Quantifizierte Unsicherheit
Chemieunternehmen können mit strukturiertem Innovationsmanagement feindlichen Marktbedingungen trotzen
Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland investiert zu wenig in Forschung und Entwicklung: Gerade einmal 6 % des Branchenumsatzes geben die Unternehmen dem Verband der chemischen Industrie (VCI) zufolge für das eigene Innovationsmanagement aus. Doch angesichts des zunehmenden Innovationsdrucks durch globale Wettbewerber, wie bspw. die wachsende Chemieindustrie in China, stellt sich die Frage, wie deutsche Unternehmen mehr Geld für die Entwicklung und Markteinführung innovativer Produkte rechtfertigen können.
Wer mit dem sich schnell wandelnden Marktumfeld in der Chemiebranche nicht mithalten kann, muss mit fallenden Gewinnspannen und schlimmstenfalls mit einer Gefährdung wichtiger Standbeine rechnen. Die bspw. aufgrund wachsender Präsenz asiatischer Unternehmen, Anforderungen der Nachhaltigkeit oder Konsolidierung der Branche zunehmende Volatilität führt dazu, dass kein Geschäft mehr sicher ist. Umso wichtiger ist es, mit einem strukturierten Innovationsmanagement den feindlichen Marktbedingungen zu trotzen.
Auch wenn verschiedene strategische Initiativen wie inkrementelle Produktweiterentwicklungen oder Prozessoptimierungen durch Chemie 4.0 vorangetrieben werden, fehlen in den meisten Unternehmen disruptive Innovationen. Dies liegt daran, dass viele Großunternehmen zurzeit fast ausschließlich auf marktgetriebene und fast gar nicht auf technologiegetriebene Ideengenerierung setzen. Denn der Fokus auf die Befriedigung unmittelbarer Kundenbedürfnisse und die damit einhergehende Verbesserung von bestehenden Produkten unterdrückt die Fähigkeit, komplett neue Produkte zu entwickeln und neue Märkte zu schaffen.
Risikoscheu ablegen
Doch warum vermeiden Unternehmen die Entwicklung gänzlich neuer Produkte trotz ihres hohen Potenzials? Der Grund sind die mit disruptiven Innovationen einhergehenden hohen Investitionen bei einer großen Ungewissheit und einem hohen Risiko. Dabei werden die Chancen häufig unterbewertet, besonders in den Unternehmen, deren Unternehmenskultur von kurzfristigem Denken und einer Scheu vor Risiko geprägt ist. Dieses Problem ist oftmals hausgemacht: Anstatt bei Entscheidungen zur Innovationsstrategie für eine verständliche Sicht auf mögliche Zukunftssituationen und ihre Eintrittswahrscheinlichkeiten zu sorgen, beschreiben die meisten Unternehmen lediglich die Zukunft und thematisieren das Risiko nur in einer qualitativen Diskussion über mögliche Probleme. Doch durch das mangelnde Beziffern der Unsicherheit genehmigen Unternehmen oftmals nicht das nötige Budget für risikoreichere Innovationsalternativen trotz deren hohen Potenzials.
Ungewissheit greifbar machen
Um die Investition in eine risikoreichere Produktentwicklung dennoch zu rechtfertigen, ist ein systematischer Ansatz erforderlich, der die einzelnen technischen und kommerziellen Unsicherheitsfaktoren quantifiziert und gleichzeitig bisher unentdecktes Innovationspotenzial offenlegt. Dadurch können Unternehmen nicht nur die beste Strategie zur Realisierung einer neuen Idee identifizieren, sondern auch eine Plattform schaffen, um ein geteiltes Verständnis für Kompromisse zu entwickeln, Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken und Verantwortlichkeiten festzulegen.
Zu Beginn müssen Unternehmen festlegen, was sie mit einem neuen Innovationsprojekt erreichen möchten und wie sie den Erfolg messen können. Welchen Nutzen bei der Anwendung streben sie an und schaffen sie dadurch einen strategischen Wettbewerbsvorteil? Innerhalb dieser Rahmenbedingungen gilt es, verschiedene Innovationsstrategien zu entwickeln, die sich durch ihre Chancen und Risiken wesentlich von den anderen unterscheiden. Im Anschluss daran muss die Spannweite der zukünftigen Ergebnisse bei allen wichtigen Einflussfaktoren für die Wirtschaftlichkeit eines Projektes, wie Ressourcenaufwand und erzielbaren Marktanteilen, ermittelt und mit Wahrscheinlichkeiten gewichtet werden. Zudem muss das Unternehmen definieren, welchen Wert die jeweilige Auswirkung für die anfangs festgelegte Zielsetzung hat.
Innovationsbudget rechtfertigen
Erst nachdem ein Unternehmen diese Vorarbeit geleistet hat, kann es die unterschiedlichen Innovationsstrategien miteinander vergleichen, indem es für jede Strategie das Risikoprofil und einen Gesamtwert berechnet - und zwar jetzt auf allgemein akzeptierter Basis. Nur so kann es sie gegeneinander abwägen und Kompromisse eingehen. Denn in der Regel gibt es keine Innovationsstrategie, die kostengünstig und risikolos ist sowie gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit steigert.
Die Auswertung kann etwa ergeben, dass die Nutzung einer bestehenden Technologie zur Herstellung neuer Produkte einen wahrscheinlichkeitsgewichteten Nettobarwert von 200 Mio. EUR und ein Risiko von 10 % hat, das Geld in Sand zu setzen, während die disruptive Innovationsalternative unter Nutzung einer gänzlich neuen Technologie zwar ein höheres Risiko von 25 % aufweist, aber einen Gesamtwert unter Berücksichtigung diese Risikos von 400 Mio. EUR erwirtschaften kann. Zudem kann der Betrag einzelner Einflussfaktoren zu diesem Risiko berechnet werden. Dadurch können Gegenmaßnahmen und frühe Warnsignale zur Minimierung des Risikos aufgedeckt werden.
Innovationsalternativen umsetzen
Insgesamt kann das Unternehmen durch diese Vorgehensweise besser mit Unsicherheit umgehen und zu der Entscheidung kommen, die seinen Bedürfnissen am besten entspricht und mit rationalen Argumenten wie den quantifizierten Ergebnissen verteidigt werden kann. Der Umsetzung der gewählten Innovationsalternative steht dann nichts mehr entgegen, da durch die Bewertung der Unsicherheit, die Risiken besser eingegrenzt werden können und andere Innovationsalternativen aufgrund ihres schlechteren Chancen-Risiko-Verhältnisses ausgeschlossen wurden. Wenn bei Innovationen regelmäßig so vorgegangen wird, ist auch ein höheres Innovationsbudget gerechtfertigt.