Märkte & Unternehmen

Mehr Akzeptanz für die Chemie

Ein positives Bild der Chemie in der Gesellschaft ist maßgeblich für den Erfolg der Transformation

15.11.2023 - Wesentlich für den Erfolg der nachhaltigen Transformation ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Chemie.

Die Chemieindustrie ist im Umbruch. Klimawandel, Energiekrise und Krieg, aber auch Deglobalisierung und Digitalisierung sorgen dafür, dass die Branche vor erheblichen Herausforderungen steht. Wesentlich für den Erfolg der notwendigen Transformation ist ein oft unterschätzter Aspekt: die gesellschaftliche Akzeptanz der Chemie. Der VAA greift das Thema in seinem aktuellen Jahrbuch 2023 auf.

„Der Druck auf Unternehmen und Beschäftigte ist groß. Wenn die Herausforderungen gestemmt werden und die Transformation gelingt, wird die Bedeutung der Chemie- und Pharmaindustrie wachsen. Gelingt die Transformation aber nicht, wird dies zur Schwächung der deutschen Chemie und zum Verlust zahlreicher Arbeitsplätze führen“, warnt Birgit Schwab, 1. Vorsitzende des VAA.

Wettbewerbsfähige Energie- und Rohstoffkosten, eine zuverlässige In­frastruktur, digitale Kompetenzen, Zuwanderung und inländisches Erwerbs­potenzial sind wesentliche Erfolgsfaktoren für die Transformation. Doch ohne die gesellschaftliche Akzeptanz der Chemieindustrie werden sie allein nicht zum Tragen kommen. Denn die Branche ist in hohem Maß mit der Gesellschaft verbunden. Die rund 2.000 Unternehmen und ihre 550.000 Beschäftigten leisten mit einem Gesamtumsatz von 220 Mrd. EUR pro Jahr einen hohen Beitrag zur Wertschöpfung in Deutschland.
Trotz dieses Nutzens für die Volkswirtschaft entspricht die Wahrnehmung der Chemie in der Gesellschaft nicht der immensen Bedeutung, die sie u.a. auch als Lieferant für viele andere Wirtschaftszweige hat. Das öffentliche Bild der Chemie ist vielmehr ambivalent: „Es schwankt zwischen Teufelswerk und Lösungsindustrie“, schreibt Psychologe Stephan Grünewald in der gleichnamigen Studie des Rheingold-Instituts aus dem Jahr 2021 für den Verband der Chemischen Industrie (VCI) und die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE).

„Aus meiner politischen Erfahrung kenne ich mindestens drei Gründe, die die gesellschaftliche Akzeptanz schwächen: die Agrarchemie, die Verschmutzung durch Kunststoffe, insbesondere im Meer, und die Verbrennung von Öl, Erdgas und Kohle. Die größte Herausforderung steckt dabei wohl in der Agrarchemie“, äußert sich Umweltwissenschaftler und SPD-Politiker Ernst Ulrich von Weizsäcker im Interview mit dem VAA. Der Klimaschutz und das Flächenproblem in der Landwirtschaft stehen stellvertretend für viele Dilemmas, bei denen die Chemie Teil des Problems und der Lösung zugleich ist.

Jährlich verlieren wir weltweit etwa 10 Mio. ha Ackerland für den Anbau von Nahrungsmitteln aufgrund des Klimawandels. Aber auch die Chemieindustrie – die auf nachwachsende Rohstoffe umstellt, um das Klima zu schützen – trägt dazu bei. Die Landwirtschaft müsste ihre Effizienz um fast 50 % steigern, um bis 2050 nahezu zehn Milliarden Menschen auf der Welt zu ernähren. Hierfür kann die Chemie wiederum Lösungen bieten. Nachhaltig sind diese jedoch nur, wenn sie nicht der Biodiversität von Böden und Ökosystemen schaden.

Auch beim Klimaschutz ist die Chemie Teil des Problems und der Lösung zugleich. Die Chemieindustrie stößt große Mengen an Treibhausgasen aus und bietet aber gleichzeitig viele Innovationen, um Emissionen in anderen Branchen und Lebensbereichen zu reduzieren. Diese Dilemmas und komplexen Zusammenhänge sind nicht für jeden Bürger offensichtlich und tragen zum kontroversen Bild der Branche in der Öffentlichkeit bei. Doch auch die Kommunikation der Chemiker selbst kann dazu beitragen.

Kommunikation auf Augenhöhe

Alles ist Chemie! Ohne Chemie läuft nichts. So und ähnlich lauten die Mantras in der Chemiebranche. Sie mögen die Stimmung von Chemikern verbessern und ihnen Kraft für kontroverse Diskussionen im Alltag geben, zu einer höheren Akzeptanz der Chemie in der Gesellschaft tragen sie meist nur marginal bei. Psychologe Grünewald rät: „Um die paradoxe Wahrnehmung der Chemie­industrie in der Öffentlichkeit aufzulösen, sollte sie nicht als Schutzmacht auftreten. Sie darf nicht die Kleinheitsgefühle des Verbrauchers verstärken, sondern sollte demonstrieren: Wir sind an deiner Seite und auf Augenhöhe. Wir verstehen dich und arbeiten gemeinsam an einer besseren Welt.“

Eine Chemie, die die Aufgabe akzeptiert, sich in den Dienst der Gesellschaft und des Einzelnen zu stellen, der widerfährt selbst Akzeptanz. „Unsere Kommunikation sollte souverän, aber bescheiden sein, selbstsicher, aber auch selbstkritisch. Vor allem aber auch positiv, mit einer klaren Strategie und verständlichen Schritten zur Sicherung des Standorts und der Menschen“, schreibt Raoul Meys, Nachhaltigkeitsexperte und Gründer von Carbon Minds in seinem Beitrag im VAA-Jahrbuch. „Wir können die Akzeptanz insbesondere dadurch erhöhen, dass wir uns mit der Gesellschaft austauschen und jedem Einzelnen zuhören. Und das am besten mit zwei offenen Ohren, einem (meist) geschlossenen Mund, und vor allem, vielen Taten“, so Meys.

Verzicht auf Leugnung

Doch Zuhören allein wird nicht genügen. Akzeptanz erfordert auch Transparenz. „Die Chemie wird auch deshalb negativ wahrgenommen, weil sie die mit Chemikalien einhergehenden Umweltprobleme oder die Giftigkeit von Stoffen jahrzehntelang – und zum Teil noch heute – leugnete oder Kritiker so darstellte, als hätten deren Aussagen keine Qualität. Im Nachhinein stellte sich heraus: Die Industrie wusste sehr wohl um die Probleme, leugnete sie aber im Interesse des Geschäfts“, kritisiert Klaus Kümmerer, Inhaber des Lehrstuhls für Nachhaltige Chemie an der Universität Leuphana in Lüneburg. Der Wissenschaftler hat es sich zum Ziel gesetzt, insbesondere jüngeren Menschen für eine neue, nachhaltige Chemie zu begeistern. Durch das Systemdenken der nachhaltigen Chemie entstehen alternative Geschäftsmodelle, bei denen chemisches Wissen oder Services angeboten werden, ohne dass immer ein chemischer Stoff verkauft werden muss. Nachhaltige Chemie stellt immer die Frage: Chemie für wen, wofür und warum? Ihr Beitrag kann auch die Antwort sein: Hier brauchen wir keine Chemie. Die Eta­blierung dieser Denkweisen in der Wissenschaft und Wirtschaft kann maßgeblich zu einem positiveren Bild der Chemie beitragen.

Kritische Diskussion statt Fundamentalkritik

„Wenn die Industrie Studien und Gesetze für die Behörden schreibt und dem Lobbyismus eigenverantwortlich keine Grenzen setzt, muss man sich nicht wundern, wenn der Eindruck vorherrscht, es gäbe in der chemischen Industrie keine Ethik“, kritisiert Kümmerer im VAA-Jahrbuch. Doch Lobbyismus, im Sinne von Interessenvertretung, ist auch elementarer Bestandteil einer Demokratie – vorausgesetzt, die Prozesse sind transparent. Der Verband der Chemischen Industrie setzt sich daher mit Transparency International Deutschland für nachvollziehbare Entscheidungsprozesse ein und hat die Allianz für Lobbytransparenz ins Leben gerufen. Diese und andere Initiativen der Branche haben dazu beigetragen, dass die Fundamentalkritik an der Chemie in den vergangenen Jahren abgenommen hat.

„Kritische Diskussion von Einzelthemen wie die Umweltbelastung durch polyfluorierte Substanzen und Plastikmüll hingegen gibt es auch heute noch, und sie ist auch notwendig“, schreibt Stefan Buchholz, Honorarprofessor an der Universität Stuttgart, im VAA-Jahrbuch. Nachhaltige Produkte mit geringerer Umweltbelastung herzustellen, ist oft aufwendig. Oft ist unklar, ob dabei die Industrie oder der Verbraucher für die Mehrkosten aufkommen soll. Doch das sei nicht von entscheidender Bedeutung, so Buchholz, denn am Ende werden die Kosten von der gesamten Volkswirtschaft getragen. „Daher ist es richtig, einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen, wie viel Aufwand wir als Gesellschaft für wie viel Nachhaltigkeit treiben wollen“, sagt Buchholz.

Bildung, die begeistert – für alle

Basis für einen konstruktiven Dialog ist neben der bereits erwähnten Kommunikation auf Augenhöhe ein gutes Verständnis des konkreten Sachverhalts. Kommunikation ist daher nur die eine, gute chemische Bildung die andere, wichtige Seite der Medaille. Hier muss viel mehr getan werden, fordern gleich mehrere Autoren des VAA-Jahrbuchs, unter ihnen Wolfram Koch, Geschäftsführer der Gesellschaft Deutscher Chemiker.

„Die naturwissenschaftliche Bildung insgesamt zu erhöhen und Begeisterung für naturwissenschaftliche Phänomene zu wecken, ist ein weiterer Schritt, Vorurteile und Missverständnisse gegenüber der Chemie zu reduzieren“, sagt Koch. Eine wichtige Rolle bei der Verbesserung des Ansehens der Chemie spielten dabei Lehrkräfte, die Schülern ein besseres Verständnis der Chemie vermitteln und sie aufklären, wie die Chemie unser tägliches Leben beeinflusst und sie dazu beitragen kann, Probleme z.B. im Bereich der Medizin, der Energieversorgung oder im Umweltschutz zu lösen. „Sie können Schülern helfen, durch Experimente die praktischen Anwendungen der Chemie zu erleben und zu verstehen“, schreibt Koch.

Bildung muss nicht nur besser werden, sie sollte auch für alle zugänglich sein. „Eine faktenorientierte Weltsicht, mehr Interesse an Naturwissenschaften und die Wertschätzung von wissenschaftsbasierten Branchen wie der Chemie bekommen wir nur, wenn sich an der gesellschaftlichen Basis etwas positiv ändert“, schreibt Stefan Paul Mechnig, Global Head of Thought Leadership bei Covestro. Teilhabe muss wirklich werden und die Chancen auf Aufstieg und Wohlstand größer, indem etwa der Zugang zu Bildung verbessert wird. „Auch zu solchen Themen sollte die Chemie als einflussreicher Player vermehrt ihre Stimme erheben im gesellschaftspolitischen Diskurs, und sich nicht bloß dann vernehmen lassen, wenn es ihr selbst ans Eingemachte geht wie bei Strompreis oder Regulierung“, fordert Mechnig.

Handeln, der größte Hebel für mehr Akzeptanz

Die Beiträge im VAA-Jahrbuch beschreiben vielfältige Ansätze, die zu einem positiveren Bild der chemischen Industrie in der Öffentlichkeit beitragen können. Ein noch größerer Hebel als der konstruktive Diskurs zu den drängenden gesellschaftlichen Problemen ist zweifelsohne das nachhaltige Handeln selbst. Denn es kommt darauf an, Probleme zu lösen und sie nicht nur zu beschreiben.

Nicht zuletzt aufgrund der vielfältigen Krisen in den vergangenen Jahren ist Chemie hier auf einem guten Weg. Dies belegt auch die Follow-up-Studie des Rheingold-Instituts vom Jahr 2023. Bei der ersten Befragung schwankte das Bild der Chemie noch zwischen Teufelszeug und Fortschrittsmotor. Zwei Jahre und zwei Krisen später ist die Wahrnehmung der Branche deutlich positiver. Die Chemieindustrie wird heute eher als Stabilitätsanker gesehen, als Anpacker, der Perspektiven aufzeigt und als Vorbild dienen kann. Ihre Bedeutung für das tägliche Leben wird mehr anerkannt. Zurückgegangen ist der Anteil derer, die Chemie als bedrohlich empfinden.

Hintergrund sei die Wahrnehmung der Menschen, dass sie sich seit Corona bis heute in einer nicht enden wollenden Abfolge von Krisen befinden, erklärt Psychologe Grünewald. Auf die Wirtschaft und insbesondere die Chemie werden dabei Hoffnungen gesetzt, Lösungen zu finden und zum Erhalt des Wirtschaftsstandorts beizutragen. Daraus ergeben sich eine Reihe von Chancen, die die Branche genutzt hat. In Corona-Zeiten hat sich die Chemie- und Pharmaindustrie als ideenreicher Helfer und Problemlöser bewiesen. Auf dem Höhepunkt der Energiekrise hat sie konkrete Beiträge geliefert. Und auch heute beweist sie kontinuierlich, dass ihr die große Transformation in eine nachhaltige Zukunft am Herzen liegt. Weiter so! Statt Ängste zu schüren oder Drohungen bezüglich der Zukunft des Standorts Deutschland auszusprechen, sollte die Chemie den eingeschlagenen Weg fortsetzen und ihr neues Ansehen verfestigen.

Andrea Gruß, CHEManager

VAA-Jahrbuch 2023

Im Jahr 2023 beschäftigt sich das VAA-Jahrbuch mit der Akzeptanz der Chemie- und Pharmaindustrie in der Gesellschaft in Deutschland und in Europa. Die Branche befindet sich in einer Krisensituation und steht vor einem grundlegenden Wandel. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit die Chemie gesellschaftlich als zukunftsorientierter und für die nachhaltige Transformation der Wirtschaft unabdingbarer Akteur wahrgenommen wird? Auf diese Frage geben zahlreiche Autoren des VAA-Jahrbuchs aus unterschiedlichsten Perspektiven Auskunft. Die Publikation ist sowohl digital als auch in einer limitierten Druckauflage veröffentlicht worden. Das gedruckte Jahrbuch kann per E-Mail bei der VAA-Geschäftsstelle angefordert oder hier heruntergeladen werden.

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