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Neues Wachstum nachhaltig erschließen

Chemische Industrie muss interdisziplinäre Brücken bauen und durch Innovation glänzen

05.08.2010 -

Die Chemiebranche hat sich von den Folgen des weltweiten Konjunktureinbruchs überraschend schnell erholt. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln seit Ausbruch der Krise vor zwei Jahren grundlegend geändert haben. Dr. Michael Reubold sprach mit Dr. Hanno Brandes, Geschäftsführer und Teilhaber bei Management Engineers, über die Herausforderungen und die Chancen für die chemische Industrie in den nächsten Jahren.

CHEManager: Herr Dr. Brandes, wie beurteilen Sie die aktuelle Situation der chemischen Industrie? Wie weit ist der wirtschaftliche Aufschwung gediehen?

Dr. H. Brandes: Schon ein ganzes Stück. Immerhin geht es bei Produktion und Umsatz bereits seit einem Jahr wieder aufwärts. Die Kapazitätsauslastung hat im Branchendurchschnitt schon fast wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Auch die Erzeugerpreise ziehen wieder an. Noch erfreulicher ist es aber um die Ertragslage bestellt. Viele Unternehmen haben im 1. Halbjahr 2010 ihr bestes Ergebnis seit langem abgeliefert. All dies ist das Resultat harter Anstrengungen: Die Chemie hat wirkungsvoll auf die Krise reagiert, ihre Kosten nachhaltig gesenkt und ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Trotzdem bleiben die Herausforderungen groß.

Sie sehen also Risiken, die den Wirtschaftsaufschwung wieder umkehren könnten?

Dr. H. Brandes: Durchaus, das Risiko von Rückschlägen besteht immer noch. Gerade in manch wichtigem Exportland der Chemie steht der Aufschwung weiterhin auf tönernen Füßen. Denken Sie an die Schuldenkrisen in Europa wie in den USA. Auch die Entwicklung in China muss man fest im Blick halten. Immerhin laufen dort dieses Jahr staatliche Konjunkturprogramme in dreistelliger Euro-Milliardenhöhe aus. Der vermeintlich ungebremste Aufschwung in Asien wird seine Dauerhaftigkeit noch nachweisen müssen.

Mit welchen Instrumenten hat es die chemische Industrie denn geschafft, ihre Kostenbasis zu verbessern und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen?

Dr. H. Brandes: Es wurden Kapazitäten stillgelegt, es ist modernisiert und konsolidiert worden, man hat die Kosten sehr stark flexibilisiert und das Working Capital optimiert. Insofern haben sich die Unternehmen sehr gut auf vage Zeiten nach der Krise vorbereitet. Und man muss ihnen bescheinigen, dass es ein intelligenter Ansatz war. Sonst wären diese guten Ergebnisse, wie sie jetzt erreicht worden sind, nicht möglich gewesen. Aber wie gesagt: Es gilt, wachsam zu bleiben. Daher sollten die Unternehmen weiterhin auf flexible Kostenstrukturen, einen effizienten Kapitaleinsatz sowie nicht zuletzt auf ein umfassendes Risikomanagement im Materialeinkauf und in der Energiebeschaffung bedacht sein.

Warum ist gerade dies so wichtig?

Dr. H. Brandes: Die Märkte und Rahmenbedingungen bleiben extrem volatil. Die Schwankungen der Rohstoff- und Energiepreise wie auch der Wechselkurse sind eine der größten Herausforderungen der nächsten Zeit. Der teilweise drastische Anstieg der Rohstoffpreise im 1. Halbjahr 2010 z.B. beruhte auf sehr optimistischen Konjunkturhoffnungen, vor allem für China. Wenn es von dieser Seite her auch nur kleinere Enttäuschungen gibt, werden wir bei den Rohstoffpreisen vermutlich wieder eine Talfahrt erleben.

Dennoch ruhen künftige Wachstumshoffnungen fast ausschließlich auf den Emerging Markets.

Dr. H. Brandes: Das hat im Langfristtrend ja auch seine Berechtigung. Denn in China, Indien und vielen weiteren Schwellenländern leben mehrere Milliarden Menschen, mit einem fast unvorstellbar großen Nachholbedarf in Sachen Konsum. Wenn hiervon auch nur ein Bruchteil nachfragewirksam wird, eröffnet das für eine global agierende Schlüsselindustrie wie der Chemie enorme Chancen. Natürlich werden die etablierten Industrienationen aus Europa und Nordamerika mit diesem Wachstumstempo nicht Schritt halten können. Im Ergebnis wird sich die Wachstumsschere zwischen den „alten" und den „neuen" Märkten nochmals vergrößern.

Was müssen Unternehmen jetzt tun, um Marktchancen nutzen zu können?

Dr. H. Brandes: Sie sollten konsequent global agieren, denn Globalisierung ist längst keine Frage mehr zum Ankreuzen. Die chemische Industrie hängt an ihren Kundenindustrien und diese Kundenindustrien globalisieren. Also muss die chemische Industrie ihren Kunden folgen. Ich meine, dass hier zumindest die großen Player der Branche grundsätzlich gut aufgestellt sind. In den Wachstumsregionen mit eigenen Produktionsanlagen vertreten zu sein, ist für sie schon fast selbstverständlich. Doch das reicht auf Dauer nicht aus. Nur wer - trotz angebrachter Bedenken bezüglich Intellectual Property - auch „echte" F+E-Aktivitäten vor Ort betreibt, ist wirklich am Puls der Zeit. Das muss weit über ein reines Application Engineering hinausgehen. Wichtig ist, dass die Innovation zunehmend an die Kundenmärkte heranrückt. Dafür müssen Entwicklungskapazitäten im Ausland installiert werden und dafür muss lokal rekrutiert werden. Das ist für die Chemie schon ein relativ neuer Weg.

Ist die Branche denn bereit für Veränderungen?

Dr. H. Brandes: Ja, die Krise hat Spuren hinterlassen - auch in den Köpfen der Manager. Vorsichts- und Nachhaltigkeitsprinzipien gewinnen an Bedeutung. Es wird durchaus die Herausforderung gesehen, sich auf die neuen Gegebenheiten marktgerecht einzustellen. Die Kundenbedürfnisse müssen dabei fortan im Mittelpunkt des Denkens und Handelns stehen - und nicht die Bewertung des eigenen Erfolges an „erzeugten Jahrestonnagen". Auch für die stark auf das B2B-Geschäft fokussierte Chemieindustrie heißt es, ein Verständnis nicht nur für ihre industriellen Kunden, sondern gerade auch für den Endnutzer zu entwickeln, von dem letzten Endes alle Bedürfnisse ausgehen. Das ist ein mentaler Wandel, der vollzogen werden muss.

Sie haben gesagt, die Großunternehmen seien gut aufgestellt, um von der Globalisierung zu profitieren. Aber wie sieht es denn bei den kleinen und mittleren Unternehmen aus?

Dr. H. Brandes: Ich bin der Auffassung, dass auch die mittelgroßen Chemieunternehmen durchaus große Chancen haben, von der Globalisierung zu profitieren, wenn sie sich auf geeignete Segmente konzentrieren und innovativ sind. Der Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit wird nicht so sehr von der Größe der Unternehmen abhängen, sondern eher davon, wie sie ihre individuellen Technologieportfolios mit den weltweiten Megatrends synchronisieren. Wenn sie hier rechtzeitig auf Produkte setzen, die den globalen Trends entsprechen und dabei ihre eigenen Stärken ausfahren, dann sind sie richtig aufgestellt. Das erfordert natürlich mutige unternehmerische Entscheidungen, aber das war in allen Zeiten so.

Und wo sehen Sie diese Megatrends, die der chemischen Industrie globale Wachstumschancen eröffnen?

Dr. H. Brandes: Der demographische Strukturwandel, die Herausforderungen des Klimawandels, der Zwang zu mehr Energieeffizienz, die fortschreitende Urbanisierung in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern, der weltweite Kampf gegen den Hunger - kaum eine Branche kann so sehr von diesen Zukunftstrends profitieren wie die chemische Industrie.

Lassen Sie uns über den Klimaschutz und die Chancen für die Chemieindustrie sprechen.

Dr. H. Brandes: Die Notwendigkeit eines verstärkten Klimaschutzes und die Endlichkeit fossiler Brennstoffe sind für die Branche herausfordernd und chancenreich zugleich. Die chemische Industrie ist in einer Doppelrolle, denn sie ist sowohl Betroffene als auch Beglückte. Betroffen, weil sie einen sehr hohen Energieverbrauch hat und hohe Emissionen verursacht. Daran muss gearbeitet werden. Die Emissionen müssen begrenzt und die Energieeffizienz verbessert werden. Beglückt ist sie, weil sie selbst viele Lösungen und Produkte zum Erreichen von Klima- und Effizienzzielen bereitstellen kann. Und viele Beispiele zeigen, dass sie das auch schon tut.

Ist das Thema umweltfreundliche Mobilität ein solches Beispiel?

Dr. H. Brandes: Absolut! Die chemische Industrie besitzt hier Top-Kompetenzen, z.B. in der Batterietechnik für Elektroautos, bei Leichtbauwerkstoffen, bei Lackierungen und Beschichtungen oder bei Materialien für die Produktion von energiesparenden Reifen. Wer hier schnell marktreife Lösungen für neue Herausforderungen anbieten kann, wird dies langfristig spüren. „Ganz nebenbei" besteht beim Thema umweltfreundliche Mobilität aber auch eine Riesenchance für die Chemie, als innovative, verantwortungsvolle und zukunftsgerichtete Branche ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.

Muss die chemische Industrie künftig enger mit anderen Branchen zusammenarbeiten?

Dr. H. Brandes: Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass wirklich bahnbrechende Innovationen nur realisierbar sind, wenn etablierte Branchengrenzen überwunden werden. Durch die Synchronisation und Verschmelzung von Know-how kann eine neue Qualität entstehen. Gerade die Elektromobilität ist ein fantastisches Beispiel dafür, dass sich Marktchancen keineswegs im Alleingang der Automobilindustrie, sondern nur gemeinsam mit anderen Kernindustrien wie der Chemie, der Elektrotechnik, dem Maschinenbau oder auch der Energieversorgung erschließen lassen. Der isolierte Blick auf die tradierte Chemiewelt reicht nicht mehr aus. Diese Entwicklung muss und wird soweit gehen, dass bisherige Branchengrenzen mehr und mehr verschwimmen und sich aus den beschriebenen Kompetenznetzwerken neue Querschnittsbranchen herausbilden. Ich glaube, gerade in dieser Verflechtung von Branchen werden sich neue Chancen für Deutschland und Europa ergeben.

Das alles lässt vermuten, dass die chemische Industrie, wie wir sie heute kennen, auch in ihrer globalen Aufstellung in einigen Jahren anders aussehen wird. Auf welche Trends müssen Unternehmen reagieren?

Dr. H. Brandes: Ich sehe hier vor allem drei globale Entwicklungen: Im Nahen Osten können durch die Vorwärtsintegration der vorhandenen fossilen Rohstoffbasis moderne Kunststoffe auf World-Scale-Anlagen kostenoptimal hergestellt werden. In China werden große Basischemiekomplexe nach westlichen Maßstäben errichtet. Und in Indien entsteht die Feinchemieproduktion für die Welt, im Grunde die Ausgangsbasis für die pharmazeutische Industrie. Das sind wichtige Veränderungen der Wettbewerbslandschaft, auf die es sich strategisch einzustellen gilt. Insbesondere deutsche Chemieunternehmen müssen sich vor diesem Hintergrund stärker von der Basischemie in die Spezialchemie bewegen, um mehr Wertschöpfung zu bieten und bessere Margen zu erzielen. Wir haben nicht den direkten Zugriff zum Rohstoff, sondern wir müssen uns diesen in der Regel bei anderen beschaffen. Insofern müssen wir durch Innovation und durch Performance-Produkte glänzen. Und dann werden wir auch unter diesen neuen Rahmenbedingungen langfristig erfolgreich sein.