Radikaler Aufbruch zur Zukunftssicherung der Chemiestandorte
Kolumne Perspektivenwechsel von Prof. Carsten Suntrop
Der Chemiestandort mit seiner Fläche, seinen Infrastrukturen, seinen Industriedienstleistungen, seiner Lage, seinen Konzessionen und seinen Produktiosverbünden ist ein begehrenswertes Gut. Die Zukunft der Chemie in Europa und Deutschland kann je nach Stimmungslage sehr unterschiedlich eingeschätzt werden – die Einen sagen Wachstum durch höhere Nachfrage und Erweiterungsinvestitionen voraus und Andere wiederum Stagnation und keine weiteren Neu-Investitionen.
Mit Blick aus der konservativen Perspektive wird die Petro- und Basischemie ihre existierenden Anlagen auslasten. Die Hoffnung liegt auf der Spezialchemie und Abnehmerbranchen wie Pharma, Agrarchemie und Automotive. Die Rohstoffquellen liegen weiterhin außerhalb Europa, die Rohstoffzufuhr müsste bei leichtem Wachstum steigen und die Abnehmermärkte sind außerhalb und nicht innerhalb von Deutschland zu suchen.
Der Bedarf an Chemiestandort-Flächen und -Infrastrukturen würde bei dieser Entwicklung stagnieren oder gar rückläufig sein. Aus dieser Perspektive resultiert dann die Hypothese, dass das begehrenswerte Gut Chemiestandort kein Engpass Faktor in der Entwicklung von Chemieunternehmen mehr ist. Es würden mehr Chemiestandorte in Deutschland und Europa zur Verfügung stehen, als in Zukunft benötigt würden. Diese Aussage ist nicht bestätigt und schon gar nicht populär. Aber für die Entwicklung von Strategien für Chemiestandorte und der langfristigen Sicherung von Arbeitsplätzen an den Standorten müsste es ein massives Signal sein, ob die Chemiestandort-Strategie „Halten“ und damit verbundene Unternehmenskultur „keine Fehler und bewahren“ mittel- bis langfristig glücklich ist.
Der Rückschluss aus dieser Hypothese geht in zwei Richtungen. Bei der einen Entwicklungsrichtung stellen sich die Chemieunternehmen mit ihren Chemiestandorten auf den Rückgang ein und schaffen alternative Nutzungskonzepte und/ oder finden sich mit den Ewig-Kosten des Altlasten-Managements ab. Die andere Entwicklungsrichtung müsste konservative Strukturen aufbrechen und den Erfinder- und Unternehmergeist, der Deutschland zur Chemie-Nation Nr. 4 in der Welt gemacht hat, „reengineeren“. In einer engen Zusammenarbeit mit innovativen Service-Konzepten der Chemiestandortbetreiber im Bereich Vermarktung, Logistik, Forschung & Entwicklung und Produktion würde neue Produkte, neue Anwendungen, neue Service-Pakete für den internationalen Markt entstehen. Diese Impulse können auch aus den Chemiestandorten, von den Betreibern von Flächen und Infrastrukturen als auch den Industriedienstleistern kommen – die neue, frische Service-Kultur wird die forschenden und produzierenden Chemieunternehmen infizieren, in Deutschland das „letzte Hemd“ dafür zu geben, besser zu sein als andere Branchen und Nationen, um weltweit mindestens die 4. Position zu stärken.