Chemie & Life Sciences

Neue Technologien und Materialien für die Mobilitätsrevolution

Interview mit Rinspeed-Chef Frank Rinderknecht über Konzepte für die Mobilität der Zukunft

06.09.2019 -

Disruptive Innovationen und digitale Technologien verändern die Mobilität in einer noch nie dagewesenen Geschwindigkeit. Die „alte Welt“ der traditionellen Automobilhersteller trifft auf die „neue Welt“ der IT-Konzerne. Die Schweizer Automobilmanufaktur Rinspeed, die seit 40 Jahren visionäre Mobilitätskonzepte entwickelt, bewegt sich zwischen diesen beiden Welten. Bekannt ist das Unternehmen für seine spektakulären Konzeptfahrzeuge mit aufsehenerregenden Designs und innovativen Ideen, im Frühjahr wurde das insgesamt 25. Concept Car präsentiert. So treibt Firmengründer und CEO Frank M. Rinderknecht den technologischen Fortschritt stetig voran, dabei geht es längst nicht mehr nur um Autos, sondern um ganzheitliche und nachhaltige Mobilitätskonzepte. Michael Reubold befragte den Visionär über seine aktuellen Projekte und seine Vorstellungen von der Mobilität der Zukunft.

CHEManager: Herr Rinderknecht, seit 40 Jahren sorgt Rinspeed mit revolutionären Automobilkonzepten für Furore. Im 21. Jahrhundert bestimmen andere gesellschaftliche Bedürfnisse und technologische Möglichkeiten als früher die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte. Gehen Sie Ihre Projekte heute anders an als in den 1980er und 1990er Jahren?

Frank M. Rinderknecht: Unsere Arbeit hat sich in den letzten sechs oder acht Jahren grundsätzlich verändert. Zuvor ‘plätscherte‘ die Automobilwirtschaft eher ruhig und gemächlich vor sich hin – behutsam evolutionär war angesagt, sicher keine Revolution. So mussten wir uns auch wahrgenommen ‘verrückten‘ Projekten wie dem sQuba als einziges richtig tauchfähiges Auto der Welt bedienen, anstatt eine Seriennähe unserer Ideen anzustreben. Obwohl es zu vermerken gilt, dass wir bereits in den Achtzigern das multifunktionale Lenkrad erfunden haben – heute ein fester Bestandteil in fast jedem produzierten Auto­mobil.
Mit Einzug der IT als Oberbegriff für Elektrifizierung und autonomes Fahren hat sich die Landschaft für uns grundlegend verändert. Unsere Projekte sind mittlerweile stark skalierungsfokussiert. Gerade das von uns vor zwei Jahren lancierte modulare Aufbaukonzept hat sehr guten Anklang und somit zahlreiche Nachahmer gefunden.
 

„Fahrzeuge im Eigenbesitz werden aussterben oder gar verboten werden.“

Der große Trend beim Thema Mobilität generell und im Automobilbau im Besonderen ist heute neben emissionsarmen Antriebskonzepte die Integration von Informations- und Kommunikationstechnik in die Fahrzeuge. Viele verstehen ein Auto nicht mehr als Fortbewegungsmittel, sondern als rollendes und künftig sogar autonom fahrendes Kommunikationsgerät.

F. Rinderknecht: Ich sehe die Analogie eines zukünftigen Fahrzeuges zu einem Smartphone als veraltet und recht unzutreffend an. Die Aufgabenstellungen und Anforderungen in einem autonomen Fahrzeug sind zu denen eines Smartphone kaum vergleichbar. Sie sind viel komplexer, vielfältiger, aber auch massiv anspruchsvoller als in einem ‘Portable Device‘.

Dennoch werden Automatisierung und Digitalisierung beinahe unserer kompletten Umwelt auch unsere Nutzung von Automobilen und anderen Verkehrsmitteln künftig verändern.

F. Rinderknecht: Für mich ist klar: Automatisiertes Fahren bedingt eine neue und grundlegend andere Definition vom Automobil, respektive Fahrzeug, eine andere Nutzung und auch einen anderen Business Case. Farbiges Blech beim Händler kaufen und Jahre lang besitzen und rumstehen lassen: diese Zeiten werden dann vorbei sein.

Anstatt im eigenen Auto zur Arbeit und nach Hause zu fahren werden wir also künftig gleich im geteilten bzw. auf Zeit gemieteten Auto arbeiten und entspannen können?

F. Rinderknecht: Jeder wird seine Beschäftigung in einem autonomen Fahrzeug selbst neu definieren. Sie wird aber tageszeit- oder launen-abhängig sein. Auch geteilte Mobilität wird fragmentiert und segmentiert sein, halt nur anders als heute, und ganz wichtig: auch mit neuen Markenwerten versehen.

Sie haben früh alternative Antriebe in Ihren Konzeptfahrzeugen eingesetzt, als das Thema Klimawandel zwar bereits gegenwärtig war, aber noch nicht die Medien beherrschte. Wie beurteilen Sie heute die Diskussion um einen Ausstieg aus fossilen Treibstoffen, welchen Alternativen räumen Sie langfristig die besten Chancen ein?

F. Rinderknecht: Für mich geht es im Grundsatz um die beiden Oberbegriffe ‘Erneuerbarkeit‘ und ‘Nachhaltigkeit‘. Der Weg dahin ist steinig, aber ohne Zweifel ein unabdingbares Muss. Die oft geführten, aber aus meiner Sicht nicht zielführenden Diskussionen über die Gesamtbilanz eines heutigen Elektrofahrzeugs, welches mit Kohle bestromt wird, mangeln an konkreten Alternativen, außer derjenigen, mit der Fortführung der fossilen Brennstoffe weiterzumachen.
Wer wiederlegt mir, dass es vielleicht eine erneuerbare Energieform gibt, welche wir einfach noch nicht entdeckt haben? Ich meine, wir müssen das große Bild anschauen und uns nicht im Kleinen endlos disputieren. Vor zehn Jahren hätte ja auch keiner gedacht, dass heute fast die ganze Menschheit mit einem Smartphone in der Tasche herummarschiert.

„Die Vergangenheit hat bewiesen, dass sich die Menschheit nur durch gehörigen Leidensdruck verändert.“

Trotz emissionsärmerer Antriebe werden die wachsende Bevölkerung und der Platzbedarf für individuelle Mobilität in unseren Städten – sei es mit Autos, Motorrollern, Fahrrädern, eScooter oder sonstigen Fortbewegungsmitteln – ein Umdenken erzwingen und eine bessere Infrastruktur für die öffentliche Personenbeförderung erfordern. Haben Sie hierfür eine Lösung?

F. Rinderknecht: Die urbane Mobilität braucht weitergehende Impulse und Modelle als nur inkrementelle Schritte, um die anstehenden Mobilitätsprobleme möglichst nachhaltig in Angriff zu nehmen. Die Vergangenheit hat bewiesen, dass sich die Menschheit nur durch gehörigen Leidensdruck verändert. Dieser ist heute noch nicht groß genug, um maßgebliche Veränderungen zu bewirken. Ich sehe aber, dass die großen Städte weltweit sehr bald aktiv eingreifen und regulieren werden. Die ‘First Mover‘ sitzen wahrscheinlich in China, da dort die Entscheidungswege anders strukturiert sind als bei uns. Veränderungen können über Nacht angestoßen werden, ohne dass demokratische Prozesse berücksichtigt werden müssen.

Auch der weltweit drastisch zunehmende interkontinentale und intermodale Güterverkehr erfordert neue Konzepte, nicht nur im Fahrzeugbau. Wie stellen Sie sich den Warentransport in der Zukunft vor?

F. Rinderknecht: Ich sehe eine urbane Verschmelzung von Personentransport und der sogenannten Supply Chain. Je nach Tageszeit und lokalem Bedarf werden diese Segmente bedient. Das modulare Fahrzeugkonzept ist dazu eine ideale Ausgangslage, können einfach und schnell die passenden Behältnisse dargestellt werden. Auf langen Strecken wird die traditionelle Fahrzeugform wohl eher Bestand haben, wobei auch dort der Fahrer früher oder später verschwinden wird.

Die zu erwartenden tiefgreifenden Veränderungen im Individualverkehr, im öffentlichen Verkehr und beim Gütertransport werden also andere als die traditionellen Fahrzeugkonzepte, bei denen Chassis und Karosserie als Einheit entwickelt werden, bedürfen? Wird es eine Revolution im Fahrzeugbau geben, hin zu mehr Modularität?

F. Rinderknecht: Ja, der Grundgedanke unserer modularen ‘Snap‘-Strategie beruht auf der leider in der Automobilwirtschaft noch nicht sichtbar wahrgenommen Tatsache, dass die Lebenszyklen zwischen Mechanik und IT unheimlich auseinanderklaffen und sich – dem Moore’schen Gesetz sei Dank – auch rasant weiter voneinander entfernen werden. Was bei veralteten Komfortprodukten wie Infotainment noch zähneknirschend hinnehmbar ist, wird sich beim autonomen Fahren schnell auch einmal fatal auswirken. Der modulare Ansatz hilft, diese enorme Differenz von drei bis vier Jahren IT-Life-Cycle und bis zu 20 Jahren Lebensdauer mechanischer Komponenten zusammenzubringen. Der ‘Snap‘ verfolgt konsequent den Lösungsansatz, die intelligenten und damit rasch alternden und anteilsmäßig teuren Komponenten von den langlebigen Fahrzeugbestandteilen zu trennen.

Wird auch die Wiederverwertung der verwendeten Materialien nach der Nutzungsdauer zunehmenden Einfluss auf die Konstruktion und das Design künftiger Fahrzeuge haben?

F. Rinderknecht: Absolut, auch bei den Materialen müssen die zwei Oberbegriffe Erneuerbarkeit und Nachhaltigkeit viel mehr berücksichtigt werden. Auf Dauer können wir diesem Planeten nicht nur alles Erdenkliche entnehmen.

Welche Rolle spielen dabei Materialien wie Kunststoffe, die eine lange Lebensdauer haben und den Entwicklern eine fast grenzenlose Designfreiheit und deutliche Gewichtsersparnis erlauben?

F. Rinderknecht: Kunststoffe sind eine feine Sache. Nur, was löst die fossile Basis von vielen Kunststoffen in Zukunft ab? Wie können sie auch in großen Mengen alternativ hergestellt werden?

Wie stellen Sie sich die individuelle Mobilität in zehn oder zwanzig Jahren vor, wenn es trotz aller Innovationen aufgrund von Klima­schutz und Platzknappheit in unseren Städten wahrscheinlich immer mehr Einschränkungen geben wird?

F. Rinderknecht: Geteilte und wahrscheinlich von den Städten direkt oder indirekt betriebene ‘Mobility-­as-a-Service‘-Eco-Systeme werden zum urbanen Alltag gehören. Fahrzeuge im Eigenbesitz werden aussterben oder gar verboten werden.

Wird bis dahin auch das Thema autonomes Fahren Realität sein?

F. Rinderknecht: Wir werden automatisiertes Fahren schon recht viel früher sehen. Nicht überall, mit unbeschränkter Geschwindigkeit und unter allen Witterungsbedingungen, aber in kleinen Schritten dürften nicht mehr viele Jahre vergehen, um autonome Fahrzeuge anzutreffen.

Statt der heute noch boomenden SUVs werden wir also in der Zukunft auf Modulkonzepten basierende LIVs – Life-Enhancing Intelligent Vehicles – fahren, die Sie bereits mit Partnern entwickelt haben?

F. Rinderknecht: Die Tage der großen SUV’s, wie auch die der übermotorisierten ICE-Supersportwagen, dürften gezählt sein. Geteilte urbane Fahrzeuge werden anderen Kriterien folgen müssen und folgen, dies sowohl im Design wie auch in der Größe. Aber das Leben und die Mobilität werden immer fragmentiert sein.

„Ich sehe die Analogie eines zukünftigen Fahrzeuges zu einem (rollenden) Smartphone als veraltet und recht unzutreffend an.“

Was ist aus Ihren bisherigen Konzepten und Studien geworden? Rinspeed ist ja kein Produzent, sondern versteht sich als Think Tank, also Ideengeber.

F. Rinderknecht: Wir behalten alle Fahrzeuge und verfügen heute über ein kleines, aber feines Museum von 25 eigenen Konzeptfahrzeugen. Es ist wohl die einzigartigste Sammlung der Welt. Die Fahrzeuge sind Bestandteil unserer Geschichte und werden, wenn die Zeit meines Ruhe­stands gekommen ist, auch einen neuen Besitzer finden.

Denken Sie dennoch an eine eigene oder mit Partnern gemeinsame (Klein-)Serienproduktion eines Ihrer Concept Cars?

F. Rinderknecht: Wir sind aktuell in der Planung eines Start-ups, welches die modulare ‘Snap‘-Idee in eine Klein­skalierung bringen soll. Wir legen aber erst richtig los, wenn sich die Lernkurve stark abgeschwächt hat und durch profundes Wissen ersetzt worden ist. Das könnte schon recht bald der Fall sein. Wir haben in den letzten zwei Jahren enorm große Fortschritte auf diesem Gebiet gemacht.

ZUR PERSON

Der Schweizer Autovisionär Frank M. Rinderknecht wurde am 24. November 1955 in Zürich geboren. Nach dem Abitur 1975 und einem Auslandsaufenthalt in Los Angeles, Kalifornien, begann er 1976 ein Maschinenbaustudium an der ETH Zürich. Neben dem Studium importierte der Schweizer Sonnendächer für Autos aus den USA und legte den Grundstein für ein eigenes Unternehmen, das er 1979 mit der Rinspeed AG gründete. Zu seinen ersten Projekten gehörte die Herstellung von Behindertenfahrzeugen. Seit 1979 widmete er sich neuen Mobilitätskonzepten und dem Prototypenbau und präsentierte seine inzwischen 25 Konzeptfahrzeuge und Studien beim Auto-Salon in Genf sowie weiteren Automobilmessen und in den letzten Jahren auch bei der Consumer Electronics Show CES in Las Vegas.

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