Digitalisierung verändert Geschäftsmodelle in der Chemie
Online-Plattformen bietet Chemieunternehmen neue Marktchancen, stellen sie aber auch vor Herausforderungen
Die Veränderungen, die durch digitale Plattformen ermöglicht werden, bieten enorme Chancen für die chemische und pharmazeutische Industrie. Wachstumspotenziale von Plattform-Geschäftsmodellen erfolgreich zu nutzen, erfordert jedoch ein strategisches Umdenken in der Branche.
Digitale Plattformen, die Transaktionen zwischen Nutzern auf einfache und effiziente Weise ermöglichen, sind fester Bestandteil unseres heutigen Wirtschaftslebens. Anbieter von Plattform-Geschäftsmodellen wie Amazon und Facebook dominieren nicht nur die Liste der Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung, sondern zählen wie Grubhub und LendingTree auch zu den am schnellsten wachsenden Unternehmen weltweit.
Auch in der chemischen und pharmazeutischen Industrie steht das Thema Plattform-Geschäftsmodell mittlerweile weit oben auf der Agenda. BASF hat mit der Online-Plattform Maglis bspw. ein neues Geschäftsmodell entwickelt, das Daten, Technologien und landwirtschaftlicher Betriebe verbindet, um Landwirten dabei zu helfen, bessere Entscheidungen bei der Bewirtschaftung ihrer Flächen zu treffen. Ein Beispiel aus der C4-Chemie ist die Plattform C4Connect von Evonik Industries. Auf einer dort integrierten Bieterplattform können Nutzer Angebote für Mengen abgeben und bekommen mehr Transparenz über Verfügbarkeiten. Digitale Plattformen können auch bei der Kommerzialisierung neuer Technologien Anwendung finden. In der pharmazeutischen Industrie können mit Hilfe künstlicher Intelligenz automatisch synthetisierte Arzneistoffe auf Plattformen angeboten werden – eine Methode an der Start-ups wie DeepMatter arbeiten. Denkbar ist auch, dass auf Plattformen statt Arzneistoffe nur die Chemputer Codes, also das Rezept nach dem intelligente Maschinen ein Molekül synthetisieren, gehandelt werden.
Den Chancen neuer digitalen Plattformen stehen allerdings eine Reihe strategischer Herausforderungen gegenüber. Unsere Analyse von Plattform-Geschäftsmodellen und Interviews mit Führungskräften der chemischen und pharmazeutischen Industrie weisen auf drei Bereiche hin, die beim Aufbau digitaler Plattform-Geschäftsmodelle beachtet werden sollten.
Transformation: Vom Produkt zur Plattform
„Die Art und Weise wie Plattformen
Wertschöpfung betreiben,
unterscheidet sich vom klassischen
Chemie- und Pharmageschäft.“
Plattformen ermöglichen und unterstützen Interaktionen zwischen Plattform-Nutzern. Ein Plattform-Geschäftsmodell beschreibt daher, wie der Plattform-Betreiber Transaktionen auf der Plattform und Beziehungen zu Anbietern komplementärer Produkte und Services organisiert. Die Wertschöpfung basiert auf marktähnlichen Austauschbeziehungen. Beispielsweise verbindet die Plattform Tmall Händler aus der ganzen Welt mit Konsumenten in China, Hongkong, Macau und Taiwan. Die Art und Weise wie Plattformen Wertschöpfung betreiben, unterscheidet sich also vom klassischen Chemie- und Pharmageschäft. Statt produktzentrierten Ansätzen sind nutzenorientierte Ansätze gefragt, bei denen die Vermittlung von Transaktionen im Mittelpunkt steht.
Unsere Untersuchungen zeigen jedoch, dass Chemie- und Pharmaunternehmen dieses Umdenken teils noch recht schwerfällt. Um aus etablierten Denkmustern auszubrechen und neue Arten der Wertschöpfung zu entdecken, sollten sie sich daher zunächst eingehend mit der Funktionsweise etablierter Plattformen befassen. Als Ausgangspunkt der Analyse eines etablierten Plattform-Geschäftsmodells helfen drei Fragen: Welche Aktivitäten werden ausgeführt, um eine Transaktion erfolgreich abzuschließen? Wie werden Nutzer miteinander verknüpft? Welche externen Partner sind an der Wertschöpfung beteiligt?
Die systematische Analyse von bestehenden Plattformen ist auch deshalb wichtig, weil die Digitalisierung weder Industrie- noch Landesgrenzen kennt. Da das Grundprinzip von digitalen Plattformen oft von Branche zu Branche transferiert werden kann (Uber ist bspw. nicht nur im Taxi-Geschäft, sondern mit Uber Eats auch in der Gastronomiebranche aktiv) und der Austausch auf Plattformen häufig standortunabhängig ist, droht der chemischen und pharmazeutischen Industrie Wettbewerb von branchenfremden Plattformbetreibern. Daher sollte außerhalb der eigenen „Komfortzone“ nach möglichen Wettbewerbern Ausschau gehalten werden.
Wachstum: Wettbewerbsdynamik beachten
Digitale Plattformen entwickeln sich mit sehr hohem Tempo: Neue Applikationen werden hinzugefügt, Transaktionsmechanismen weiterentwickelt und komplementäre Angebote integriert. Die Geschäftsmodelle von Plattformanbietern wie Alibaba und Tencent entwickeln sich nicht in Monaten oder Jahren, sondern Tagen oder Wochen weiter. Die rasche Entwicklung ist dabei auch vom harten Wettbewerb konkurrierender Plattformen getrieben. Diese extrem hohe Wettbewerbsdynamik ist Chemie- und Pharmaunternehmen oft noch fremd. Um sich an diese Dynamik anzupassen, können Kooperationen mit Technologieunternehmen oder Akquisitionen helfen. Diese bieten Chemie- und Pharmaunternehmen die Möglichkeit von „Digital Natives“ zu lernen und bspw. Managementprozesse und -strukturen an die Wettbewerbsdynamik digitaler Plattformen anzupassen.
So hat Bayer im Silicon Valley sein Life Science iHUB eingerichtet, in dem Tech Start-ups, Universitäten und andere Partner kooperieren, um gemeinsam neue digitale Plattformen zu entwickeln. Im Agrarsektor hat DuPont im Jahr 2017 den Software- und Data-Analytics-Anbieter Granular gekauft, der Erfahrung im Management digitaler Plattformen hat. Solche Methoden helfen Chemie- und Pharmaunternehmen von der Organisationsweise und den Wettbewerbsstrategien der Technologieunternehmen zu lernen.
„Imitation ist fester Bestandteil
des Plattform-Wettbewerbs.“
Ein weiterer Aspekt, der einen strategischen Wandel in der Branche erfordert, ist Imitation als kritischen Baustein im Wachstum von Plattform-Geschäftsmodellen zu verstehen. Anders als bei Produktimitation, ist das Kopieren von Elementen eines konkurrierenden Plattform-Geschäftsmodells nicht illegal. Imitation ist vielmehr fester Bestandteil des Plattform-Wettbewerbs. Daher sollten Chemie- und Pharmaunternehmen analytische Kompetenzen und die Fähigkeit, konkurrierende Plattformen systematisch zu beobachten aufbauen. Einige der von uns untersuchten Technologie-Unternehmen nutzen z. B. fortgeschrittene Analysesysteme, um Plattformen von Wettbewerbern zu beobachten. Werden von einem Wettbewerber erfolgreich neue Features eingeführt, alarmieren solche Systeme automatisch das Top-Management, welches zügig die Entscheidung zur Imitation treffen kann. Im Kontrast dazu hatte nicht ein einziges der von uns befragten Chemie- und Pharmaunternehmen ein solches System implementiert.
Management: Gegenwart und Zukunft balancieren
Eine weitere Herausforderung liegt darin, die Balance zwischen der digitalen Zukunft und der analogen Gegenwart zu halten. Ein von uns untersuchter Chemieparkbetreiber entwickelt bspw. ein neues digitales Geschäftsmodell auf Basis von Predictive Maintenance, bei der Zustandsdaten von Anlagen in Echtzeit gewonnen werden, um diese proaktiv zu warten. Während diese Plattform aufgebaut und global – also über die physischen Grenzen des Chemieparks hinaus – angeboten wird, werden weiter Investitionen in das klassische Standortgeschäft getätigt. Existierende, nicht-digitale Angebote wie Umweltschutz sind weiter wichtig, werden zukünftig aber eher ergänzende Leistungen, statt Kerngeschäft sein. Im Rahmen der Neupositionierung als IT-Service-Provider, der Kunden, Daten und Technologien auf einer Plattform vernetzt, plant der Chemieparkbetreiber seine existierenden Angebote zu nutzen um die Attraktivität der Plattform zu erhöhen, denn der Wert der Plattform steigt mit der Zahl der Nutzer. Bestehende Leistungen werden als komplementäre Produkte und Services weiter genutzt, allerdings mit dem Ziel Nutzer zu motivieren die Plattform stärker zu nutzen.
Diese Integration existierender Produkte und Leistungen in neue, digitale Plattform-Geschäftsmodelle zu managen, wird eine wichtige Aufgabe von Führungskräften in Chemie- und Pharmaunternehmen werden. Hier sollte das Management auf klare Kommunikation, strategische Wandlungsfähigkeit und Agilität setzen.
Zur Person
Stephan von Delft studierte Wirtschaftschemie an der Universität Münster und promovierte dort im Jahr 2014. Nach einem Postdoc an der Universität Amsterdam wechselte er an die Universität Glasgow, wo er aktuell als Senior Lecturer forscht und lehrt. Seine Gruppe beschäftigt sich mit Design und Wachstum von Geschäftsmodellen.
Zur Person
Gijs van der Veen studiert aktuell im Master Industrial Engineering & Management mit Fachrichtung Chemieingenieurwesen an der Universität Groningen. Im Jahr 2018 untersuchte er im Rahmen eines Forschungsaufenthalts bei Stephan von Delft Plattform-Geschäftsmodelle von Chemieparkbetreibern.