Der Chemie-Quotient
Neue Maßzahl veranschaulicht die Bedeutung der Chemieindustrie in verschiedenen EU-Ländern
In welchen Ländern der EU ist die Chemieindustrie von besonderer Bedeutung, in welchen ist sie weniger wichtig? Und wie hat sich dies in den letzten Jahren geändert? Dies sind interessante Fragen, für deren Beantwortung eine neue Maßzahl herangezogen werden kann: der Chemie-Quotient oder Chemical Quotient, kurz: CQ.
Der europäische Chemiebranchenverband CEFIC veröffentlicht jährlich den Marktanteil verschiedener Länder am Weltchemiemarkt. Dies ist sicherlich eine relevante Zahl, die aber nur bedingt dazu geeignet ist, die Bedeutung der Chemieindustrie in verschiedenen Ländern zu vergleichen. Ein kleines Land mit hoher Konzentration von Chemieunternehmen hat möglicherweise einen deutlich kleineren Anteil am globalen Chemiemarkt als ein größeres Land mit vergleichsweise kleiner chemischer Industrie. Benötigt wird also ein Parameter, der den Einfluss des Bruttoinlandsprodukts eliminiert.
Definition des CQ
In diesem Beitrag wird daher ein neuer Parameter eingeführt: der Chemie-Quotient (CQ). Dieser vergleicht den globalen Anteil eines Landes am Chemiemarkt mit seinem Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt. Definiert ist der CQ eines Landes damit wie folgt:
CQ = (Anteil am globalen Chemiemarkt)/(Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt)
Ein CQ größer als 1 bedeutet daher, dass der Chemiemarkt eines Landes eine höhere Bedeutung hat als auf Basis der globalen Wertschöpfung anzunehmen. Analog bedeutet ein CQ kleiner als 1, dass der Chemiemarkt des Landes kleiner ist als der Anteil des Landes an der globalen (nominalen) Wertschöpfung. Oder noch etwas vereinfacht: Ein CQ oberhalb von 1 bedeutet eine global überdurchschnittliche Chemieintensität, der Chemiemarkt im entsprechenden Land ist also im Vergleich zu den anderen Wirtschaftssektoren relativ groß.
Chemieintensität einer Volkswirtschaft
Nach Einführung dieses Parameters lässt sich die quantitative Entwicklung der Chemieindustrie in einem Land analytisch in zwei separate Komponenten zerlegen. Zum einen führt jede Änderung des Bruttoinlandsprodukts zunächst zu einer proportionalen Änderung des Chemiemarktes. Daneben kann sich aber auch der das Verhältnis des Chemiemarktes zur Gesamtwertschöpfung ändern – die Chemieintensität der Wirtschaft steigt oder sinkt. Letztere Komponente wird durch den Chemie-Quotienten erfasst.
Wie sieht nun der Chemie-Quotient für die wichtigsten EU-Länder aus? Abb. 1 zeigt die Werte für die 7 wichtigsten Chemieproduzenten in der EU. Dies sind die Länder, die einen Anteil von mindestens einem Prozent am globalen Chemiemarkt halten und zusammen für etwa 84% der Chemieproduktion der EU verantwortlich sind (das nächstgrößte Land, Polen, verfügt nur über einen Weltmarktanteil von etwa 0.5%).
Deutlich wird, wie unterschiedlich die Bedeutung der Chemieindustrie in den verschiedenen EU-Ländern ist. Während in Belgien und den Niederlanden die Chemieindustrie im Vergleich zum globalen Durchschnitt (CQ = 1) überproportional präsent ist, liegt die Bedeutung der Chemieindustrie in Großbritannien nur etwa bei einem Drittel des globalen Durchschnitts. Deutschland liegt fast beim globalen Durchschnittswert von 1 und damit bereits deutlich über dem EU-Durchschnitt von etwa 0,7.
Praktische Auswirkungen für Chemieunternehmen
Welche Bedeutung hat ein hoher oder niedriger CQ für Chemieunternehmen im jeweiligen Land? Der CQ beinhaltet auch eine Aussage über die Qualität der chemischen Infrastruktur in einem Land (bei einem gegebenen Level des Bruttoinlandsprodukts). Damit steht der CQ u.a. in Beziehung zu der Zahl entsprechend qualifizierter Arbeitnehmer. Auch die Zahl der Zulieferer und Dienstleister der chemischen Industrie (z.B. in den Bereichen Equipment, Abwasserbehandlung, Logistik, Distribution) sollte bei einem höheren CQ höher liegen. Ein höherer CQ sollte sich aber auch in einer positiveren Haltung der Politik gegenüber der Chemieindustrie widerspiegeln, da diese in einem solchen Fall eine höhere Anzahl von Wählern (z.B. als Arbeitnehmer) repräsentiert. Insofern hat der Chemie-Quotient durchaus praktische Auswirkungen für Chemieunternehmen.
Situation in Europa
Der Unterschied zwischen dem Anteil am globalen Chemiemarkt und dem CQ soll an einem Beispiel noch etwas eingehender verdeutlicht werden. Im Jahr 2013 war der Chemiemarkt Italiens und der Niederlande mit 50,8 Bio. EUR nahezu von identischer Größe. Der CQ beider Länder ist allerdings deutlich unterschiedlich, mit einem Wert von 1,4 für die Niederlande und 0,6 für Italien. Die Chemieindustrie hat also für die Niederlande eine relativ höhere Bedeutung als für Italien. Und in der Tat zeigt ein Vergleich der beiden Chemiestandorte, dass die Chemieproduktion in den Niederlanden von einigen aus dem höheren CQ resultierenden Vorteilen profitiert. Diese sind sowohl quantitativer Natur (z.B. niedrigere Logistikkosten) als auch qualitativer Natur (z.B. größere Nähe zu anderen Chemieunternehmen als Kooperationspartner, größere Auswahl an qualifizierten Arbeitskräften etc.).
Der CQ aller europäischen Länder ist in den letzten Jahren deutlich gesunken, wie Abb. 2 zeigt. Allerdings ist dieser Effekt nicht für alle Länder gleichermaßen stark ausgeprägt. Dies zeigt der Vergleich zwischen dem CQ im Jahr 2000 und im Jahr 2013 für die betrachteten Länder (Abb. 3). Bei einem unveränderten CQ ergäbe sich damit ein Wert von 100%.
Während sich die Chemieindustrie in den Niederlanden relativ gut behauptet hat (Absinken des CQ um nur 18%), ist der Effekt in Großbritannien deutlich stärker. Dort hat die Chemieindustrie im Beobachtungszeitraum von 2000 bis 2013 in der Tat sehr stark an Bedeutung verloren.
Globale Perspektive
Definitionsgemäß hat der globale Chemie-Quotient den Wert 1. Wie oben beschrieben hat der CQ der EU jedoch in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Wer hat entsprechend gewonnen?
Die naheliegende Vermutung einer Verlagerung der Chemieindustrie nach Asien und insbesondere China ist richtig. Dies zeigen schon die CEFIC-Daten. War im Jahr 2000 der Anteil der EU am globalen Chemiemarkt noch 29,0%, so waren es im Jahre 2013 nur noch 16,7%. Gleichzeitig stieg der Anteil Chinas von 7,3% auf 33,2%, also noch deutlich starker als die von der EU verlorenen 12,3% (Nordamerika verlor in diesem Zeitraum in etwa ähnlichem Umfang Marktanteil an China). Selbstverständlich zeigt sich dieser Effekt auch im Chemie-Quotienten (Abb. 4).
Der steigende CQ Chinas verdeutlicht, dass das Wachstum des Chemiemarktes in China nicht allein auf das steigende Bruttoinlandsprodukt zurückzuführen ist, da in diesem Fall der CQ konstant bliebe. Vielmehr ist die Chemieindustrie in China auch relativ zur Wertschöpfung des Landes gewachsen, während die Chemieindustrie der EU relativ zur Wertschöpfung der Region gesunken ist. Wirklich überraschend ist dies nicht, sondern eine Folge der allgemeinen globalen Verlagerung der industriellen Produktion nach China.
Die Entwicklung der Trendlinie des Chemie-Quotienten für die EU zeigt auch, dass die Abnahme der Bedeutung der Chemieindustrie in Europa vermutlich noch nicht beendet ist. Die Trendlinie zeigt jedenfalls noch keine Anzeichen dafür, einen konstanten Wert erreicht zu haben. Deutsche und europäische Chemieunternehmen, die ihre globale Bedeutung behalten wollen, werden sich also weiterhin auf ausländische und insbesondere asiatische Märkte konzentrieren müssen.
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