New Business Development im (Klima-)Wandel
Wo liegt die Zukunft der chemischen Industrie?
Das Geschäft läuft. Ja, es brummt sogar. Der Rohstoff Öl ist billig und wird uns in den nächsten 165 Jahren weder ausgehen noch so teuer werden, dass wir uns jetzt schon ernsthaft um Alternativen kümmern müssten. Die Menschheit wächst und die Nachfrage nach Farben, Additiven, Pestiziden, Herbiziden, Dünger sowie Kunst-, Treib- und Wirkstoffen wächst mit ihr. Ein Traum für Unternehmer und Shareholder. Und doch bleibt ein ungutes Gefühl zurück. Irgendwie spüren wir, spätestens wenn wir die Werkstore unserer Unternehmen hinter uns gelassen haben, dass etwas nicht stimmt.
Die Wälder um uns herum vertrocknen, die Sommer sind so heiß wie noch nie, und der Schnee, der diesen Winter fiel, wurde zur Sensation. Als Bürger wissen wir auf eine diffuse Art, dass es so nicht weiter gehen kann. Dass die Erde wohl nicht mehr von dem aufnehmen kann, was wir als Abfall in Meere, Flüsse, Landschaft und Atmosphäre entlassen. Auf eine diffuse Art haben wir längst verstanden, was die meisten Ökonomen immer noch vehement negieren: mehr Wachstum, mehr Stoffstrom wird wohl nicht gehen.
Chancen für die chemische Industrie
Für die chemische Industrie birgt diese Situation große Chancen. Als Schlüsselindustrie, die an mehr als 90 % aller Stoffströme indirekt oder direkt beteiligt ist, hat sie die Chance, umweltverträgliche und recyclebare Stoffe zu entwickeln, Altstoffe in Rohstoffquellen zu verwandeln oder Energiespeicher zu entwickeln, die ein Schlüssel zur Versorgung mit alternativen Energiequellen sind. Sie kann damit zum großen Gewinner einer veränderten Wirtschaft werden.
Risiko: Sudden Regulatory Death
Als größtes Risiko kann der Sudden Regulatory Death (SRD) gesehen werden. Wie bereits in anderen Industriezweigen zu beobachten ist, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Gesellschaft und Gesetzgeber sich der chemischen Industrie emotional aufgeladen zuwenden und mit steigenden Außentemperaturen und zunehmenden Naturkatastrophen verstärkt radikalere Regularien implementieren. Dies ist kein Szenario, das mit „CO2-Neutralität bis 2050“ zu bekämpfen ist, bedenkt man, dass uns laut Deutschem Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) noch ca. sieben Jahre (2028) bleiben, bis unser (weltweites) CO2-Kontingent, das den Temperaturanstieg unterhalb von 1,5 °C hält, aufgebraucht ist. Die Zeit wird knapp – sehr schnell.
Stärken der Industrie
Dabei besitzt die Industrie erhebliche Stärken. Sie besitzt Prozess-Know-how, eigene Wissenschaftler und Forschungskooperationen und Erfahrung mit dem Auf-, Um- und Neubau von Großanlagen und produzierenden Unternehmen.
Mangel an Veränderungswillen als Schwäche
Als Schwäche könnte sich der mangelnde Wille zur Veränderung herausstellen. „Wir verbrauchen doch nur 8 % des weltweiten Ölverberbrauchs“, „wir werden doch immer effizienter“, „ohne uns würde das Leben in vielerlei Hinsicht wesentlich unbequemer werden“ etc. Das ist alles richtig und doch ist es grundlegend falsch zu glauben, man könne sich als Unternehmen aus diesem Wandel, der alle Regionen und alle Menschen der Welt erfasst hat, raushalten.
Erstmals in der Geschichte der Industrialisierung wird der Markt nicht von Nachfrage und Angebot getrieben, sondern von der Erkenntnis, dass die Welt „voll“ ist und unseren Abfall nicht mehr aufnehmen kann. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass physikalisches oder stoffstromgetriebenes Wachstum nicht mehr das primäre Ziel von Gesellschaften oder Unternehmen sein kann. Wir werden uns ebenso daran gewöhnen müssen, dass unsere strategischen Überlegungen zum New Business Development ausschließlich Problemgetrieben sein sollten. Wir werden es uns nicht mehr leisten können eine im Labor entwickelte Lösung in Märkte zu drücken, die dazu kein korrespondierendes Problem hat und/oder die nicht konform mit der Forderung nach Abfallneutralität einschließlich CO2-Emissionen ist. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass es keine einfachen Antworten, wie „Dann machen wir alles circular oder biobased.“ mehr gibt, wenn es darum geht, den CO2-Fußabdruck nicht nur stabil zu halten, sondern radikal zu senken oder darum, persistente und/oder toxische Stoffe durch ihr Gegenteil auszutauschen oder wegzulassen. Manches Produkt wird es vielleicht auch ersatzlos nicht mehr geben.
Fazit
New Business muss in Zukunft „von hinten“ gedacht werden. Wie in einer Retrosynthese wird das Problem in seine Einzelteile und Eigenschaften zerlegt, bis man die Eigenschaften der Lösung vor sich hat. Erst dann geht es in die Entwicklung. Dabei stehen einige Eigenschaften grundsätzlich fest. Der CO2-Fußabdruck des neuen Produkts muss entlang seiner gesamten Lieferkette, von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung bekannt sein.
Dabei darf in Zukunft nicht mehr vernachlässigt werden, dass Rohstoffe bei ihrer Gewinnung z.B. Fläche, Wasser und Atmosphäre verbrauchen, ganz unabhängig davon, ob sie bio- oder ölbasiert sind. Dass Sie teilweise viele tausend Kilometer um die Erde reisen, bevor sie verarbeitet werden und dass sie am Ende ihres Lebenszyklus nicht einfach auf einer Müllhalde, in der Landschaft oder einer Verbrennungsanlage landen, ohne, dass das zu ihrem CO2-Fußabdruck hinzuzurechnen wäre. Zusätzlich müssen bei der ökonomischen Betrachtung einer neuen Idee nicht nur Rohstoff- und Produktionskosten, sondern auch Folge- und Entsorgungskosten miteingerechnet werden, auch wenn diese möglicherweise noch nicht eingepreist werden müssen. New Business Development entwickelt sich also aus der Nische zur Grundlage des strategischen Managements.
Autor
ZUR PERSON
Stephan Haubold ist Studiendekan für Wirtschaftschemie und MINTrepreneurship der Hochschule Fresenius in Idstein (HSF). Zudem hat er die wissenschaftliche Leitung des Competence Centers for Entrepreneurship Frankfurt Rhein/Main der HSF inne. Der promovierte Chemiker wurde im Dezember 2018 zum Professor im Fachbereich Chemie und Biologie der HSF berufen. Haubold entwickelte bereits neue Produkte zur Marktreife und führte sie ein, gründete ein Unternehmen im Bereich der Nanomaterialien, die Unternehmensberatung SDH-Consult und übernahm eine Agentur für medizinische Fachkommunikation mittels Management Buy Out.