Neue Innovationskulturen braucht das Land
Wie Chemieunternehmen ein produktives Umfeld und kreative Freiräume schaffen können
Der technologische Vorsprung gegenüber Spielern aus den Schwellenländern schrumpft. Differenzierungspotenziale für westliche Spieler bestehen noch im Bereich Gesundheit und Ernährung, bei Pflanzenschutz und Saatgut, Hochleistungskunststoffen und Katalysatoren, bei speziellen Coatings und Additiven, bei Batteriechemikalien sowie im Bereich Nachhaltigkeit. Diese sind jedoch häufig inkrementeller Natur. Innovationen beschränken sich deshalb nicht nur auf das Produkt, sondern auch auf Prozesse oder Geschäftsmodelle. Dr. Michael Reubold sprach darüber mit Dr. Christian Gutsche, Partner bei der Unternehmens- und Strategieberatung Maexpartners.
CHEManager: Herr Dr. Gutsche, wie haben sich die Wettbewerbsbedingungen und die Herausforderungen für Chemieunternehmen in den letzten Jahren verändert und was steht den Unternehmen noch an Veränderungen bevor?
Dr. C. Gutsche: Chemieunternehmen aus den Schwellenländern und besonders aus Asien, haben den Technologie-vorsprung westlicher Spieler bei Grundprodukten sowie einer Vielzahl von Spezialchemikalien eingestellt. Produktdifferenzierungsmerkale gehen heutzutage schnell verloren. Durch diese Verkürzung der Produktlebenszyklen muss Innovation heutzutage zielgerichtet und schnell zu marktgerechten Lösungen kommen, die unmittelbar implementierbar sind. Zusätzlich hat sich die Chemienachfrage nach Asien verschoben, wodurch westliche Unternehmen heute ihre Innovationsaktivitäten noch viel mehr an die Bedarfe der lokalen asiatischen Märkte anpassen müssen.
Die Chemie liegt als Materialwissenschaft fast allen modernen Technologien zugrunde und ermöglicht Innovationen in anderen Branchen. In der chemischen Industrie wird Innovation deshalb mit neuen Produktentwicklungen gleichgesetzt. Ist dieser Ansatz heute noch gültig oder greift Innovation viel weiter?
Dr. C. Gutsche: Die chemische Industrie ist eine reife Industrie und Neuentwicklungen großvolumiger Chemikalien sind die Ausnahme. Der Fokus der letzten 15 Jahre lag auf maßgeschneiderten Formulierungen und Blends, um die unterschiedlichen Bedarfe der Kundenindustrien zu bedienen. Da diese oft nur inkrementellen Änderungen schnell kopiert werden, differenzieren Unternehmen ihr Angebot vielfach durch umfangreiche anwendungstechnische Services. Aber auch hier schläft der Wettbewerb nicht und viele Kunden generieren eigenständiges Know-how hinsichtlich der Anwendung und Modifizierung der Systeme.
Innovation geht daher heute über den reinen Chemie- und Anwendungsbezug hinaus mit dem Ziel weitere Teile der Kundenwertschöpfungsketten zu durchdringen.
Die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens wird maßgeblich durch die jeweilige Firmenkultur beeinflusst. Wie ist die chemische Industrie Ihrer Erfahrung nach hier generell aufgestellt?
Dr. C. Gutsche: Die Vorstellung, dass Innovation einem klaren Ablauf von der Ideengenerierung bis zur Umsetzung folgt, ist in den Köpfen vieler Vorstände, Geschäftsführer und Innovationsverantwortlicher noch immer fest verankert. Daneben finden sich in vielen Unternehmen immer noch falsche Anreizsysteme und Doppelzuständigkeiten führen zu Silodenken. Zusätzlich fehlen oftmals geeignete Werkzeuge zur schnellen fachübergreifenden und hierarchiefreien Vernetzung für konkrete Problemstellungen. Die Chemieindustrie steckt immer noch in dem Dilemma zwischen dem Schutz ihres geistigen Eigentums und gängigen Ansätzen wie Open Innovation bzw. Co-Kreation, die heutzutage in vielen Industrien für den schnellen Kompetenzaufbau sowie für rasche Realisierung kundenspezifischer Lösungen eingesetzt werden. Dies begrenzt die Innovationsfähigkeit und -effizienz sowie eine kurze Produkteinführungszeit in der Branche.
Innovation ist zwar inzwischen im Bewusstsein des Managements als ein wesentliches Differenzierungsmerkmal verankert, häufig ist jedoch unklar, wie Innovation konkret umgesetzt oder gefördert werden kann. Wie gelingt es Unternehmen, ein Umfeld zu schaffen, welches Ihren Mitarbeitern ermöglicht, Kreativität aus eigenem Antrieb heraus zu entfalten?
Dr. C. Gutsche: Kreativität kann man nicht erzwingen, sie muss gefördert werden und produktive Innovationskulturen haben Lust, Probleme zu lösen.
Generell unterscheiden wir zwischen nicht-gerichteter Innovation, beispielsweise dem Vorschlagswesen, und zielgerichteter Innovation, der Entwicklung konkreter Produkte, Services und Abläufe.
Eine nicht-gerichtete Innovationskultur verlangt, dass Ideen aus allen Teilen des Unternehmens und seines Umfelds ausdrücklich erwünscht sind. Ideengeber müssen Wertschätzung erfahren und unkompliziert mit potenziellen Nutznießern und Implementierungsexperten zusammengebracht werden. Hier muss das Management Vorbild sein. Es gilt Offenheit für Vorschläge zu demonstrieren und die Bereitschaft zur Ideenfindung zu honorieren.
In zielgerichteten Innovationsprozessen gilt es, das Unternehmertum der Teams und die Freude an der Problemlösung zu fördern. Dazu müssen Innovationsteams autonom agieren können, weitestgehend hierarchiefrei organisiert sein und den richtigen Mix aufweisen aus Fachexperten, Kundenvertretern und Projektprofitabilitätsverantwortlichen sowie aus erfahrenen Netzwerkern, die bei Bedarf schnell und unkompliziert weitere interne und externe Kompetenzen hinzuziehen können.
Beide Prozesse erfordern ein Umfeld, welches durch Unternehmertum, Offenheit und kreative Freiräume sowie durch positiven Umgang mit Fehlern und dem Feiern gemeinsamer Erfolge gekennzeichnet ist. Die zunehmende Öffnung von Innovationsprozessen macht Diversität der Teams, sowie Networking-Fähigkeiten der Innovatoren zwingend erforderlich.
Manchmal müssen bei einer solchen Transformation alte Zöpfe abgeschnitten werden. Welche Hürden gilt es für Unternehmen auf dem Weg zu einer optimalen Innovationskultur zu überwinden?
Dr. C. Gutsche: Aus unserer Sicht gibt es drei Kernthemen, die Unternehmen überwinden müssen, um die nächste Stufe von Innovation Excellence zu erreichen:
Zunächst die Aufgabe von Silos für bahnbrechende Innovationen: Disruptive Innovationen erfolgen heute außerhalb der traditionellen Chemiekompetenzen. Um Kompetenzen schnell aufzubauen, sind Scouting für neue Technologien, das Schaffen von Inkubatoren sowie Partnerschaften erforderlich und es gilt, das Not-invented-here-Syndrom zu überwinden.
Als nächstes, die Etablierung von offenen Innovation und Co-Creation: Für kundengerechte Innovationen mit kurzen Produkteinführungszeiten wird das Einbeziehen von Kunden und externen Experten ein Muss. Dazu sind die Schaffung weitreichender Netzwerke sowie ein intelligentes Management von Schutzrechten erforderlich.
Und last but not least sind Vertrauen und die Förderung des Unternehmertums wichtig: Entwicklungsteams sollten weitestgehend autonom mit klar definierten end-to-end Verantwortlichkeiten und gemeinsamer „Incentivierung“ sein. Gleichzeitig sollte ihnen seitens des Managements Vertrauen entgegengebracht und Flexibilität bei ihrer Lösungsfindung zugestanden werden.
Welcher Ansatz ist Ihrer Meinung nach zukunftsweisend und erfolgversprechend?
Dr. C. Gutsche: Als besonders vielversprechend erscheint es, Ansätze aus der Softwareentwicklung zu übernehmen. Besonders Rapid Prototyping und agile Produktentwicklung seien hier genannt. Durch Rapid Prototyping wird garantiert, dass zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Entwicklungszyklus funktions- und somit testfähige Produkte existieren. Diese werden regelmäßig gemeinsam mit dem Kunden verifiziert, der bewusst früh in den Entwicklungsprozess eingebunden wird. Dies garantiert eine schnelle marktgerechte Entwicklung.