Schluss mit Insellösungen
Standardisierte Modularisierung und sichere Vernetzung soll in der prozesstechnischen Produktion Mehrwert schaffen
Dafür müssen die Gewerke Automatisierungstechnik und Verfahrenstechnik zusammenwachsen. Dabei bestimmen die Drei-Buchstaben-Akronyme MTP und NOA seit einigen Jahren die Diskussion. Auch APL wird bei der Umsetzung eine wichtige Rolle spielen.
Der Mehrwert in der prozesstechnischen Produktion wird durch Modularisierung, Digitalisierung und Vernetzung erschlossen. Das Module Type Package (MTP) gilt als unverzichtbar, um die Forderung nach flexiblen verfahrenstechnischen Produktionsanlagen zu erfüllen. Die NAMUR Open Architecture (NOA) erschließt den Betreibern eine Vielzahl der in Anlagen verfügbaren, aber bisher oft ungenutzten Daten über den Zustand ihrer Anlagen. Und APL, der Ethernet Advanced Physical Layer, ermöglicht die schnelle und zuverlässige Kommunikation über große Entfernungen einschließlich der Bereitstellung von Hilfsenergie für die Sensoren über ein einziges 2-adriges Kabel auch in explosionsgefährdeten Bereichen.
In ihrem Statusbericht „MTP und NOA: Zwei Konzepte fördern die Zukunftsfähigkeit der Prozessindustrie“ informieren NAMUR, ZVEI, ProcessNet und VDMA über den Stand der Entwicklungen auf dem Weg zur Industrie 4.0 und kommen zu dem Fazit: Die Technologien sind reif für den Einsatz.
Die Fabrik aus dem modularen Baukasten
Die Märkte der Prozessindustrie werden immer volatiler. Neue Produkte kommen in rascher Folge auf den Markt. Damit verbunden ändern sich die Anforderungen an die Produktion. Während früher Anlagen nahezu unverändert über Jahrzehnte betrieben wurden, unterliegen sie heute einem ständigen Anpassungsprozess. Die Wettbewerbsfähigkeit der Chemie-und-Pharmaindustrie -Aufgaben kann mit Digitalisierung und Modularisierung aufrechterhalten und verbessert werden.
Grundlagen für modulare Anlagenkonzepte wurden bereits 2009 im EU-Forschungsprojekt F3 Factory (Flexible, Fast and Future Factory) gelegt, an dem zahlreiche Chemieunternehmen, darunter BASF, Bayer und Evonik, sowie Universitäten und Forschungseinrichtungen beteiligt waren. Das Baukastenprinzip war schon damals die Leitidee. Es entstanden Standard-Container, aus denen ganze Fabriken zusammengestellt werden konnten – eine praktikable Option für einige Prozesse. Heute sind Containerlösungen – etwa von Lanxess zur Herstellung von Nachgerbstoffen aus Schnittresten der Lederindustrie – Realität.
„Modulare Produktion ist eine wichtige Strategie, um in der Industrie 4.0 die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen der Prozessindustrie zu erhalten."
Neben der physischen Zusammenschaltung der Module muss vor allem die Integration der Daten- und Automationsstrukturen geklärt werden. Denn auch, wenn die Expertise für die Unit Operation beim jeweiligen Modul-Anbieter liegt und die künftigen Betreiber sich nicht um die Details der Automatisierung kümmern wollen, besteht die Notwendigkeit, die Module einer Anlage in eine übergreifende Orchestrierungsebene zu integrieren. Mit MTP ist genau dies gelungen. Die Kunden der Modulhersteller definieren die gewünschten Funktionalitäten und Dienste, die Modulbauer kümmern sich um die Umsetzung und erzeugen dazu auch das für die einfache Integration notwendige MTP. Dass dies funktioniert, beweisen inzwischen schon etliche Anlagen- und Modulbauer, die zusammen mit den Anbietern der automatisierungstechnischen Komponenten und Systeme die Voraussetzungen geschaffen haben, um Anlagenmodule mit MTPs auszustatten.
In einigen Branchen der Prozessindustrie sind modulare Anlagen bereits weit verbreitet, etwa in der Pharma- und Biotechindustrie oder auch in der Lebensmittelindustrie. Mehr und mehr setzt sich die Überzeugung durch, dass die Modularisierung auch in der klassischen chemischen Produktion viele Vorteile mit sich bringt. Wichtig für den weiteren Erfolg des MTP-Konzepts werden folgende drei Faktoren sein:
- die nötige Nachfrage der Anwender. Auch wenn heute noch keine komplette Modularisierung möglich ist, werden die Module auf lange Zeit flexibel einsetzbar bleiben und auch künftige Anlagenprojekte beschleunigen.
- die Erweiterung bestehender Prozessleitsysteme um die MTP-Funktionalität, damit auch Bestandsanlagen von der neuen Möglichkeit, Package Units einzubinden, profitieren.
- die Internationalisierung des Standards, der zwar von den deutschen Organisationen NAMUR, ZVEI und VDMA getrieben wurde, der jedoch nicht zuletzt durch die weltweit tätigen beteiligten Unternehmen der Prozessindustrie global zum Einsatz kommen soll – hier wird auch die kürzlich in der MTP-Weiterentwicklung eingebundene Profibus Nutzerorganisation wichtige Aufgaben wahrzunehmen haben.
Michael Maiwald, Fachbereichsleiter Prozessanalytik, Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM)
„Die Überwachung spezifischer Informationen ist Voraussetzung für die „chemische“ Prozessführung."
Michael Maiwald, Fachbereichsleiter Prozessanalytik, Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), betont die Verbindung von MTP, Digitalisierung und Messtechnik: „Für mich stellen die Vorteile der modularen Produktion eine phantastische Möglichkeit dar, mit mäßigem Invest die Produktionslandschaft zu erneuern. Dazu fehlen aber noch zwei entscheidende Elemente: Zum einen ist ein flexibles Automatisierungskonzept erforderlich, da klassische Automatisierungsansätze aufgrund mangelnder Flexibilität und hoher Kosten für das modulare Konzept ungeeignet sind. Hier etablieren sich gerade sehr interessante Konzepte wie Module Type Package (MTP), Data Exchange for the Process Industry (DEXPI) auf Basis von OPC UA, Ethernet APL usw.
Zum anderen ist die Überwachung spezifischer Informationen, wie z. B. physikalisch-chemischer Eigenschaften, chemische Reaktionen usw., eine zwingende Voraussetzung für die „chemische“ Prozessführung, insbesondere wenn dabei gefährliche oder kurzlebige Zwischenprodukte gebildet werden. Im Gegensatz dazu sind die meisten heute weit verbreiteten Sensoren, die zusammen mit konventioneller Anlageninstrumentierung eingesetzt werden, immer noch unspezifisch. Um einen akzeptablen Weg zur chemischen Prozesssteuerung zu finden und damit Sensoren und Aktoren den Anforderungen der digitalen Transformation und den damit verbundenen Aufgaben in Zukunft besser gerecht werden können, müssen sie mit intelligenten Funktionen ausgestattet werden.“
Mehrwert durch Vernetzung
Eine gesteigerte Datentransparenz, bei der neben den Kernprozessdaten auch die sog. Vitaldaten und andere Zusatzinformationen erschlossen werden, trägt dazu bei, die Produktionskosten zu reduzieren und die Anlageneffizienz zu erhöhen. Viele Daten werden von modernen Feldgeräten bereits in den Anlagen erzeugt, aber kaum genutzt. Die NAMUR Open Architecture bietet einen leicht gangbaren Weg und behebt zugleich das Problem, dass dabei der Kernprozess nicht beeinträchtigt werden darf.
Die Idee hinter NOA: Der Kernprozess, repräsentiert durch die Automatisierungspyramide, bleibt unangetastet. NOA ergänzt die Pyramide um einen zweiten Datenkanal, der die installierte Basis nicht beeinflusst und somit deren Verfügbarkeit und Sicherheit auf keinen Fall beeinträchtigen kann. Dieser Seitenkanal erlaubt es, weitere Informationen von Anlagen-Assets wie Sensoren, Aktoren oder ganzen Anlagenmodulen über existierende standardisierte Schnittstellen zugänglich zu machen und mit ihnen zu arbeiten, ohne das Prozessleitsystem mit dieser Flut an Daten zu belasten.
Durch das NOA-Konzept erhält der Anlagenbetreiber ein vollständiges, strukturiertes Bild über den Zustand seiner Anlage. Damit eignet sich NOA sowohl für bestehende als auch für neue Anlagen. Alle relevanten Daten einer Anlage werden auf strukturierte und standardisierte Weise zugänglich. Neben den ohnehin verfügbaren Vitaldaten können also auch zusätzliche Daten, die über den „Gesundheitszustand“ der Anlage oder einzelner Assets Rückschlüsse zulassen, implementiert werden.
Sichere Querausgänge in den Seitenkanal, die sog. NOA-Dioden, werden ergänzt durch ebenso sichere Wege zurück. Mit Security by Design wird bei NOA Rückwirkungsfreiheit durch gezielte oder unabsichtliche Bedrohungen auf den Kernprozess sichergestellt. Darüber hinaus ist auch die Integrität und Vertraulichkeit der Informationen, die über NOA gewonnen werden können, zu gewährleisten.
Elementarer Bestandteil des NOA-Konzepts ist ein standardisiertes Informationsmodell mit Schnittstellen auf Basis von OPC UA, das die Syntax und Semantik des Datenaustausches definiert. OPC UA bringt als Vorteile die Fähigkeit zur Objektmodellierung, der Zertifizierung und die Unabhängigkeit von Transportmedium und Plattform mit. Da die großen Cloud-Anbieter wie Amazon (AWS), Google (GCP), Microsoft (Azure), SAP und Siemens (MindSphere) sich mit den führenden SPS-Anbietern zusammentun, ist das vielversprechend sowohl für die Automatisierungs- als auch die Digitalisierungswelt.
Unter dem Strich macht NOA Schluss mit proprietären Insellösungen: Als konsistente, standardisierte Lösung führt es zu Anwendungen, in denen viele Akteure innerhalb eines Ökosystems ihre Kompetenz einbringen können. Es ist absehbar, dass der NOA-Endnutzer in diesem Ökosystem aus einem Bündel von Lösungen auswählen kann.
Jörg Hähniche, Innovation Director bei Endress+Hauser Digital Solutions und Vorstand der Profibus Nutzerorganisation
„Mit dem Conformance Test ist die Grundlage für die Zertifizierung von Ethernet-APL Geräten gegeben."
Breitbandige Kommunikationstechnologie
Mit Ethernet-APL steht eine breitbandige Kommunikationstechnologie zur Verfügung, die dem NOA-Konzept gerecht wird. Da APL protokollunabhängig spezifiziert wurde, können verschiedene Protokolle parallel auf dem Netzwerk genutzt werden. Beispielsweise kann Profinet für die Prozesssteuerung verwendet werden, während mittels OPC-UA (MQTT) die Bereitstellung von Diagnose-Daten oder anderer wichtiger Informationen für die Prozessoptimierung genutzt wird.
Auch für MTP bildet APL eine gute Grundlage: Module sind einfach zu verknüpfen und es steht ausreichend Bandbreite für die Bereitstellung und den Austausch von Daten zur Verfügung. Aufgrund der Zweileiter-Technik für Kommunikation und Hilfsenergieversorgung ist mit APL eine einfache Anschaltung der Geräte möglich. Mit Hilfe der Switch-Technologie stehen automatisch zentrale Zugangspunkte für die Verknüpfung von Modulen zur Verfügung.
Auf die besondere Bedeutung der Qualitätssicherung von APL-Geräten weist Jörg Hähniche, Innovation Director bei Endress+Hauser Digital Solutions und Mitglied des Vorstandes der Profibus Nutzerorganisation hin: „Zur Qualitätssicherung von Produkten mit Ethernet-APL gehört auch die Überprüfung der Physical Layer Konformität. Hier sind bereits erste Tests mit prototypischen Geräten durchgeführt worden. Im ersten Quartal dieses Jahres wird der Conformance Test mit den Testtools freigegeben, so dass die Grundlage für die Zertifizierung von Ethernet-APL Geräten gegeben ist. Diese Tests werden in die Zertifizierungstests zum Beispiel für Profinet der PNO mit integriert.“
Ein wichtiger Baustein für die Akzeptanz von APL-Geräten in der Prozessautomatisierung ist die Geräteintegration in Asset-Management-Systeme. Auf Basis der Kooperation von PNO mit der Fieldcomm Group (FCG) wurde mit FDI, der Field Device Integration, eine Integrationstechnologie bereitgestellt, die vergangene Probleme bei der Geräteintegration lösen soll. Hähnich dazu: „Viel Wert wurde darauf gelegt, dass nur noch ein Gerätetreiber für alle Host-Systeme bereitgestellt werden muss. Damit verringert sich die Komplexität bei der Gerätetreiber-Bereitstellung erheblich. Erste Use Cases mit Ethernet-APL und FDI konnten bereits 2021 erfolgreich demonstriert werden. FDI wird ein fester Bestandteil zusammen mit Profinet sein.“
Auf der im August 2022 stattfindenden Achema soll APL mit FDI auf Basis realer Produkte demonstriert sowie Auskunft über den aktuellen Stand des Zertifizierungsprozesses gegeben werden.
Autor: Volker Oestreich, CHEManager
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