Spezialchemiedistribution: Markttrends eröffnen Chancen
Distributoren können digitale Services mit Stärken in der physischen Wertschöpfungskette kombinieren
Der Markt für Spezialchemiedistribution ist hoch attraktiv mit guten Wachstumsperspektiven. Doch Konsolidierungen, ein strikteres Management von Distributoren durch Produzenten und vor allem die Digitalisierung verändern den Markt. Um ihre Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu sichern, müssen Distributoren jetzt handeln.
Waren sie früher lediglich ein Vehikel, um kleine oder schwer zu bedienende Kunden zu erreichen, sind sie heute ein wesentlicher Bestandteil der Kanalstrategie von Herstellern: Die Rolle der Spezialchemiedistributoren hat sich grundlegend verändert, mit Auswirkungen auf die gesamte Wertschöpfungskette in diesem Segment. Kein Wunder, dass der Markt der Spezialchemie-Distribution schneller wächst als die gesamte Industrie: Von 2012 bis 2017 stieg das globale Marktvolumen jährlich um 5,6 % auf rund 97 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum wuchs das gesamte Bruttoinlandsprodukt nur um 2,7 %, die gesamte chemische Industrie um 2,9 %, der Verbrauch von Spezialchemikalien um 4,9 %.
Um in diesem attraktiven Umfeld weiterhin Wettbewerbsvorteile zu generieren, reicht Größe allein aber nicht aus. Spezialchemikalien-Distributoren müssen sich auf spezifische Segmente und geografische Regionen konzentrieren, in denen sie Services mit messbarem Mehrwert sowohl für die Verarbeiter von Spezialchemikalien als auch für Hersteller anbieten können. Die digitale Technologie kann hier zukünftig eine Schlüsselfunktion einnehmen. Das sind die Ergebnisse einer aktuellen Analyse der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG).
Starke Märkte: Asien-Pazifik und Nordamerika liegen vorne
Die größten Märkte in der Spezialchemie-Distribution waren 2017 Asien-Pazifik mit rund 40 Milliarden Euro Umsatz, Nordamerika mit 31 Milliarden Euro und Westeuropa mit 13 Milliarden Euro Umsatz. Asien-Pazifik ist dabei nicht nur die wichtigste Region für den Vertrieb von Spezialchemikalien, sondern auch einer der am schnellsten wachsenden Märkte mit einer jährlichen Wachstumsrate von 6,8 % von 2012 bis 2017. Nur der Nahe Osten wuchs in diesem Zeitraum mit einer Rate von 7,8 % schneller. Im Gegensatz dazu verzeichneten andere Märkte niedrigere Wachstumsraten: 4,7 % in Nordamerika und 3,6 % in Westeuropa. Die BCG-Analyse geht zwar davon aus, dass sich das Wachstum in der Spezialchemikalien-Distribution voraussichtlich bis 2022 leicht auf fünf % abschwächen wird. In absoluten Zahlen wird der größte Teil dabei von den Hauptmärkten Asien-Pazifik und Nordamerika kommen.
Spezialchemiedistributoren haben jetzt gute Chancen, ihre Marktdurchdringung zu erhöhen. Im Vergleich zu anderen Branchen ist der Anteil der Umsätze, die nicht direkt durch Produzenten, sondern über Distributoren erfolgen, vergleichsweise gering (Grafik 1). Nur etwa 17 % der Umsätze in der Spezialchemie laufen über den Distributor. Auf dem europäischen Markt beispielsweise gehen etwa 40 % der IT-Produkte und 45 % der Automobilteile über externe Händler. In der US-Pharmaindustrie werden mehr als 80 % der Fertigprodukte über Drittanbieter vertrieben.
Sieben Markttrends: große Auswirkungen auf Distributoren
Auch die teils sehr dynamischen Veränderungen bieten den Distributoren Wachstumschancen. Die BCG-Analyse hat sieben Trends identifiziert, die große Auswirkungen auf die Spezialchemiedistributoren haben werden.
- Hersteller und Kunden versuchen zunehmend, ihre Vertriebsbeziehungen zu rationalisieren und zu konsolidieren – sie reduzieren die Anzahl der Distributoren für gleiche Produkt- oder Anwendungssegmente und konzentrieren die Umsätze auf Kerndistributoren.
- Die wachsende Fragmentierung unter den Kunden – und auch Umfang und Prognostizierbarkeit von Aufträgen – bedeutet eine größere Komplexität, die zu einem höheren Anteil am Gesamtmarkt für Distributoren führt. Viele Segmente für Spezialchemikalien konsolidieren sich auf globaler Ebene, sodass die jeweiligen Distributoren ihre Reichweite vergrößern müssen (siehe hierzu auch die BCG Reports „Value Creation in Chemicals 2017“, „Why Specialty Chemical Distributors Need to Raise Their Game“ und „Consolidation as a Route to Transformation“.)
- Ein kritischer Punkt für Distributoren sind Unternehmensaufkäufe in Spezialchemiesegmenten, da die konsolidierenden Produzenten häufig auch die Anzahl der Distributoren konsolidieren.
- Kunden zeigen eine höhere Nachfrage nach Mehrwertdiensten und Support.
- Die regulatorischen Anforderungen in der Spezialchemie steigen.
- Finanzielle Transparenz wird unerlässlich. Die Distributoren müssen das Potenzial neuer Märkte genau einschätzen und auch die Rentabilität einzelner Transaktionen im Blick behalten, um bessere Bruttomarken zu erzielen.
- Die Industrien in den Schwellenländern reifen heran, was zu strengeren regulatorischen Anforderungen und stärker standardisierten Interaktionen zwischen Herstellern, Distributoren und Kunden führt.
Regionen und Segmente: Unterschiedliche Chancen
Trotz der starken Wachstumsaussichten insgesamt, sind die Chancen nicht überall gleich. Sie sind abhängig vom jeweiligen Produktsegment und der Region. So gibt es beispielsweise im Segment Reinigungsprodukte viele relativ kleine Hersteller, die eine große Anzahl an Produkten an viele kleine Kunden mit entsprechend geringen Bestellmengen verkaufen. Aufgrund der hohen Komplexität können Distributoren die Abläufe sowohl für Hersteller als auch für Kunden deutlich vereinfachen. Im Bereich der Pharmazeutika wiederum gibt es relativ wenige Pharmahersteller, die meist von Herstellern direkt bedient werden.
Auf dem nordamerikanischen Markt ist der Marktanteil der über Spezialchemiedistributoren gehandelten Produkte mit 20 % größer als weltweit mit 17 %. Grund dafür sind hauptsächlich die weiten Wegstrecken, die zurückgelegt werden müssen, um Kunden zu bedienen – das erhöht die logistische Komplexität. In Europa haben die Distributoren dagegen aufgrund regionaler Nähe einen etwas geringeren Anteil von rund 15 %. Auf dem Vertriebsmarkt in Nordamerika haben sich Distributoren zusammengeschlossen, in Japan dominieren große Handelshäuser, die nicht nur Chemikalien vertreiben, sondern mitunter auch gemeinsam mit Herstellern in Vermögenswerte investieren und Arbitragegeschäfte abwickeln.
Einige Player wie etwa Brenntag, Univar oder Nexeo Solutions sind Marktführer, jedoch nicht auch automatisch führend in allen Spezialsegmenten. Überregionale Anbieter haben zwar zunehmend mehr Einfluss, aber auch kleinere Mitbewerber können durch regionale Expertise und Kundenbeziehungen konkurrieren.
Kundenperspektive: Kompetenz und Service gewinnen
Natürlich sind für die meisten Chemiehersteller und Verarbeiter von Chemikalien exzellente Logistikleistungen und wettbewerbsfähige Preise die maßgeblichen Entscheidungskriterien für die Zusammenarbeit mit einem Spezialchemikalien-Distributor. Es gibt aber auch Kriterien wie die labor- und anwendungsspezifische Unterstützung, Know-how des Vertriebs, Produktvielfalt und Verfügbarkeit wichtiger Flagship-Produkte innerhalb des Portfolios. Größere Distributoren haben tendenziell bessere Voraussetzungen, um diese Aspekte zu erfüllen. Aber der zentrale Faktor ist die weitreichende Expertise in Bezug auf segmentspezifische Produkte, Anwendungen und Kunden für einen bestimmten geografischen Markt. Bei Fusions- und Übernahmegeschäften in der Branche geht es somit nicht um reine Vergrößerung, sondern um die gezielte Akquise, um Lücken bei Portfolio und Schlüsselkompetenzen zu schließen und so die Rentabilität zu verbessern.
Digitale Wertschöpfungskette: großes Potenzial
Die Digitalisierung ist dagegen ein Trend, der alle Märkte, Segmente und Branchen gleichermaßen betrifft – auch die Spezialchemie-Distributoren. Jedoch ist die Gefahr einer Disruption durch Markteinsteiger oder neue Geschäftsmodelle zumindest kurzfristig geringer als beispielsweise im Einzelhandel. Denn: Der Vertrieb von Spezialchemikalien erfordert technisches Know-how, Kenntnisse der Sicherheits- und der regulatorischen Anforderungen sowie spezielle Services, die nicht von einer cleveren App übernommen werden können. Zwar haben einige Hersteller seit geraumer Zeit auch Online-Portale, um den Direktvertrieb an kleine Kunden aufzubauen. Man darf jedoch skeptisch sein, ob dies gelingen kann, da gerade kleinere und mittelgroße Verarbeiter von Chemieprodukten ihren Bedarf aus einer Hand – also herstellerübergreifend – beziehen möchten („one-stop purchasing“). Dennoch wird auf lange Sicht die Digitalisierung den Fachhandel verändern. So können Distributorenportale, die Angebote mehrerer Hersteller bündeln und digitale Zusatzservices wie die Online-Auftragsverfolgung ermöglichen, für Endkunden hochattraktiv sein. Die Digitalisierung sowohl im Backend- als auch im Frontend-Bereich birgt für Distributoren große Chancen, wenn sie jetzt tätig werden.
Beim Backend ist vor allem die Erfassung und Auswertung von Daten erfolgsrelevant: Damit können bspw. Nachfrageprognosen genauer erstellt, Marketingmaßnahmen optimiert und KPIs in Echtzeit analysiert werden, um Entscheidungsprozesse zu verbessern. Lagerhaltung und Transport werden effizienter, der Vertrieb kann gezielter vorgehen. Dies sind Standardverfahren, um Abläufe zu optimieren – sie haben sich in anderen Branchen bereits bewährt. Für Distributoren können sie jedoch zu beträchtlichen Gewinnen in Bezug auf Effizienz, Kundenservice und Produktivität führen.
Die Frontend-Digitalisierung ermöglicht es den Distributoren, innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln, die neue Arten von Dienstleistungen und Customer Journeys anbieten. Zu diesem Zweck können Distributoren bspw. ihre Vertriebskanäle über Online-Portale lenken, die das Angebot eines Distributors für mehrere Hersteller nutzen – bspw. über einen Marktplatz, der nur chemische oder natürliche Inhaltstoffe für etwa die Reinigungs- oder die Backindustrie verkauft. Sie können auch die Effektivität und Effizienz des Außendienstes steigern, beispielsweise durch mobile Anwendungen für Außendienstmitarbeiter, digitale Unterstützung für den Telefonverkauf und Wissensmanagement-Tools für den technischen Vertrieb und den Anwendungstechniker vor Ort.
Vorteile der Distributoren: Know-how
Auf lange Sicht könnte eine erhöhte Transparenz durch Digitalisierung zu einem verstärkten Wettbewerb unter den Vertriebshändlern und einer verringerten Preisgestaltungsmacht führen. Es könnte auch direkte Angriffe auf das Distributormodell von Start-ups oder etablierten digitalen Playern wie Amazon geben, die plattformbasierte Geschäftsmodelle mit digitaler Unterstützung erstellen. Ebenso könnten Logistikanbieter in den Markt eintreten, die Marketing und Vertrieb übernehmen. Distributoren haben jedoch Vorteile auf ihrer Seite, mit denen sie eine Disruption durch digitale Angreifer abwehren können. Sie haben bereits umfassende Kundenerfahrung sowie detaillierte Daten zu Produkten und Anwendungen in ihrem Portfolio. Ihr Geschäftsmodell – insbesondere die Bündelung von vielen Produkten unterschiedlicher Herstellern und die Steuerung der Logistikkette – ist ja bereits ein „Plattformmodell“ und daher ein sehr guter Ausgangspunkt.
Vielversprechend sind Online-Marktplätze, die auf bestimmte Branchensegmente zugeschnitten sind. Diese sollten sehr detaillierte, digitale Produktinformationen enthalten und gleichzeitig eine intuitiv bedienbare Online-Schnittstelle bereithalten, die auf die Bedürfnisse bestimmter Kundentypen zugeschnitten ist. Ergänzt werden kann ein solcher Marktplatz durch Services wie Anwendungsberatung, eine effiziente, digitalisierte Lieferkette und einen transparenteren Auftragsstatus.
Die Distributoren sind in der besten Position, diese Chance zu nutzen – indem sie neue digitale Services mit ihren aktuellen Stärken in der physischen Wertschöpfungskette kombinieren. Wenn sie jedoch warten, wird die Gelegenheit von bestehenden digitalen Playern wie Amazon wahrgenommen, die bereits wissen, wie sie digitale und physische Lösungen kombinieren können.
Link zur BCG-Studie „Why Specialty Chemical Distributors Need to Raise Their Game“, Juni 2018
Link zur BCG-Studie “Value Creation in Chemicals 2017”, November 2017
Link zur Studie “Consolidation as a Route to Transformation“, Dezember 2017
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