Wie steht es um das Innovationsklima in Deutschland?

U. Zimmer: Der heimische Forschungsstandort zählt noch zu den Top Ten unter 35 Volkswirtschaften, so der BDI-Innovationsindikator 2023. Allerdings tritt Deutschland mit dieser Platzierung mehr oder weniger auf der Stelle. Schaut man genauer hin, dann sind viele Schwächen erkennbar: Es fehlen Fachkräfte, Investitionen in Wachstumskapital, und das Engagement bei einigen Schlüsseltechnologien, bei neuen Materialen etwa, sind zu gering. Dringend nötig ist Wissen in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik – und zwar entlang der gesamten Bildungskette von der Grundschule bis zum Abitur. Und das Bürokratiedickicht belastet unsere Forschenden in den Labors. Das bindet enorm viel Arbeitskraft.

 

 

„Der Forschungsstandort Deutschland
tritt mehr oder weniger auf der Stelle.“

 

 



Außerdem würde ich mir mehr Mut und Zuversicht wünschen, wenn es um neue Technologien geht. Vertrauen wir doch auf den Pioniergeist unserer klugen Köpfe. Denn die chemisch-pharmazeutische Industrie ist forschungsstark und wird entscheidend dazu beitragen, die drängenden Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen: Klimakrise, Mobilitätswende oder demografischer Wandel. So zählt beispielsweise das Innovationsfeld Klima/Umwelt für unsere Unternehmen zum wichtigsten Forschungsgebiet.  

Welchen Einfluss haben Verordnungen und Gesetze auf Innovation? Sind sie eher innovationsfördernd oder eher innovationshemmend?

U. Zimmer: Um unsere Forschungsstärke zu fördern, braucht die chemisch-pharmazeutische Industrie verlässliche politische Rahmenbedingungen, die Erfindergeist und wissenschaftlichen Fortschritt belohnen. Unsere aktuelle Mitglieder­umfrage zeigt doch deutlich: Vor allem die Regulierungswut in Brüssel und Berlin sowie die unzuverlässigen politischen Rahmenbedingungen verunsichern die Unternehmen. Beides bremst Innovationen aus.

 

 

„Die unzuverlässigen politischen Rahmenbedingungen
verunsichern die Unternehmen.“


 



Hier ist die Bundesregierung gefragt: Sie muss handeln, damit Produkte schneller auf den Markt kommen. Dazu müssen beispielsweise Reallabore praxisnah realisiert werden können. Deutschland muss auf Technologiefreiheit setzen, ideologische Scheuklappen dürfen den Fortschritt nicht verhindern.

Durch die von der EU-Kommission veröffentlichte Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit – CSS – kommen große Veränderungen auf die Chemiebranche und die Anwender von Chemikalien zu. Wie bewertet die Branche die Vorschläge?

U. Zimmer: Für die Chemiebranche sind Stabilität, Planungssicherheit und Umsetzbarkeit im Chemikalienrecht grade in der aktuellen Situation von besonderer Bedeutung. Wichtig ist vor allem, dass die Risikobewertung und damit die sichere Verwendung die Grundlage für Entscheidungen bleibt. Statt pauschale Verbote durch breit angelegte Beschränkungsverfahren wie das zur Stoffgruppe der per- und polyfluorierten Alkylverbindungen – PFAS – zu forcieren, sind differenzierte Bewertungs- und Regulierungsansätze notwendig. Entscheidend ist aus unserer Sicht auch, dass die Bedürfnisse mittelständischer Unternehmen berücksichtigt werden.

Die Überregulierung und langwierige Genehmigungsverfahren werden von den Unternehmen als erhebliche Standortnachteile betrachtet. Wie wirkt sich das auf die so dringend benötigten Technologieinnovationen im Bereich Umwelt- und Klimaschutz aus, bei denen wir doch weltweit führend sein wollen?

U. Zimmer: Neue Technologien und Innovationen müssen zügig erprobt, aufskaliert und nach erfolgreicher Erprobungsphase in die Serienproduktion am Standort Deutschland gebracht werden. Die komplexen Anforderungen an Genehmigungsverfahren haben in den letzten Jahren auch Forschungsprojekte zunehmend erschwert. Dabei brauchen wir gerade mit Blick auf die Transformation zur Klimaneutralität mehr denn je schnelle, effiziente Genehmigungsprozesse mit guter Planbarkeit und interaktiver Umsetzung an der Schnittstelle zwischen Behörden und Unternehmen – gerade auch im Forschungsbereich.

 

 

„Ideologische Scheuklappen
dürfen den Fortschritt nicht verhindern.“

 


Sonst kommt die Transformation nicht voran, denn sie betrifft nicht nur den Aufbau von Windanlagen, Stromtrassen und Solarparks. Auch viele Industrieanlagen müssen modernisiert oder umgerüstet werden. Technologien und Materialien für die nötigen Innovationen müssen erst entwickelt werden. Gleichzeitig kommen aus Berlin und Brüssel immer mehr Initiativen, die in letzter Konsequenz den Materialbaukasten einschränken. Das gilt zum Beispiel für das Konzept „Safe and Sustainable by Design“: Die EU will ein Werkzeug generieren, um nachhaltige Innovationen zu fördern. Ein guter Ansatz. Aber in der Praxis befürchten wir Denkverbote für unsere Forschenden. So sollen beispielsweise Stoffe mit theoretisch hoher Reaktivität per se als nicht nachhaltig eingestuft werden. Dazu gehören zum Beispiel Stoffe, die als Katalysatoren wirken. Auch das Lithium für die Batterien der E-Mobilität fiele darunter.

Und trotz Standortproblemen, bin ich fest davon überzeugt: Unsere Unternehmen haben die Widerstands- und Innovationskraft, auch in einem schwierigen Umfeld zu bestehen. Wir können Krise und wollen die Zukunft meistern.

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ZUR PERSON
Ulrike Zimmer ist seit Januar 2023 Bereichsleiterin Wissenschaft, Technik und Umwelt sowie Geschäftsführerin des Fonds der Chemischen Industrie beim Verband der Chemischen Industrie (VCI). Die staatlich geprüfte Lebensmittelchemikerin begann ihre Berufslaufbahn 2002 als Referentin Schnellwarnsysteme und Krisenmanagement beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit Bonn. 2005 wechselte sie als Referentin Produktsicherheit zum VCI, wo sie ab 2016 auch Geschäftsführerin der Fachvereinigung Lebensmittelzusatzstoffe war.

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