Supply-Chain- und Logistiktrends der Chemieindustrie
Die Weichen für einen erfolgreichen Neustart nach Überwindung der aktuellen Talsohle müssen jetzt gestellt werden.
„Positiv ist festzuhalten, dass sich viele Unternehmen gerade mit KI und dessen Anwendungsmöglichkeiten auseinandersetzen.“
Die Chemiebranche steht vor großen Herausforderungen mit immensem Handlungsbedarf. Trotzdem gilt es gerade jetzt, die Weichen für einen erfolgreichen Neustart nach Überwindung der aktuellen Talsohle zu stellen. Die Studie „Erfolgsfaktor Supply Chain Management und Logistik in der Chemieindustrie 2024“ von Solventure, Aimms und Miebach beschäftigt sich mit aktuellen Schlüsseltrends und Herausforderungen, dem Einsatz von Digitalisierung und KI sowie der Planung in der europäischen Chemieindustrie. Die Ausgangsfrage „Was sind die aktuellen Trends und Herausforderungen in der chemischen Industrie?“ wurde in eine Auswahl möglicher Trends und deren Bedeutung aus Sicht der Studienteilnehmenden heruntergebrochen. Birgit Megges befragte Klaus-Peter Jung, Partner bei Miebach, zu den Kernaussagen der Studienergebnisse.
CHEManager: Herr Jung, aus der Studie geht hervor, dass für die Mehrheit der Teilnehmenden der steigende Kostendruck auf Lagerhaltung und Transport die größte Bedeutung hat, während die CO2-Neutralität aktuell nur eine untergeordnete Rolle spielt. Wie überraschend war dieses Ergebnis für Sie?
Klaus-Peter Jung: Wenig – dies spiegelt sich ja nicht nur in den überwiegend schlechten öffentlichen Meldungen zur Lage der Industrie wider, sondern zeichnet sich auch in unserem Beratungsalltag ab. Kurzfristig sind viele Unternehmen stark auf Kostensenkung beziehungsweise Kostenvermeidung fokussiert, da spielt CO2-Neutralität kaum eine Rolle. Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass einerseits die Logistik einen nur geringen Beitrag zur CO2-Emmission in der chemischen Industrie hat – im Vergleich zu anderen produzierenden Industrien oder gar dem Handel. Andererseits gibt es geradezu einen „natürlichen Zusammenhang“ zwischen reduzierten Transportkosten und geringeren CO2-Emmissionen. Schiff ist günstiger und umweltschonender als Flugzeug, volle Lkw sind günstiger und umweltschonender als halbleere, große Sendungen sind günstiger und umweltschonender als Kleinsendungen et cetera.
Sie haben hinterfragt, wie gut die europäische Chemieindustrie gerüstet ist, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Welche Einblicke haben Sie durch die Antworten erhalten?
K.-P. Jung: Auf die Boom-Jahre Anfang der 2020er folgte eine Vollbremsung, auf die die Industrie, so die Selbsteinschätzung, nicht besonders gut vorbereitet war.
Schaut man sich die einzelnen Themen genauer an, so ist festzustellen, dass lediglich zum Thema der „Transparenz durch verstärkte Kommunikation und engen Austausch“ rund die Hälfte der Teilnehmenden antwortet, „sehr gut“ oder „gut“ vorbereitet zu sein. Diese Quote sinkt auf etwa je ein Drittel hinsichtlich der Herausforderungen auf „steigendenden Kostendruck auf Lagerhaltung und Transport“ vorbereitet zu sein sowie „die Logistik in der chemischen Lieferkette auf die Kunden- und Produktspezifika auszurichten“.
Viele Unternehmen stellen sich den Herausforderungen im Sinne „Work in Progress“, ohne aber bisher eine Antwort parat zu haben. Und einige müssen sich auch eingestehen, nur unzureichend oder gar nicht auf die eine oder andere Herausforderung vorbereitet zu sein.
Digitalisierung und der Einsatz von KI wird auch im Supply Chain Management und in der Logistik stark diskutiert. Wie verbreitet sind derartige Lösungen in der Branche?
K.-P. Jung: Einfach gesagt zu gering. Positiv ist festzuhalten, dass sich viele Unternehmen gerade mit KI und dessen Anwendungsmöglichkeiten auseinandersetzen, doch tun sich ebenso viele Unternehmen schwer, geeignete Use Cases jenseits von Inventory Management, Forecasting & Workforce Management und stark administrativ-repetitiven Anwendungen wie Chatbots im Customer Service zu definieren. Aber immerhin sucht man nach Anwendungen und Einsatzmöglichkeiten – da ist eine gewisse Aufbruchsstimmung zu erkennen – wenn auch mit begrenzten Budgets.
Deutlich kritischer schätze ich die Lage ein bezüglich des Einsatzes von über KI hinausgehende Digitalisierungstools wie Digital Twins oder Control Tower. Gerade nach Black Swan Events wie Covid oder der Blockade des Suez-Kanals hätte man vermuten dürfen, dass die Unternehmen den Ernst der Lage erkannt hätten und verstärkt Digital Twins in der Supply Chain entwickeln, um für zukünftige Ereignisse besser gerüstet zu sein. Doch leider müssen wir feststellen, dass diese pro-aktiven Risk-Management-Maßnahmen an vielen Stellen dem kurzfristigen Kostendruck zum Opfer gefallen sind.
„Die Industrie ist noch weit entfernt von einer durchgehenden digitalen Transformation.“
In der Studie ging es auch um die Frage, wie Unternehmen der chemischen Industrie auf strategischer, taktischer und operativer Ebene planen, wer daran beteiligt ist und welche Instrumente zum Einsatz kommen. Bitte erläutern Sie kurz, welches Ergebnis Sie anhand der Antworten herausfiltern konnten?
K.-P. Jung: Die chemische Industrie weist hier ein gänzlich anderes Planungsverhalten als andere Industrien, etwa Konsumgüter, auf. Eine strategische Planung etwa des „Production Footprint“ oder der Inbound- und Outbound-Netzwerke erfolgt in der Regel nur alle zwei bis drei Jahre oder „On Demand“. Nur wenige planen in einem regelmäßigen, jährlichen Zyklus oder noch kürzer.
Bei der Mehrheit der Teilnehmenden ist die Linienorganisation in der Pflicht, solche Planungen durchzuführen, bei größer 40 % aber auch Beratungen. Für den Einsatz externer Consultants sprechen neben speziellem Methodenwissen, Tools und Erfahrungen auch die Möglichkeit, interne Ressourcen zeitlich zu entlasten und Projektergebnisse schneller und vielfach qualitativ besser zu ermitteln als bei eigener Projektdurchführung – vielfach mittels Excel.
Auf der taktischen Planungsebene lassen sich unterschiedliche Planungsrhythmen antreffen: Während die Bestandsoptimierung tendenziell eher wöchentlich durchgeführt wird, finden zum Beispiel S&OP-Planungsrunden bei der weit überwiegenden Mehrheit der Teilnehmenden monatlich statt. Bei den meisten Unternehmen ist die Supply-Chain-Abteilung führend in der taktischen Planung, sei es in der Bedarfsplanung, Bestandsoptimierung, „Supply & Production Planning“ oder S&OP. Fast ebenso stark ist die Logistikabteilung vor allen Dingen bei der Bedarfsplanung und Bestandsplanung beteiligt und naturgemäß die Produktion bei „Supply & Production Planning“. Nur ganz wenige Unternehmen geben an, dass der Vertrieb hierfür die Verantwortung trägt, und zwar dann auch nur bei der Bedarfsplanung oder S&OP.
Auf allen drei Planungsebenen – und das ist meines Erachtens die kritischste Feststellung unserer Studie – ist immer noch Excel das Tool der Wahl: Flexibel und leicht bedienbar auf der einen, aber fehleranfällig und mit großem manuellem Aufwand versehen auf der anderen Seite. Auch da ist die Industrie noch weit entfernt von einer durchgehenden digitalen Transformation.
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Zur Person
Klaus-Peter Jung ist Partner and Head of Industry for the Chemical Industry, Beverages and Logistics Service Providers bei der Miebach Consulting Gruppe. Jung kam im Jahr 2000 zu Miebach Consulting, nachdem er an der Universität Marburg am Lehrstuhl für Logistik promoviert hatte. Seit mehr als 25 Jahren berät er Kunden im Bereich Supply Chain und Logistik auf nationaler und internationaler Ebene. Zu seinen Beratungsmandaten zählen sowohl Unternehmen aus der Logistikbranche und der chemischen Industrie als auch internationale Hersteller aus den Bereichen Brauereien und Softdrinks.
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