Transparenz im Chemiestandort-Markt
Kolumne Perspektivenwechsel von Prof. Carsten Suntrop
Der Begriff der Agilität kann mit den Worten Flexibilität, Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit übersetzt werden. Eigenschaften, die zu Erlangen für Chemieunternehmen und Chemiestandortbetreiber von großem Interesse sein sollten. In der Projektarbeit lässt sich dies methodisch relativ pragmatisch einführen: Es existieren verschiedenste agile Projektmanagement-Methoden - die bekannteste ist wohl Scrum - die alternativ zu klassischen Methoden eingesetzt werden können. Diese agilen Methoden sind für das Arbeiten in selbstorganisierten Teams ausgelegt. Während klassische Methoden insbesondere dann sinnvoll sind, wenn es möglich ist, ein Problem sofort beziehungsweise nach eingehender Analyse zu lösen, eignen sich agile Methoden in einem sehr dynamischen und komplexen Umfeld. Wenn also beispielsweise während der Projektlaufzeit laufend Änderungen, neue (Kunden-) Anforderungen etc. berücksichtigt werden müssen, so ermöglichen agile Methoden dies miteinzubeziehen, ohne dass dafür eine vorher festgelegte Planung verworfen werden muss.
In der täglichen Arbeit des Site-Service-Geschäftes an Chemiestandorten sind die Mitarbeiter viel häufiger in Projekten aktiv, als es vermeintlich den Führungskräften bewusst ist. Schätzungsweise sind 35-40% der jährlichen Mitarbeiterzeit in Projekten organisiert (ca. 600-700h). Fraglich ist nun, wieviel Zeit der Mitarbeiter neben seiner Routinetätigkeit offiziell für Projekte zur Verfügung hat; wie hoch der Anteil der Mitarbeiter ist, die dies als ihr Kerngeschäft verstehen und entsprechende Profis sind; welche Kompetenzentwicklungen der Industriedienstleister und Standortbetreiber den Projekt-Experten übergreifend anbietet. Zu Projekten zählen hier nicht nur die klassischen Strategie- und Organisationsprojekte, die Technologieprojekte, sondern auch die Projekte zur Weiterentwicklung/Erneuerung des Dienstleistungsportfolios oder die abteilungsinterne oder -übergreifende Vorbereitung wertvoller Vertriebstermine (Vertragsverhandlungen, Preisentwicklungen, etc.). Viele der Industriedienstleistungen sind auch in der Leistungserstellung überwiegend projektorientiert organisiert, wie das Erlangen einer Genehmigung oder die Instandhaltung einer Rohrbrücke.
Die Trennung der Routine- von den Projekttätigkeiten kann bei der Einführung einer agilen Arbeitsweise helfen. Die Routinetätigkeiten müssen einen hohen Grad der Automatisierung/ Digitalisierung erfahren, die Projektaktivitäten einen hohen Grad der Agilität – unterstützt durch entsprechende Methoden. Die Kompetenzen sind sehr unterschiedlich, nicht jeder Mitarbeiter passt auf die eine oder andere Tätigkeit. Wenn Agilität jedoch nicht nur in Projekten, sondern ganzheitlich in der Organisation gelebt werden soll, so wird eine Veränderung auf verschiedenen Ebenen erforderlich sein: Beginnend bei der Kultur durch die Einführung agiler Prinzipien, wie unter anderem Kundenfokus, Autonomie, Selbstorganisation, Verantwortungsübernahme, Vertrauen und Transparenz, hin zur Organisationsstruktur und zum Führungsverhalten.
Agile Organisationsstrukturen spiegeln diese Prinzipien wider und unterstützen sie: Der Kunde steht im Mittelpunkt, flache Hierarchien und netzwerkartige Strukturen fördern das Arbeiten in sog. Wertschöpfungsstrukturen, in denen die Mitarbeiter Verantwortung übernehmen und von ihren Führungskräften weniger kontrolliert, sondern vielmehr gecoacht und unterstützt werden. Organisationen mit einer klassisch hierarchischen, funktionalen, Einlinien-geprägten Aufbauorganisation werden es dagegen schwer haben, dies zu ermöglichen.
Die Chemie-Standortbetreiber haben in vielen Fällen bei ihren Kunden den Ruf träge und langsam zu sein. Die operativen Ansätze von Agilität bieten eine große Chance, dieses Bild zu revidieren und in schnelllebigen Zeiten zu bestehen, Neues zu schaffen und innovativ zu sein.