Offene Strukturen für die industrielle Kommunikation
Ja bitte, aber welche denn nun?
Offene Strukturen für die industrielle Kommunikation – mit durchgängigen Konzepten für die Geschäftsprozesse von der Fertigung bis zum After-Sales-Service – sollen die Wertschöpfung auch in der chemischen Industrie deutlich steigern. Ist Offenheit also das Allheilmittel für die digitale Welt? CHEManager sprach darüber mit Michael Krauß, Senior Automation Manager Control Systems Technology bei der BASF. Das Gespräch führte Volker Oestreich.
CHEManager: Die verfahrenstechnische Industrie fordert - vertreten durch ihr Sprachrohr NAMUR - seit vielen Jahren von den Herstellern von Automatisierungstechnik, dass sie sich auf eine gemeinsame Kommunikationstechnologie einigen und den Wettbewerb schwerpunktmäßig auf die System- und Geräteebene verlagern. Verschärft sich diese Forderung jetzt mit der Einführung von Industrie 4.0 und dem IIoT?
M. Krauß: Schon lange vor den Tagen von Industrie 4.0 wurde die mangelnde Interoperabilität und gegenseitige Austauschbarkeit von Systemen als Herausforderung für die Prozessindustrie identifiziert. Während die Nachteile des daraus resultierenden Vendor Lock-In schon immer präsent waren, wird der eingeschränkte Informationsaustausch durch die Schwierigkeit in der Umsetzung von Industrie 4.0-Anwendungsfällen verschärft kritisch betrachtet.
Können Sie das etwas konkretisieren?
M. Krauß: Werfen wir einfach mal den Blick in die Vergangenheit. Da findet man Anwendungsfälle, die zyklisch auftauchen, aber nie so richtig den gewünschten Mehrwert erzeugen. Zum Beispiel der Feldbus. Bereits 1996 gab es auf der NAMUR Hauptversammlung einen Vortrag „Der Feldbus zwischen Wunsch und Wirklichkeit“, 2001 hieß es dann „Statusbericht Feldbusinstallationen“. Der klassische Feldbus hat den Raum zwischen Wunsch und Wirklichkeit noch gar nicht richtig verlassen, da hat sich schon Ethernet dazu gedrängt: 2011 gab es den Vortrag „Ethernet in the Field, Wunsch und Wirklichkeit“ und heute heißt es „Ethernet im Feld“.
Weitere Themen, die mir spontan einfallen, sind die intelligenten Aktoren - die bereits seit 15 Jahren verkauft werden -, die Kopplung zwischen Planungs- und Leitsystemen oder die durchgängige Integration von Prozessen vom ERP bis ins Feld. Wenn man einmal davon ausgeht, dass der versprochene Mehrwert tatsächlich existiert und wir ihn nur wiederholt nicht heben können, dann müssen wir uns fragen, warum. Warum haben wir nicht mehr erreicht? Die ganzen guten Ideen stehen ja im Raum, vieles wurde auch umgesetzt, aber vielleicht nicht in einem vollständig zufriedenstellenden Maß.
Es gilt ja quasi als gesetzt, dass die Digitalisierung nur mit offenen Plattformen weiter vorankommen kann ...
M. Krauß: Das mag im großen Ganzen richtig sein, wird an manchen Stellen aber auch sehr dogmatisch postuliert. In Folge dessen ist eine Vielzahl von Aktivitäten entstanden, die auf den ersten Blick nicht unbedingt kompatibel sind. Und wenn wir dann zum Schluss mehrere konkurrierende offene Plattformen bekommen, die von jedem ein bisschen bedient werden, sind wir vielleicht sogar schlechter dran, als wären wir in proprietären Linien geblieben.
Brauchen wir dann wirklich offene Architekturen?
M. Krauß: Wir haben ja gesehen, dass viele Potenziale ungenutzt brach liegen. Oftmals stehen diese Probleme im Zusammenhang mit fehlenden Plattformen, fehlenden Interfaces für die Interoperabilität, fehlenden Datenmodellen und Informationsmodellen. Wir haben sehr viele Silos von Applikationen.
Und dann kommt man mit den Überlegungen irgendwann zu dem Punkt, dass eine lokale Optimierung nicht ausreicht, sondern dass man tiefgreifender umbauen muss, um ein globales Optimum herbeizuführen. Da die Interoperabilität von System oft die Wurzel des Übels ist, führt einen dieser Gedankengang zu disruptiven Ansätzen, um die guten Ideen unter dem Blickwinkel der Wirtschaftlichkeit zum Ziel zu bringen. Auf Basis dieses Verbesserungsbedarfs wurden an verschiedenen Stellen Initiativen mit Bezug zur Prozessindustrie gestartet, um offene Architekturen und allgemeingültige Datenmodelle für Engineering, Betrieb und Maintenance zu schaffen.
Welches sind aus Ihrer Sicht derzeit die wichtigsten Aktivitäten in dieser Richtung?
M. Krauß: Das sind aus meiner Sicht die NAMUR Open Architecture (NOA), die im Jahr 2016 erstmals vorgestellt wurde, die Module Type Package Initiative von NAMUR und ZVEI sowie die von Exxon Mobil inspirierte Open Group Aktivität zur Schaffung einer neuen, vollständig offenen Automatisierungsarchitektur.
Wo liegen die Unterschiede oder auch die Gemeinsamkeiten dieser Aktivitäten?
M. Krauß: Beginnen wir mit der NAMUR Open Architecture. Ihr Fokus liegt klar auf der installierten Basis, da typische NAMUR-Vertreter bereits große Teile der Leitsystem-Dinosaurier abgelöst haben und nicht in den nächsten zehn Jahren wieder grundlegende Wechsel vor sich sehen. Hier wird deshalb die bewährte Struktur der Automatisierungspyramide beibehalten mit dem Ziel, deren bewährte Vorteile wie zum Beispiel die Hochverfügbarkeit zu erhalten, und gleichzeitig wird quasi eine Parallelspur geschaffen, um den Datenverkehr übergreifend und offen zu gestalten, um sich sicher in der digitalen Welt bewegen zu können.
Dann gibt es die Module Type Package Initiative von NAMUR und ZVEI. Sie bedient das Konzept der Modularisierung mit dem Ziel der einfachen Einbindung von Units, um Anlagen kostengünstig und schnell – Stichwort time-to-market – errichten und modifizieren zu können. Der branchenmäßige Fokus liegt hier besonders in den Bereichen Feinchemie, Food & Beverage und Pharmaindustrie. Die klassische Großanlage profitiert zwar auch von der leichteren Einbindung einzelner Units, ist wegen ihrem integrierten Charakter aber selten komplett aus solchen zusammengesetzt.
Der deutlich disruptive Ansatz der Open Process Automation ist vor allem von Exxonmobile getrieben. Hier soll ein Standard entstehen, der die Architektur der Automatisierung grundlegend revolutioniert mit offenen Systemen und Sprachen auf allen Ebenen. Die Open Process Automation soll helfen, dem klassischen kostenintensiven Migrationszyklus durch eine komplett offene Automatisierung zu entkommen.
Gibt es Chancen, zu einer einheitlichen offenen Struktur zu kommen?
M. Krauß: Das Open Process Automation Forum zeigt großes Interesse am MTP Standard. Beispielsweise ist der HMI-Teil von MTP, bei dem herstellerunabhängig Prozessgrafiken beschrieben werden und die sich dann nativ im jeweiligen Prozessführungssystem aufbauen, so ein Standard, auf dem die Open Group aufsetzen will, um daraus einen Meta-Standard für eine Gesamtarchitektur zu bauen. Als NAMUR kann man dies nur begrüßen, besonders da MTP ja noch deutlich über das HMI hinaus erweitert werden wird. Damit könnte dieser Standard als Türöffner und Verbindungselement zwischen den Ideen der NAMUR und der Open Group fungieren. Wenn jedes Leitsystem es unterstützt, nicht nur Units zu integrieren, sondern auch eigene Informationen nach außen zu propagieren, wäre das ein denkbarer Kanal um damit an die Real-Time Service Bus und Computing Plattform-Ansätze der Open Group anzudocken. Damit könnte man dann die „Monitoring and Optimization“ Schicht von NOA innerhalt der OAPF Architektur realisieren, ohne eine neue Lösung zu finden. Ebenso kann man die Prozessführungsebene der Modularisierung dort ansiedeln. Damit ist nicht nur Kompatibilität geschaffen, sondern auch ein Evolutionsweg aufgezeigt, wie Funktionen nach und nach in offene Plattformen wandern, ohne getätigte Investitionen zu verschwenden. Das Tempo kann dann in erster Näherung jeder Betreiber gemäß seinen Branchenanforderungen selbst festlegen.
Wie geht es konkret weiter?
M. Krauß: Zurzeit befindet sich ein Memorandum of Understanding in der Ausarbeitung zwischen Open Group, ZVEI und NAMUR. Im April ist angedacht, die ersten Ideen der Kompatibilität in einem gemeinsamen Workshop auf eine technisch fundierte Basis zu stellen. Die verschiedenen Open-Ansätze sind nicht widersprüchlich, sondern besitzen viel Synergie-Potenzial und wir stimmen uns über Wege ab, wie wir gemeinsam das Thema weiterbringen können. Dies ist auch unbedingt notwendig, denn wir wollen unnötige Doppelarbeit vermeiden und auch keinen neuen Feldbus- beziehungsweise Open Automation-Krieg herbeiführen, sondern die Investitionen sowohl der Anwender als auch der Hersteller von Automatisierungstechnik schützen. Entweder wir kooperieren, oder jede der Initiative ist zum Scheitern verurteilt.