Chemie & Life Sciences

Von Outsourcing bis Pharma 4.0

ISPE diskutiert die Zukunft der Pharmaproduktion

28.04.2015 -

Die Anforderungen an die Produktion von Arzneimitteln sind hoch. Zum einen müssen die Pharmaunternehmen strenge Auflagen bei der Reinheit einhalten. Zum anderen sollen sie sämtliche Prozesse eingehend dokumentieren. Die International Society for Pharmaceutical Engineering (ISPE) ist eine Non-Profit-Organisation mit weltweit rund 20.000 Mitgliedern, die die berufliche Nähe zur pharmazeutischen Produktion, zu den Produktionstechniken und -standards und zu den Regularien verbindet. Thorsten Schüller sprach im Vorfeld der Jahrestagung der ISPE Europe, die Anfang Mai in Frankfurt stattfindet, mit Dr. Thomas Zimmer, Vice President of European Operations der ISPE, über aktuelle Herausforderungen in der Arzneimittelproduktion.

Herr Zimmer, nur wenige haben eine Vorstellung, wie die Produktion von Arzneimitteln abläuft. Können Sie uns verraten, welches die Herausforderungen für die Industrie sind?

T. Zimmer: Lassen Sie mich bei den Menschen beginnen. Ich halte es für wichtig, dass man die Funktion des Ingenieurs in der pharmazeutischen Industrie als strategischen Wert betrachtet. Wir haben in der pharmazeutischen Industrie seit Jahrzehnten einen Trend zum Outsourcing von Ingenieursarbeit. Das hat zur Folge, dass viele Ingenieure oft keine Karrierechancen mehr in der pharmazeutischen Industrie sehen und vielfach in andere Branchen abgewandert sind.

Damit wiederum können extern erbrachte Ingenieurleistungen oft nicht mehr in der Tiefe beurteilt werden, woraus wiederum Risiken für die pharmazeutischen Unternehmen entstanden sind. Immerhin handelt es sich um eine Branche, die mit zahlreichen Vorschriften konfrontiert ist.

Welche?

T. Zimmer: Beispielsweise regulatorische Anforderungen. Die Unternehmen müssen nachweisen, dass jeder Prozess genauso abläuft wie vorgeschrieben und bei der Behörde registriert. Das bedeutet einen erheblichen Aufwand an Dokumentation, kann Produktionsprozesse belasten und verlangsamen.

Die ISPE zeigt anhand von Best-Practice-Beispielen, wie die Unternehmen mit diesen Herausforderungen umgehen können.

Jedes Unternehmen entwickelt also eigene Methoden, um auf regulatorische Anforderungen zu reagieren?

T. Zimmer: Im Grunde ja. Entscheidend in der Produktion ist beispielsweise, dass bestimmte Medikamente keimfrei sind. Dazu muss man steril oder aseptisch produzieren. Aseptische Verfahren stellen sehr hohe Anforderungen. Dabei muss jeder einzelne Produktionsschritt steril ablaufen. Wenn aber zum Beispiel die Luft in einem Produktionsraum nicht regelmäßig ausgetauscht wird, bilden sich „tote Ecken". Dort ist die Gefahr für Kontaminationen durch Keime und Bakterien hoch. Wenn Sie das nicht genau erfassen, werden Sie die Kontamination erst bemerken, wenn es zu spät ist.

Die Anforderung in diesem Fall heißt also: Produziere keimfrei. Die Art und Weise, wie das gemacht wird, ist jedoch vielfach Interpretationssache. Die Experten berichten sich gegenseitig ihre Probleme und diskutieren Lösungsmöglichkeiten.

Haben sich die regulatorischen Anforderungen in den vergangenen Jahren verschärft?

T. Zimmer: Definitiv. Sie verändern sich ständig und werden schärfer. Außerdem ist die Kontrolle viel strikter geworden. Die Behörden haken nach und bestrafen auch, wenn etwas nicht okay ist.

Wie sehen die strikteren Kontrollen konkret aus?

T. Zimmer:
Die Inspektionen sind detaillierter und insgesamt strenger. Ein Inspektor lässt sich sofort die Dokumentation aller Abweichungen in der Produktion zeigen. Er pickt sich zwei, drei Beispiele heraus und arbeitet diese auf. Er überprüft, ob alles durchgängig nachgewiesen worden ist. Wenn ein Fehler passiert ist, fragt er nach, warum ist er passiert und wie wurde er abgestellt. Die Maßnahmen des Produzenten müssen transparent und schlüssig sein. Sie müssen erkennen lassen, dass er verstanden hat, um was es geht, warum der Fehler passiert ist und wie er ihn dauerhaft abstellen will.

Was bedeuten diese intensiveren Inspektionen für die Unternehmen?

T. Zimmer: Trainings- und Dokumentationsaufwand nehmen deutlich zu. Damit steigen auch die Kosten. Dabei stehen die Unternehmen ohnehin unter Kosten- und Budgetdruck.

Wie gehen die Produzenten damit um?

T. Zimmer:
Beispielsweise durch Einsatz der Single Use Technology. Das sind Einmalartikel, die in der Produktion verwendet werden. Dabei handelt es sich nicht nur um einfache Dinge wie Handschuhe, sondern auch um Teile von Maschinen, Pumpen, Abfüllnadeln und ganze Reaktoren.

Auf der einen Seite entsteht dabei eine Menge Abfall. Andererseits ist es ein erheblicher Aufwand, eine Produktionsmaschine oder einen Raum zu reinigen und dies zu dokumentieren. Deswegen benutzt man heute bei bestimmten Produktionsschritten Einmal- und Wegwerfartikel.

Allerdings haben die auch ihre Nachteile. In der Regel sind das Plastikmaterialien. Plastik ist im Gegensatz zu Glas nicht inert und gibt Stoffe ab und nimmt solche auf. Bevor Sie also Plastik mit einem Arzneimittel in Berührung bringen, müssen Sie nachweisen, dass da nichts passiert.

Lässt sich beziffern, welcher Anteil der Gesamtproduktionskosten auf regulatorische Anforderungen entfällt?

T. Zimmer: Wenn wir dafür eine Antwort hätten, wären wir froh. Doch selbst wenn wir es rechnen könnten - was hätten wir damit gewonnen? Die regulatorischen Anforderungen müssen erfüllt werden genauso wie die Produktionskosten im Griff gehalten werden müssen.

Welches sind denn wesentliche Parameter, die Einfluss auf die Kosten haben?

T. Zimmer: An erster Stelle ist dies die Prozessüberwachung, die mit hohen Labor- und Personalkosten verbunden ist. Prozessüberwachung kann nicht irgendjemand machen. Das müssen gut ausgebildete Mitarbeiter sein, denn letztlich dient das der Sicherung der Qualität.

Machen die gestiegenen regulatorischen Anforderungen Medikamente sicherer?

T. Zimmer: Es ist auf jeden Fall die Absicht aller Beteiligten, dieses Ziel zu erreichen. Die ISPE steht mit den Behördenvertretern in einem Dauerdialog über neue Anforderungen. Da wir als Einzelmitglieder-Organisation eine neutrale Position einnehmen sind wir bei Behörden ein gern gesehener Dialogpartner. Da geht es um Fragen wie: Wie kann man eine bestimmte Anforderung in der Industrie umsetzen? Oder: Wie ist der heutige Stand der Technik? Erst durch diesen Dialog kann eine Anforderung effizient und effektiv praktisch umgesetzt werden. Wenn dieser Mechanismus funktioniert, dann ist Ihre Frage mit einem klaren Ja zu beantworten.

Wieso nehmen die regulatorischen Anforderungen eigentlich ständig zu?

T. Zimmer: In der Vergangenheit gab es eine Reihe von Vorfällen, aus denen man die Konsequenz gezogen hat, genauer hinzusehen. Das fing 1961 mit Contergan an. Vor 1961 gab es nicht einmal ein Arzneimittelgesetz in Deutschland. Ende der 60er Jahre hat die Weltgesundheitsorganisation die ersten Good Manufacturing-Practice-Richtlinien erlassen. Heute hat die Europäische Gemeinschaft gemeinsame Regularien für die Arzneimittelherstellung.

Ein jüngeres Beispiel ist der Heparin-Fall von 2007, wo verunreinigtes Rohmaterial dazu geführt hat, dass bei Heparin-Präparaten in den USA 81 Menschen gestorben sind. Krankenhausapotheken in den USA haben vor einigen Jahren bei der Herstellung von Krebsmedikamenten die Hygienebedingungen nicht 100prozentig beachtet. Da gab es auch Todesfälle.

Ihr Verband befasst sich auch mit der Fabrik der Zukunft. Wie wird die aussehen?

T. Zimmer: Das hängt von den Produkten ab. Eine Fabrik, die drei große Produkte fertigt, muss anders aussehen als eine, die 30 kleine Produkte herstellt. Generell geht der Trend weg von umsatzstarken Blockbustern hin zu Produkten mittlerer und kleinerer Größenordnung. Dafür werden modulare Konzepte diskutiert, um die Fabriken flexibler zu machen. Das ist besonders wichtig für die biopharmazeutische Produktion, was hinsichtlich des Engineerings das Anspruchsvollste ist, was man kennt.

Auch das Thema Pharma 4.0, die vierte industrielle Revolution, spielt bei Ihnen eine Rolle. Was hat man sich darunter vorzustellen?

T. Zimmer: Pharma 4.0 basiert auf Industrie 4.0, einer visionären Zielvorstellung. Ein wichtiges Element dabei ist, den Faktor Mensch aus der Produktion so weit wie möglich herauszunehmen, denn er ist leider ein Unsicherheitsfaktor.

In der Autoindustrie ist der Einsatz von Robotern schon weit verbreitet. Diese Tendenz gibt es nun auch in der Pharmaindustrie, beispielsweise in der Verpackung. Diese Entwicklung wird weitergehen.

Ein anderer Gedanke von Industrie 4.0 ist, auch die Kommunikation in der Fertigung weiter zu standardisieren, um Übertragungsfehler abzubauen. Gleiches gilt für die Integration aller Schritte entlang der Lieferkette. Wirkstoffhersteller müssen die Probleme ihrer Kunden in der Pharmaendproduktion kennen. Diese müssen ihrerseits über die Probleme der Wirkstoffhersteller Bescheid wissen. Integration bedeutet auch, dass man entlang der gesamten Lieferkette, also vom Ausgangsstoffhersteller über den Wirkstoffhersteller bis zum Pharmaproduzenten ein durchgehendes System der Qualitätskontrolle hat. Die Europäer haben das im November 2013 mit den GDP, den Good Distribution Practices, eingerichtet.

Bedeutet Pharma 4.0. somit, dass künftig weniger Beschäftigte in der Produktion von Arzneimitteln tätig sein werden?

T. Zimmer: Tendenziell ja. Allerdings werden diese Menschen vermutlich mehr in Kontrollbereichen gebraucht, also in der Qualitätssicherung oder in der Dokumentation. Ich glaube nicht, dass das Personal in der pharmazeutischen Industrie insgesamt abnimmt.

Auf der ISPE-Jahreskonferenz Anfang Mai in Frankfurt beschäftigen Sie sich unter anderem mit neuen Paradigma in der Qualitätssicherung. Was sind das für Paradigma?

T. Zimmer: Früher wurde ein Produkt am Ende der Fertigung auf seine Qualität hin geprüft. Heute muss man lückenlos nachweisen, dass alle Schritte auf dem Weg dorthin so durchgeführt worden sind wie im Design definiert. Warum? Weil die Qualitätskontrolle, selbst die allerbeste, von ihrem Wesen her statistisch ist. Jede Statistik hat aber Löcher. Es kann etwas durchrutschen.

In diesem Zusammenhang geht es auch darum, wie die sogenannten In-Prozess-Kontrollen, also einzelne Produktionsparameter, erhoben werden können? Da gibt es fantastische Vorstellungen von gigantischen Datenmengen - Stichwort Big Data. Allerdings ist es ein gewaltiger Aufwand, diese auch zu verarbeiten.

Ein Appell also, dass große Datenmengen letztendlich noch les- und interpretierbar sein müssen?

T. Zimmer: Auf jeden Fall. Konzepte wie Quality by Design sind im Ansatz super. In der Praxis erzeugen sie aber oft noch mehr Fragen. Das wiederum erhöht die Kosten. Da müssen sich Industrie und Regulatoren zusammensetzen und nach Lösungen suchen, bis wohin solch ein Aufwand noch sinnvoll und machbar ist.

Können Sie sich bei Fragen nach Produktion, Kosten und Compliance eigentlich etwas von anderen Branchen abschauen?

T. Zimmer: Ja, durchaus. Benchmarking ist für uns ein wichtiges Thema. Wir schauen uns zum Beispiel Porsche an, und zwar mit der Frage: Wie managt man Komplexität? Die Autoindustrie fertigt heutzutage Fahrzeuge, die Einzelstücke sind. Kein Auto ist heute mehr wie das andere.

In der pharmazeutischen Industrie haben wir ebenfalls eine große Komplexität. Ein Bulk-Produkt, also die Mischung, aus der Tabletten gepresst werden, wird teilweise in mehr als 100 Ländern verkauft. Jedes Land hat seine speziellen Anforderungen hinsichtlich Prägung, Verpackung, Sprache oder Beipackzettel. Das ist sehr komplex, und es gibt viele Möglichkeiten, Fehler zu machen. Porsche ist sehr gut darin, wie man Komplexität kontrolliert.

Sie werden aber nicht demnächst in die Autoindustrie wechseln, oder?

T. Zimmer: Nein, aber wir wollen diese Begeisterung an unsere Kollegen weitergeben und sagen: schaut mal hier, versucht doch auch mal in diese Richtung zu denken. Solch einen Kulturwandel müssen sie über viele Jahre befeuern. Die Pharmaindustrie hat ihren Ursprung in Apotheken. Die haben mit Kleinfertigung angefangen. Diese Mentalität ist in vielen Leuten heute immer noch drin.