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Schafft sich die Industrie selbst ab?

NAMUR Kolumne: Prozessindustrie

17.04.2023 - Das letzte Jahr war gerade in Deutschland von einer Diskussion über die Zukunft der Industrie geprägt.

Aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von Erdgas und bezahlbarer Energie stand die chemische Industrie besonders im Fokus. Als die Preise dafür in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukra­ine durch die Decke gingen, war klar, dass dauerhaft unter diesen Bedingungen ein wirtschaftlicher Betrieb vieler Anlagen nicht darstellbar ist, siehe z.B. die dauerhafte Schließung einer Ammoniakanlage in Ludwigshafen oder vorübergehende Knappheit bei Düngemitteln für die Landwirtschaft.

Auch das mittlerweile wieder erreichte Preisniveau ist noch signifikant höher als in Wettbewerberregionen wie den USA, dem mittleren Osten oder China – von Entwarnung kann keine Rede sein. Aber wir als Prozessindustrie müssen uns auch an ganz anderer Stelle selbstkritisch fragen, ob wir genug tun, damit wir uns nicht selbst abschaffen: bei Talenten und Expertise.

Kompetenzen firmenübergreifend komplementieren

Eine Stärke der NAMUR ist die Vernetzung fachlicher Expertise im Bereich der Automatisierung über Firmengrenzen hinweg. Sie kompensiert damit teilweise den Trend in vielen Mitgliedsfirmen, Fachexpertise abzuschmelzen. Die Zeiten, in denen eine Dow ihr eigenes Prozessleitsystem entwickelt und nutzt, eine Bayer eigene Messtechnik fertigt oder in verschiedenen Firmen die zentrale Werkstatt Edelstahlgrills für den Direktorengarten schweißt, sind vorbei – zum Glück! Denn in einer arbeitsteiligen Welt können Unternehmen der Prozessindustrie sicherlich viel besser die nächste und nachhaltige Anwendung chemischer Substanzen oder ein Heilung bringendes Krebsmedikament entwickeln.

Wir erleben in der Automatisierungstechnik einen Trend hin zu offenen, softwarebestimmten Systemen, weg von proprietärer (teurer!) Hardware – Ethernet steht vor der Einführung bei Sensorik und Aktorik in der Anlage. Andererseits sehen manche die damit verbundene Konnektivität und Offenheit skeptisch: Cybersecurity wird von den Regulierungsbehörden mittlerweile mit einer wachsenden Zahl an Vorschriften eingefordert und teils kleinteiligst abgeprüft. Zusätzlich zum Werkszaun um die Anlage wünscht sich mancher daher eher den „air gap“, also die Handbreit Luft zwischen Anlage und Internet.

So offenbart sich jetzt das Dilemma: Wenn ich mich immer mehr auf Zulieferer und Servicepartner verlasse, wann verliere ich die Kompetenz, die für meine Kernprozesse notwendigen Lösungen zu spezifizieren und nach Implementierung auch abzunehmen, zu betreiben und zu optimieren?

Über Verbände wie die NAMUR kann ich meine Kompetenzen firmenübergreifend komplementieren: meine Expertin in Druckmesstechnik bringt ihre Erfahrung ein, dafür kann ich mich beim Arbeitskreis Robotik informieren; die Erfahrungen aus der Einführung von Ethernet im explosionsgeschützten Bereich ergänzen das Wissen eines anderen bzgl. Eichrecht oder sicherem Datentransfer. Nur wenn auch firmenübergreifend das kollektive Wissen zu dünn wird, ist es Zeit gegenzusteuern!

Sicherheit wirtschaftlich gestalten

Ein konkretes Beispiel dafür, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, ist NAMUR.smart! Zur Beurteilung der Zuverlässigkeit von Sicherheitseinrichtungen bringen hier Betreiberfirmen die Ergebnisse ihrer wiederkehrenden Prüfungen in eine gemeinsame Datenbank ein. Dank zuverlässiger Planung und bewährter Gerätetechnik kommen Fehler erfreulich selten vor. Das macht es aber einzelnen Firmen fast unmöglich, aussagekräftige Fehlerstatistiken zu generieren. Erst durch das Poolen der Daten und eine entsprechend große Datenbasis – heute haben wir mehr als 250.000 Geräte in NAMUR.smart – können wir Fehlerraten von Ventilen, Füllstands– und Temperaturmesssystemen etc. bestimmen. Das spart bares Geld: wir bauen Redundanzen nur dort ein, wo erforderlich und nicht auf Verdacht, weil wir nur mit höheren generischen Fehlerraten arbeiten können – wir nutzen Zahlen aus der Praxis. Wir können Prüfungen an Sicherheitseinrichtungen auf ein sinnvoll notwendiges Maß reduzieren, weil wir das Ausfallverhalten besser bewerten können und optimieren damit Stillstandzeiten.

Der Apell am Ende dieser Kolumne ist klar: Stellen Sie ausreichende Expertise in Ihrem Unternehmen sicher und bringen Sie sich ein in die NAMUR, um diese Expertise mit anderen zu teilen und davon selbst wieder zu profitieren. Und: machen Sie mit bei NAMUR.smart – es lohnt sich!

Autor: Felix Hanisch, Bayer, Vorstandsvorsitzender der NAMUR

 

Schneider Electric ist Sponsor der NAMUR-Hauptsitzung 2023.

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