Mehr Innovation durch weniger Steuerung
Lassen sich gesellschaftliche Krisen mit weniger Staat und mehr Eigenverantwortung bewältigen?
Aktuelle Debatten um den Brexit, die Flüchtlingskrise oder Diesel-Fahrverbote sind für den Autor und Vordenker Professor Lars Vollmer ein Indiz dafür: Unsere Gesellschaft ist unregierbar geworden. In seinem aktuellen Buch „Gebt eure Stimme nicht ab“ überträgt er seine Erkenntnisse über Organisation und Führung von Unternehmen darauf, wie Politik und Gesellschaft heute funktionieren. Andrea Gruß sprach mit dem Wirtschaftsautor darüber, wie mehr Eigenverantwortung von Bürgern und Unternehmen Innovation fördern und zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen kann.
CHEManager: Herr Vollmer, viele Unternehmen bauen Hierarchien ab und entwickeln Führungsstrukturen, die mehr Selbstorganisation zulassen. Ist das eine vorübergehender Trend, eine Mode, oder eher ein evolutionärer Prozess?
Lars Vollmer: Ich beobachte beides. Es gibt durchaus Unternehmen, die angefixt von einem guten Buch oder einer inspirierenden Unternehmensstory mehr oder minder ernst gemeinte Selbstorganisationsversuche unternehmen. Häufig geht das schief, entweder weil es von der Unternehmenskultur sofort als Imitation einer Mode entlarvt wird oder weil die Wertschöpfung auch schon vorher stark von informellen Strukturen profitiert hat, das Unternehmen also – zumeist unentdeckt – bereits an den entscheidenden Stellen selbstorganisiert war.
Aber es gibt auch andere Fälle. Hier geht die Transformation von der Erkenntnis aus, dass die bisher zentral gesteuerte Wertschöpfung dem Wettbewerbsdruck kaum noch standhalten kann: zu langsam, zu teuer, zu sklerotisch, zu gestrig. Hier sind die Chancen auf Erfolg deutlich höher. Die Notwendigkeit schlägt jede Mode.
Was macht Unternehmen heute so schwer steuerbar?
L. Vollmer: Ein Unternehmen ist heute viel häufiger Überraschungen ausgesetzt als noch vor ein, zwei Jahrzehnten. Der Anteil der Routineprozesse mag noch überwiegen, aber es kann nur noch einen Blumentopf gewinnen, wer mit Überraschungen besser umgehen kann als der Wettbewerb. Und Überraschungen kann man nicht mit traditioneller Steuerung begegnen, denn Prozesse oder Regeln sind nichts anderes als eingefangenes Wissen, wie ein Problem erfolgreich gelöst werden kann. Für sie gibt es noch kein Wissen, sonst wären es keine Überraschungen. Hier helfen nur noch Entscheidungen von Menschen. Die Führungskräfte sind damit aber schnell überlastet, wenn die Anzahl der Überraschungen zunimmt.
Die Mitarbeiter sehen sich nun gezwungen selbst zu handeln, um den Kunden in adäquater Zeit Antworten zu geben. Dadurch lernen sie, welche Antworten erfolgsversprechend im Wettbewerb sind, sie werden also operativ schlauer als die Führungskräfte. Jetzt beginnt eine zentrale Unternehmenssteuerung zu kollabieren, die immer auf ein Wissensgefälle von Führungskräften zu Mitarbeitern angewiesen ist. Nicht selten beharren nun die Vorgesetzten an ihren Steuerungsfantasien, weil von ihnen erwartet wird, die „Sache im Griff“ zu haben. Die Folge: mehr Meetings, mehr Reports, schärfere Zielvereinbarungen, mehr Business-Theater, mehr Kontrolle. Vielleicht ist gerade das die große Illusion unseres Managementzeitalters: Kontrolle.
In Ihrem aktuellen Buch befassen sich mit dem Thema Steuerung auf gesellschaftlicher Ebene. Mit welchem Ergebnis?
L. Vollmer: Auf der gesellschaftlichen, politischen Ebene wird uns derzeit sehr anschaulich das ganze Dilemma zentraler Steuerung vorgeführt. Die Debatten zentrifugieren regelrecht, der Meinungsgegner wird mit Häme überschüttet und die Politik soll es gefälligst richten. Es ist wie der Ruf der Herde nach dem Hirten. Die gewählten oder ernannten Hirten machen sich mit Schwung an die Sache, wollen sie doch Handlungsstärke zeigen, sich nicht vorwerfen lassen, die Dinge schleifen zu lassen, eben alles im Griff zu haben. Doch Klimaschutz oder das Autonomiebestreben eines Volkes entziehen sich rigoros jeder zentralen Steuerung.
Die Sachlagen sind in allen Fällen viel zu komplex, lineare Ursache-Wirkungs-Ketten existieren nicht, Fakten widersprechen sich und jeder gut gemeinter Eingriff birgt die Gefahr, die Situation noch zu verschlimmern. Die großen Vertrauenskrisen unserer Zeit – dazu würde ich auch die Flüchtlingskrise, die französischen Gelbwesten, die Renten, Dieselgate, Football-Leaks oder den Umgang mit Organspenden zählen – zeigen uns, dass das Hirtenprinzip angesichts der komplexen Probleme versagt. Zugespitzt muss man feststellen: Wir sind unregierbar geworden.
Wenn unsere Gesellschaft genauso wenig regierbar ist, wie ein Unternehmen steuerbar, was ist die Konsequenz? Brauchen wir einen Politikwechsel? Muss Merkel weg?
L. Vollmer: Unser demokratisches System sieht vor, dass dies möglich und vielleicht für den Volksfrieden auch immer wieder erforderlich ist. Doch die ausführenden Personen sind immer nur Teil des Spiels. An ihnen kleben Erwartungen. Und wenn der Akteur seine Rolle behalten will, dann muss er seine Rolle gemäß den Erwartungen spielen, ansonsten wird er in seine Schranken verwiesen. Sprich: Er fliegt raus und ein anderer tut das, was zur Erhaltung des Systems notwendig ist. Denn Systeme sind wirkungsstärker als der Einzelne.
Darum machen wir es uns zu einfach, wenn wir sagen: Die da oben sind egoistisch, gierig, blöd, machtgeil und überhaupt schlechte Menschen und müssen ausgetauscht werden. Es ist trivialisierend, zu fordern: „Merkel muss weg!“. Es bringt nichts, wenn wir den Abgas-Manipulations-Skandal dadurch lösen wollen, dass wir einzelne Topmanager von Automobilherstellern einsperren, auch wenn dies juristisch legitimiert ist. Allein das Führungspersonal auszutauschen, ändert das System nicht, in dem das Führungspersonal seine Rolle ausgefüllt hat. Zur Bewältigung brauchen wir neue Formen der Partizipation, neue Formen der Erziehung, der Arbeitsorganisation und des Mitwirkens in Gemeinschaften.
Welche Rolle spielt der Staat in dem von Ihnen skizzierten System?
L. Vollmer: Der Systemforscher Frederic Vester hat einmal sinngemäß gesagt, dass aus dem Lenkrad im Falle eines Unfalls kein Airbag, sondern Schwerter herauskommen müssten, damit die Autofahrer lernen, verantwortlich Auto zu fahren. Wie soll ein Mensch oder eine Organisation Verantwortung lernen, wenn ein Hirte ihm die Verantwortung abnimmt? Oder anders gesagt: Einen Hirten zu beauftragen, Zwang auszuüben und individuelle Freiheit einzuschränken, enthebt die Herde von der Verantwortung, selbst eine Wahl zu treffen und für die Folgen dieser Wahl die Konsequenzen zu tragen. Die schwerwiegendste Konsequenz dabei ist: Es findet kein Lernen mehr statt.
Wir leben in einem System, das Bürgern und Wirtschaft Verantwortungslosigkeit unterstellt und diese damit real fördert. Solange wir den Hirten die ganze Gestaltungsmacht geben, solange wir ihnen unser Geld geben, solange wir von ihnen verlangen, für uns Verantwortung zu übernehmen, werden sie immer ein Amt einrichten, ein Budget verlangen, zentrale Pläne machen und diese von oben nach unten hierarchisch und autoritär durchexekutieren. Darunter leiden meines Erachtens die Bürger und unsere Wirtschaft deutlich mehr als unter jeder vermeintlich schlechten Einzelregelung.
Lassen Sie uns dies an konkreten Beispielen diskutieren: Die Chemieindustrie fordert seit vielen Jahren eine steuerliche Forschungsförderung. Ist das der richtige Weg für mehr Innovation?
L. Vollmer: Die Diagnose des Verbands der Chemischen Industrie zur Innovationsstärke in Deutschland teile ich und die Forderungen sind nachvollziehbar. Sie zielen eben genau auf das existierende Hirtenprinzip und den immer weiter hypertrophierenden Staat ab, der Bürgern und Wirtschaft einen großen Brocken Verantwortung in Form von Steuern und Abgaben zuerst entzieht und dann sorgsam dosiert und zentral gesteuert wieder verteilt. Und wenn der Staat nach der Maxime „Ich weiß besser als ihr, was gut für euch ist“ agiert, dann bleibt den Industrievertretern natürlich kaum anderes übrig, als derartige Forderungen aufzustellen und das „Spiel“ mitzuspielen. Eine seit Jahrzehnten geübte Praxis. Und eine ziemlich ermüdende, wenn Sie mich fragen.
Lassen Sie uns anders darauf schauen: Innovation braucht Ideen und Geld, keine Frage – aber mehr eigenes Geld und weniger staatliches. Sie braucht Risiko und echte Verantwortung oder „Skin in the game“, wie es der libanesische Essayist Nassim Nicholas Taleb bezeichnet. Ich habe in meinem neuen Buch die Idee einer „Verantwortungsgesellschaft“ skizziert. In dieser würden auch Chemieunternehmen über die finanzielle Freiheit verfügen, ihr eigenes Geld in den Sand zu setzen.
Aktuell entwickeln die Sozialpartner in der Chemie Modelle für flexible Arbeitszeiten. Wieviel „Staat“ braucht es hier?
L. Vollmer: Die Gesetzgebung, das Arbeitsrecht, hinkt systembedingt immer hinterher. Sie kann nur beobachten, welche Ansprüche in der Arbeitswelt artikuliert werden. Und will sie die Fäden nicht aus den Händen geben, bleibt ihr quasi nichts anders übrig, als dem Arbeitnehmer Unmündigkeit zu unterstellen und zentral einzugreifen.
Das Kernproblem ist aber wieder nicht das einzelne Gesetz, sondern der Anspruch „one size fits all“. Die Arbeitswelt hat sich dramatisch ausdifferenziert, die Vielfalt ist nahezu explodiert. Die Machtverhältnisse zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind keinesfalls gesetzt und unveränderlich. So kann eine Münchener IT-Spezialistin ihrem Arbeitgeber die Bedingungen geradezu diktieren, sie braucht nicht geschützt zu werden.
Die Lage ist komplex geworden und von zig Faktoren wie Region, Ausbildung, Lebenshaltungskosten, Wettbewerb und vielen mehr abhängig. Es ist wie im Unternehmen selbst: Wird es komplex, kollabiert zentrale Steuerung. Das Gesetz klingt dann abstrakt richtig, ist aber in nahezu jedem Einzelfall konkret falsch.
Eine weitere Frage, die der Chemiebranche unter den Nägeln brennt: Wie kann die Energiewende oder weltweiter Klimaschutz gelingen? Durch mehr Selbstorganisation?
L. Vollmer: Große gesellschaftliche Veränderungen haben nie anders funktioniert. Wie sollte es sonst gehen? Wir führen gerade hauptsächlich Debatten über das „richtige“ Verhalten für den Klimaschutz. Soll ich langsamer auf der Autobahn fahren, meinen Diesel verschrotten, nicht mehr so häufig fliegen, als Unternehmenschef auf Erdenergie setzen? Diese Diskussionen tun uns gut, sie stärken das Bewusstsein für ein Thema, was erst seit einer Generation wirklich in der Gesellschaft angekommen zu sein scheint.
Aber die Herausforderungen eines weltweiten Klimaschutzes werden wir nur technisch lösen können, es braucht Innovationen. Und diese stehen immer am Ende von vielen gescheiterten Versuchen. Das ist zentral gesteuert nicht zu stemmen. Vielfalt ist hier viel erfolgsversprechender als die konstatierte Fokussierung auf eine Idee, die sich als Schnapsidee herausstellt.
In Ihrem neuen Buch „Gebt eure Stimme nicht ab“ sprechen Sie von einer Verantwortungsgesellschaft. Können Sie uns kurz skizzieren, was Sie darunter verstehen?
L. Vollmer: Für mich ist die Verantwortungsgesellschaft der dritte Weg jenseits vom ewigen Streit Individualismus oder Kollektivismus und somit die Rückbesinnung auf die Wurzeln von Demokratie und Liberalismus. Eine Gesellschaft, die Subsidiarität als Leitmotiv ernst nimmt und die Steuerhoheit auf die Kommunen verlagert. Um so etwas zu gestalten braucht es zunächst einmal die Einsicht, dass das Hirtensystem von den komplexen Problemen unserer Zeit schlichtweg über den Haufen gerannt wird.
Zur Person
Lars Vollmer, promovierter Ingenieur und Honorarprofessor der Leibniz Universität Hannover, ist Unternehmer, Bestsellerautor und Begründer von Intrinsify, einem offenen Thinktank für die neue Arbeitswelt und moderne Unternehmensführung im deutschsprachigen Raum. Er lehrt an mehreren Universitäten und Instituten und ist gefragter Redner auf internationalen Kongressen und Unternehmensveranstaltungen. Im Jahr 2016 veröffentlichte er den Wirtschaftsbestseller „Zurück an die Arbeit“ (vgl. CHEManager-Interview „Führung on Demand“ 18/2017).
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