Chemieforschung im internationalen Wettbewerb
Merck-Forscher Dr. Thomas Geelhaar plädiert für steuerliche Forschungsförderung
Mit der Inbetriebnahme eines neuen Forschungszentrums setzte das Pharma- und Chemieunternehmen Merck nach eigenen Aussagen ein Ausrufezeichen hinter die chemische Forschung an seinem Stammsitz in Darmstadt. Das im September eröffnete Material Research Center soll zum Kristallisationspunkt von Forschung, Wissen und Innovationen innerhalb der Chemieforschung bei Merck werden. In der Chemieforschung arbeitet Merck an Lösungen für Zukunftsfragen wie Energie, Kommunikation, Mobilität und Gesundheit. Dr. Michael Reubold sprach darüber und über die Rahmenbedingungen für Chemieforschung in Deutschland mit Dr. Thomas Geelhaar, Chief Technology Officer des Unternehmensbereichs Chemie der Merck KGaA.
CHEManager: Herr Dr. Geelhaar, welchen Stellenwert hat die Chemieforschung im Pharma-und-Chemie-Mischkonzern Merck?
Dr. T. Geelhaar: Wir sind als diversifiziertes Unternehmen in beiden Bereichen aktiv: Im Bereich Pharma in den Sparten Merck Serono und Consumer Health und in der Chemie mit Performance Materials und der neuen Sparte Merck Millipore. Durch die Akquisition von Millipore haben wir die Chemie gestärkt. Vor der Akquisition hatten wir etwa 140 Mio. € im Jahr in die Chemieforschung investiert. Das sind über 7 % vom damaligen Umsatz von etwa 1,9 Mrd. €. Mit Merck Millipore zusammen werden wir dieses Jahr etwa 240 Mio. € in die F&E im Unternehmensbereich Chemie investieren, damit wird die Quote weiter deutlich über 7 % liegen. Und das ist ein starkes Bekenntnis für die beiden Chemiebereiche Life Sciences und Hightech-Materialien, in denen wir auch künftig eine wesentliche Rolle spielen wollen.
Der Name des neuen Forschungszentrums für die Chemie - Material Research Center - suggeriert, dass dort vor allem neue Materialien entwickelt werden sollen. Was versteht Merck unter dem Begriff Materials?
Dr. T. Geelhaar: Unter Materialforschung verstehen wir die Entwicklung von Hightech-Materialien für Anwendungen in den Bereichen Display, Kommunikation, Beleuchtung und Energie, aber auch im Umfeld von Life Science beim Thema Mikrobiologie. Da wir uns hier in der Anwendungstechnik interdisziplinär zwischen Chemie/Physik auf der einen und Biologie/Medizin auf der anderen Seite bewegen, ist für uns dieser Begriff Materialforschung der zentrale Ansatzpunkt gewesen, um deutlich zu machen, dass es uns um die Wertschöpfung aus der Forschung geht, und die findet letztlich mit den von uns entwickelten Materialien und Formulierungen bei unseren Kunden in den unterschiedlichsten Anwendungen statt.
Deshalb auch die deutlich über dem Branchendurchschnitt liegende F&E-Quote?
Dr. T. Geelhaar: Ja, wir investieren deshalb so viel in diese neuen Themen, weil wir verstehen wollen, wo zukünftige Anwendungen und mögliche Märkte für unsere Forschungsergebnisse sind. Wenn wir das nicht betrachten würden, wären wir nur ein Chemielieferant, so sind wir Materialhersteller und -formulierer, der mit höherwertigen Materialien mit einer Charakterisierung in der Anwendung den Kunden eine höhere Wertschöpfung ermöglicht. Das erfordert aufgrund der dafür notwendigen Ausstattung z.B. mit Reinräumen und Messtechnik wesentlich höhere Investitionen.
Kommt es auch auf Geschwindigkeit - Time-to-market - an?
Dr. T. Geelhaar: Natürlich! Denken Sie an die kurzen Innovationszyklen im Hightech-Bereich. Unsere Flüssigkristalle oder Pigmente gehen z.B. in Anwendungen, wo neue Gerätegenerationen zwei- oder gar dreimal im Jahr auf den Markt gebracht werden, weil es immer noch ein bisschen besser, schneller oder energieeffizienter geht. Und jedes Mal müssen wir mit einer Neuqualifikation unserer Produkte dabei sein. Wir sehen uns nicht nur als Innovationsmotor oder Katalysator neuer Anwendungen, sondern als der Partner unserer Kunden, der es ihnen ermöglicht, Innovationen in einer Geschwindigkeit in den Markt zu bringen, die heute erforderlich sind.
Sie haben bereits einige Beispiele genannt. Welches sind denn die wichtigsten Anwendungen, für die Sie forschen?
Dr. T. Geelhaar: Wir haben im Materialforschungszentrum fünf Schwerpunkte. Da sind zunächst unsere beiden großen Themen Flüssigkristalle und OLED. Das dritte sind Materialien für Leuchtdioden, also LED-Materialien. Viertens beschäftigen wir uns mit der Forschung auf dem Gebiet mobiler Energie und fünftens mit mikrobiologischen Fragestellungen.
Woran orientieren sich die Themen, die Sie bearbeiten?
Dr. T. Geelhaar: Wir betrachten wie viele andere Unternehmen und wie die Bundesregierung im Rahmen ihrer Hightech-Strategie die Megatrends. Und die wichtigsten Megatrends für uns sind die oben angesprochenen fünf Gebiete: Kommunikation, Energieeffizienz, Mobilität und auch die Themen Ernährung und Gesundheit.
Einige Forscher sind aus anderen Standorten nach Darmstadt gezogen. Was versprechen Sie sich von der räumlichen Nähe?
Dr. T. Geelhaar: Wir haben insgesamt etwa 100 Mitarbeiter aus den beiden Forschungsbereichen in Frankfurt und Mainz, deren Hauptaktivität die OLED-Forschung ist, hier nach Darmstadt geholt,. Die Standorte in Frankfurt und Mainz hatten wir 2005 durch die Akquisitionen von Covion und eines Projekts von Schott erworben. Nun haben wir diese OLED-Forscher mit den Kollegen der LED- und der Flüssigkristallforschung zusammengeführt, um so eine gemeinsame Plattform für die Entwicklung der nächsten Materialgeneration auf diesen Gebieten zu bilden.
Durch die Zusammenführung von über 300 Forschern unter einem Dach haben wir Rahmenbedingungen geschaffen, die einen Austausch bei einer Vielzahl von Themen, auch Zukunftsthemen, über Abteilungsgrenzen möglich machen. Denn neue Aufgabenstellungen können gerade an den Schnittstellen zwischen Life Science, Pharma und Materialwissenschaften entstehen.
Ihre Absatzmärkte sind global, viele Ihrer Hauptkunden sind in Asien. Wie nah müssen Sie denn mit der Forschung an den Kunden sein?
Dr. T. Geelhaar: Die Anwendungstechnik und die kundenspezifische Produktion von Formulierungen und Mischungen müssen direkt vor Ort beim Kunden sein. Vor der Akquisition von Millipore waren etwa drei Viertel der F&E-Mitarbeiter in der Zentrale am Standort Darmstadt und ein Viertel an anderen Standorten, insbesondere in Asien. Bei den Flüssigkristallen und Pigmenten haben wir schon in den 80er Jahren die Anwendungstechnik und später die Forschung in Japan ausgebaut, dann in den 90er Jahren in Korea und im letzten Jahrzehnt in Taiwan. Und mit diesen Zentren in Japan, Korea und Taiwan sind wir speziell bei Flüssigkristallen mit einer großen Anzahl von Anwendungstechnikern vor Ort. Aber die Grundlagen und die neuen Materialien werden hier in Deutschland entwickelt, weil wir eine ausgezeichnete Kombination von Forschung, Entwicklung, Scale-up und Produktion in Darmstadt haben und auch erhalten wollen.
Mit der Millipore-Akquisition haben Sie Ihre Präsenz in Amerika deutlich gestärkt.
Dr. T. Geelhaar: Ja, mit Millipore haben wir den Bereich Life Sciences, das zweite Standbein im Unternehmensbereich Chemie neben den Performance Materials, signifikant erweitert. In den USA sind eine Vielzahl von Kunden beheimatet, die im Umfeld von Life Sciences sowohl bei Anwendungen im Bereich Bioscience als auch in der biopharmazeutischen Produktion aktiv sind. Millipore hat seinen Hauptsitz an der Ostküste nahe Boston und zwei wichtige Standorte an der Westküste. In Temecula in der Nähe von San Diego und im Umfeld von San Fransisco in Hayward. Das sind die großen Biotech-Zentren in den USA.
Können Sie im Bereich F&E von den neuen Millipore-Kollegen lernen, insbesondere was Forschungskooperationen nach amerikanischem Vorbild angeht?
Dr. T. Geelhaar: Natürlich kann man sich da etwas abschauen. Aber wir sind selbst, auch im Umfeld von Performance Materials, Kooperationen mit Universitäten und Instituten eingegangen und haben uns in Richtung „Open Innovation" orientiert. Wir haben sogenannte Konzeptlabore aufgebaut, z.B. in Boston beim Thema Materialwissenschaften, im Umfeld von Photovoltaik, wo wir in Kooperationen mit der Harvard University und dem MIT zusammenarbeiten. Millipore macht das in einer ähnlichen Form. Aber wir haben das bereits vor drei Jahren in die Wege geleitet und haben damit eine Möglichkeit geschaffen, um durch Kooperationen schneller Know-how aufzubauen.
Wie wird dieses Know-how dann in marktreife Produkte überführt?
Dr. T. Geelhaar: Nach einigen Jahren der Kooperation holen wir das Know-how aus den Konzeptlaboren zurück ins Unternehmen. Wir haben nicht nur in USA Concept Labs, sondern auch hier im Umfeld der Universitäten Darmstadt und Heidelberg. In Heidelberg sind wir Partner in einem Konzept-Labor zum Thema organische Elektronik, das im Umfeld eines Spitzen-Cluster-Wettbewerbs vor zwei Jahren gegründet wurde. In dem Labor sind etwa 50 Mitarbeiter aus verschiedenen Unternehmen tätig, neben Merck u.a. von der BASF, SAP, Heidelberger Druckmaschinen, Roche Diagnostik oder Freudenberg. Und die Universitäten Heidelberg, Mannheim, Karlsruhe und Darmstadt sind akademische Partner.
Das Konzept-Labor in Heidelberg wird mit öffentlichen Mitteln gefördert. Wie beurteilen Sie die Forschungsförderung am Standort Deutschland?
Dr. T. Geelhaar: Wir haben in Deutschland eine Mischung von Fördermaßnahmen. Zum einen die Programmförderung von bestimmten Themen oder Projekten. Ein Beispiel ist die OLED-Forschung, die sehr intensiv im Rahmen der Hightech-Strategie vom BMBF unterstützt wird. Das sind wichtige Maßnahmen, um diese Themen zu vernetzen und anzuschieben. Darüber hinaus haben wir als zweites wichtiges Instrument den Spitzen-Cluster-Wettbewerb, wo man durch Innovationsallianzen versucht, Wertschöpfungsketten aufzubauen. Das ist ein sehr erfolgreiches Instrument. Und ein drittes Instrument neben der Programmförderung und dem Spitzen-Cluster-Wettbewerb ist die Förderung von großen Themen wie der Elektromobilität, bei denen Deutschland zu einem Leitmarkt werden soll.
Der VCI und der BDI fordern vehement auch eine steuerliche Forschungsförderung. Was halten Sie davon?
Dr. T. Geelhaar: Die steuerliche Forschungsförderung, die im Koalitionsvertrag im Januar verankert aber leider bis heute nicht umgesetzt wurde, ist ein ganz wichtiges Instrument im internationalen Wettbewerb. Praktisch alle größeren Länder in Europa um uns herum haben die steuerliche Forschungsförderung eingeführt, und Deutschland ist mehr oder weniger das einzige große Land, das da noch einen Nachholbedarf hat.
Auf der anderen Seite werden wir von anderen Ländern beneidet, weil wir nicht nur die Projektförderung, sondern auch mit BMBF-Mitteln unterstützte Einrichtungen wie Fraunhofer oder andere Forschungsinstitute haben, die in anderen Ländern noch nicht so stark ausgeprägt sind. Nur dass die anderen Länder wie z.B. England jetzt auch nachziehen und das gleiche Modell, das in Deutschland erfolgreich ist, auch einführen wollen. Insofern haben wir bei der steuerlichen Forschungsförderung einen Nachholbedarf.
Sollte man, wie das von Teilen der Koalition diskutiert wird, die steuerliche Forschungsförderung auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen beschränken?
Dr. T. Geelhaar: Nein, die großen Unternehmen stemmen in Deutschland über 80% der gesamten F&E-Leistung. Da wir als Land aufgerufen sind, das Lissabon-Kriterium mit 3% F&E-Quote zu erfüllen, können wir nicht auf die großen Unternehmen verzichten. Und außerdem nehmen wir ja z.B. bei Programmfördermaßnahmen den Mittelstand und Start-ups in solchen Projekten mit. Aus unserer Sicht ist die Forderung klar: Wir brauchen die steuerliche Forschungsförderung, um den Standort Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken, weil dann die Unternehmen sich umgekehrt bereit erklären, diese Vorteile auch verstärkt am Standort Deutschland in zusätzliche F&E-Leistungen zu reinvestieren.
Sie haben das Thema OLED erwähnt, bei dem ganz unterschiedliche Unternehmen in einem Forschungs-Cluster zusammenarbeiten. Muss die Chemieforschung interdisziplinärer werden?
Dr. T. Geelhaar: Das Materialforschungsprogramm hat gezeigt, dass sich die Chemie in der Wertschöpfungskette vernetzen muss, um voranzukommen. Auch beim Thema Elektromobilität sind wir z.B. an einer Lithiumionen-Batterie-Allianz beteiligt und haben gemeinsame Forschungsprojekte mit Partnern in der Wertschöpfungskette, wie den Automobilherstellern, angeschoben. Wir würden uns wünschen, dass wir das nicht nur bei den Themen Energieeffizienz und Mobilität so betreiben würden, sondern dass wir auch bei den beiden anderen großen Megatrends, also Gesundheit/Ernährung und Kommunikation, ähnliche Anstrengungen anschieben könnten. Das ist im Moment in der Diskussion. Wir wollen auf diesen beiden Gebieten Partnerschaften und zusätzliche Allianzen für Innovation bilden.