Strategiewechsel in der Chemiedistribution
Trends wie Konsolidierung und Digitalisierung stellen das traditionelle Geschäftsmodell in Frage
Das traditionelle Geschäftsmodell der Chemiedistribution gerät mehr denn je unter Druck. Industriekunden erwarten eine zunehmend klare Positionierung ihrer Zulieferer in ausgewählten Kundenindustrien beziehungsweise Wertschöpfungsketten und fordern von der Chemie eine entsprechende Schärfung des Geschäftsportfolios und der Kernkompetenzen.
Auch Investoren treiben den globalen Umbau der Geschäftsmodelle voran und belohnen eine homogenere Ausrichtung des Portfolios mit Aufschlägen bei der Unternehmensbewertung. Diese Neuausrichtung ist ein Haupttreiber von Fusionen und Akquisitionen in der Chemie-Industrie. Jüngste Großfusionen wie der Zusammenschluss von Dow und DuPont mit nachgelagerter Neuausrichtung in homogenere Einzelgeschäfte zielen auf die Etablierung entsprechender globaler Branchenführer, weitere Chemie-Player werden folgen.
Die Digitalisierung des Geschäftsmodelles in der Chemie treibt zudem veränderte funktionale Anforderungen an integrierte, überdisziplinäre Produkt- und Leistungsportfolios. Die Rolle der Chemie im Ökosystem verschiebt sich, die Eintrittsbarrieren zu bestimmten Wertschöpfungskette reduzieren sich.
Wer Branchenführer in der Chemie sein will, braucht zunehmend die Fähigkeit zur ganzheitlichen Optimierung von Kundenwertschöpfungsketten, zur intensiven Zusammenarbeit in Netzwerken mit Partnern, die häufig in anderen Wertschöpfungsstufen agieren, bis hin zur Schaffung neuer Geschäftsmodelle mit der Notwendigkeit, Themen wie unter anderem Nachhaltigkeit entlang der Wertschöpfungskette besser sichern und adressieren zu können.
Als Konsequenz aus diesen Entwicklungen sind auch die Herausforderungen für Chemiedistributoren erheblich gestiegen. Das Geschäftsmodell steht auf dem Prüfstand, die Rolle der Distributoren an der Schnittstelle zwischen Chemieproduktion und Anwender bzw. Industrie wird gegenwärtig hinterfragt.
Rückblick: Profitable Mittlerposition
Die Chemiedistribution gewann über viele Jahre im Rahmen der fortschreitenden Konzentration der Chemieunternehmen auf Kernkompetenzen und strategisch relevantere Produkt- und Marktsegmente kontinuierlich an Bedeutung.
Mehr und mehr Chemieunternehmen gingen dazu über, den Vertrieb insbesondere in aus Sicht des jeweiligen Einzelunternehmens unterkritischen Märkten und Marktsegmenten oder für strategisch weniger relevante Kunden und Produktgruppen an Dritte zu übergeben.
Auch im Einkauf profitierten viele Unternehmen von der Bündelung und Fremdvergabe des Einkaufs chemischer C-Rohstoffe an Distributoren im Sinne einer Reduzierung der eigenen Komplexität, Effizienzsteigerung, Professionalisierung und somit gesteigerter Fokussierung auf strategische Einkaufskategorien.
Im Gegensatz zu den Chemieunternehmen gelang es Distributoren, durch unternehmensübergreifende Bündelung von C-Produktsortimenten den Zukauf sowie den Vertrieb bis hin zu einfacher chemischer Wertschöpfung effizienter als einzelne Chemieunternehmen anbieten zu können.
Die Agilität der Distributoren im Umgang mit kleineren, oft strategisch weniger relevanten Lieferanten- und/oder Kundengruppen ist bis heute ein wichtiges Differenzierungsmerkmal. Chemieunternehmen profitieren dabei vom Zugang der Distributoren zu Märkten und Produktgruppen, für die ihre eigenen Angebote nicht die ausreichende Größe oder den notwendigen Entwicklungsgrad haben.
Über den Einsatz von Distributoren reduzieren Chemieunternehmen ferner Kreditrisiken und das Cash Management für kleinere Kunden (oft auch in Märkten mit komplex oft langlaufenden Zahlungsprozessen).
Die Chemie-Kunden ihrerseits haben Zugriff auf Produktvolumina und Bestellgrößen, die sie vom Chemikalienproduzenten aufgrund ihrer strategischen Relevanz so nicht (oder nur zu signifikanten Preisaufschlägen) erhalten würden. Weiterhin lässt die Zusammenlegung von Einzelbedarfen verschiedener Chemieprodukte durch Konsolidierung beim Distributor die Supply-Chain-Komplexität und Einkaufskosten sinken.
Die Chemiedistributoren ermöglichen darüber hinaus für C-Produktsortimente oft verbesserte Lieferzeiten und höhere Lieferzuverlässigkeit, wie auch maßgeschneiderte Angebote oder zusätzliche Leistungen wie Qualitätskontrolle, Dokumentationsmanagement, Abfallmanagement oder Unterstützung bei der technischen Produktentwicklung.
Das Wettbewerbsumfeld in der Chemiedistribution ist im Vergleich zu den Chemikalienproduzenten auf den ersten Blick wenig konsolidiert. Einige große, im Sinne ihres Produkt- und Markt-Portfolios breit aufgestellte Unternehmen, sowie eine Vielzahl an kleinen, häufig spezialisierten Einzelspielern teilen den Markt heute unter sich auf. So decken 32 Distributoren 80 Prozent des in Europa über Distributoren gehandelten Marktvolumens in der Chemie ab.
Im Sinne des Geschäftsmodelles lassen sich unterschiedliche Typen an Chemiedistributoren unterscheiden: von der Spezialisierung auf bestimmte Industrien, Produkte oder Leistung über Händler bis hin zu Vollsortimenter mit umfassendem Portfolio (siehe Abbildung)
Neue Trends: Bedrohung für traditionelles Distributionsmodell
Verschiebungen in den Kundenindustrien, die Neuausrichtung der Geschäftsportfolios der relevanten Chemieunternehmen, zunehmende Digitalisierung sowie regionale Verschiebung von Wertschöpfung fordern das traditionelle Distributoren-Modell heraus.
Insbesondere die Digitalisierung und die Fähigkeit, große Datenmengen in Echtzeit auszuwerten und die wachsende Verfügbarkeit an Daten erhöht die Transparenz entlang der komplexen Lieferketten und ermöglichen das bessere Managen und Optimieren von Komplexität.
Neue Marktteilnehmer, wie zum Beispiel Alibaba oder Amazon, betreten das Spielfeld, erhöhen die Transparenz und ermöglichen den besseren Markt- beziehungsweise Vertriebszugang in Wachstumsmärkte. Insbesondere treten sie als Händler und Agenten auf und ermöglichen kleinen und mittleren Kunden so einen direkten Zugang zum Produzenten beziehungsweise zu Kunden.
Aber nicht nur diese digitalen Handelsplattformen stellen eine zunehmende Herausforderung für die Chemiedistributoren dar. Chemikalienproduzenten eröffnet sich darüber auch neue Wege, die Distribution selbst zu übernehmen. E-Commerce Plattformen bringen Kunden und Hersteller näher zusammen und stellen den Mehrwert eines Distributors in Frage.
Digitale Werkzeuge wie z.B. Robotic Process Automation (RPA) oder künstliche Intelligenz (KI) erlauben eine starke Reduktion der Komplexität und Automatisierung von Prozessen und reduzieren die Notwendigkeit einer Verlagerung von Leistungen auf Chemiedistributoren.
Im Lichte der angesprochenen Veränderungen müssen Chemiedistributoren - ähnlich wie Chemieunternehmen - die Schärfung und Neuausrichtung des eigenen Geschäftsmodells vorantreiben, um sich im Wettbewerb mit anderen Distributoren neu zu positionieren. Insbesondere das Modell des Vollsortimenters mit umfassendem Industrie/ Kunden/ Produkt/ Markt-Portfolio erscheint hier zu undifferenziert und gerät zunehmend unter Druck.
Folgerichtig treiben die Distributoren die vertikale Integration voran - oder spezialisieren sich auf Branchensegmente, z.B. Spezialchemie oder Pharma. Dieses Vorgehen birgt jedoch Risiken. Die Schnittstellen zwischen Distributoren, Chemikalienproduzenten sowie Kunden verschwimmen, Distributoren treten zunehmend im Wettbewerb zu Chemikalienproduzenten auf.
Der Aufbau spezifischer Kernkompetenzen in Absatzmärkten erhöht wiederum den Druck auf Chemikalienproduzenten, die Geschäftsgrundlage und den Grad der Fremdvergabe an Distributoren kritisch zu hinterfragen.
Erfolgsstrategien: Durch Spezialisierung, Entwicklung zum Lösungsanbieter und Partnerschaften den Wandel zum eigenen Vorteil nutzen
Trotz der angesprochenen Risiken an der Schnittstelle zu den Chemikalienproduzenten (und deren Kunden) eröffnen sich für die Distributoren insbesondere drei strategische Stoßrichtungen, sich auf die Veränderungen in der Chemiebranche auszurichten. Diese Strategien können auch in Kombinationen miteinander umgesetzt werden können:
- Funktionale und regionale Spezialisierung:
Eine naheliegende Möglichkeit ist die Spezialisierung auf ausgewählte Branchensegmente, zum Beispiel Basischemie oder Spezialchemie - oder auf eine Region, wie China oder Europa. Die unterschiedlichen Anforderungen in weltweiten Wachstumsmärkten erfordern den Aufbau spezifischer lokaler Kompetenzen über Marktzugänge, Regulierungen, Logistik und Infrastruktur oder auch lokalen Produktionsstrukturen, die viele, insbesondere klein- und mittelständische Chemikalienproduzenten so nicht vorhalten können.
- Entwicklung zum Lösungsanbieter:
Das Geschäftsmodell der Distribution ist typischerweise nicht auf Chemieprodukte konzentriert, viele Distributoren haben auch außerhalb der chemischen Produktion umfassende Industriekompetenz aufgebaut.
Der Ausbau dieser Kompetenz und der Fähigkeit, Ökosysteme aus unterschiedlichsten Anbietern im Sinne der Etablierung ganzheitlicher Lösungsansätze für ausgewählte Branchen – z.B. Industriereinigung anstatt Vertrieb/Distribution von Reinigungschemikalien, Abwasserbehandlung anstatt Chemikalienverkauf, Kunststoffportfolio samt Anwendungsberatung in ausgewählten Märkten usw., könnten die Schlüssel zur Differenzierung gegenüber Chemikalienproduzenten sein.
- Partnerschaften mit digitalen Händlern:
Neue Marktteilnehmer drängen in die Chemie und ihre Marktsegmente, digitale Plattformen bieten hier eine Möglichkeit. Diese Plattformen ermöglichen insbesondere einen breiten und effizienten Marktzugang auch für kleine und mittelständische Kunden in unterentwickelten Märkten. Gleichzeitig versuchen Chemiedistributoren, ihr Geschäftsmodell zu digitalisieren und Effizienzgewinne zu erzielen. Ihr Wettbewerbsvorteil gegenüber digitalen Händlern schrumpft im Sinne des Markt- und Kundenzugangs sowie des Wissensvorsprungs in unterentwickelten Märkten, allerdings verfügen sie im Gegensatz zu den digitalen Händlern über spezifische Kompetenzen in der Chemiedistribution sowie Produktveredelung. Eine Partnerschaft beziehungsweise ein Zusammenschluss würde signifikante strategische Vorteile bieten.
Distributoren müssen sich angesichts der disruptiven Entwicklungen in der chemischen Industrie die Frage stellen, ob ein „business as usual“ ihre Zukunftsfähigkeit weiterhin sichern kann. Es sind zu viele Veränderungen in jüngster Zeit, als dass sie tatenlos zusehen könnten – mehr denn je ist Veränderungswillen mit einer klaren strategischen Neuausrichtung das Gebot der Stunde: Die erfolgreiche strategische Adjustierung des Distributionsgeschäftsmodells wird den Ausschlag dafür geben, welche Distributoren in Zukunft Marktführer sein werden.