Anlagenbau & Prozesstechnik

Lernendes Wissensmanagement verbessert Prozesseffizienz

Wie Forschungsergebnisse aus Psychologie und Maschinenbau den Wissenstransfer revolutionieren

11.09.2024 - Obwohl Automatisierung und innovative Technologien wichtige Lösungsansätze bieten, bleibt erfahrenes Personal in Produktion und Technik unerlässlich. Die zentrale Frage ist, warum der Wissensaustausch (bspw. via Youtube und Wikipedia) im privaten Bereich so erfolgreich ist und in Produktionsbetrieben häufig scheitert. Ausgehend von Forschungsergebnissen wurde ein Softwareprodukt für ein besseres Wissensmanagement entwickelt, das die Prozesseffizienz verbessert.

In der heutigen Zeit stehen Produktionsunternehmen vor einer Vielzahl von Herausforderungen, die durch veränderte regulatorische Anforderungen sowie gesellschaftliche Veränderungen beeinflusst werden. Diese umfassen den Einsatz nachhaltiger Materialien, die Rückverfolgbarkeit von Produkten, eine erhöhte Variantenvielfalt und kleinere Losgrößen sowie die Notwendigkeit, den Energie- und Ressourceneinsatz zu minimieren. Dies alles treibt die Entwicklung innovativer Technologien zur Effizienzsteigerung von Produktionsprozessen voran. Gleichzeitig verändern sich jedoch die Rahmenbedingungen für das verfügbare Personal in der Produktion und Technik grundlegend. Ein akuter Fachkräftemangel, hohe Fluktuation und der demografische Wandel führen dazu, dass Unternehmen zunehmend auf weniger erfahrenes Personal zurückgreifen können.

Folgen des Fachkräftemangels

Diese Entwicklung hat ernsthafte Auswirkungen auf die Betriebseffizienz. Störungen im Produktionsablauf werden langsamer behoben, was zu längeren Ausfallzeiten, höheren Verlustmengen und insgesamt niedrigerer Produktionsleistung führt. Erfahrene Mitarbeitende versuchen zwar, mit ihrem Know-how auszuhelfen, sind in ihrer Verfügbarkeit jedoch zunehmend begrenzt. Die traditionelle Lösung, die Automatisierung voranzutreiben, um die Abhängigkeit von erfahrenem Personal zu reduzieren, erweist sich jedoch nicht immer als wirtschaftlich oder technisch nicht realisierbar.

Warum Wissensmanagement in der Produktion nicht funktioniert

Eine vielversprechende Alternative bietet das Konzept des Wissensmanagementsystems, das gezielt auf die Bedürfnisse der produzierenden Industrie zugeschnitten ist. Trotz der Verfügbarkeit etablierter Werkzeuge wie Office-Produkten oder selbst entwickelter Datenbanken versagen diese Systeme in Produktionsbetrieben regelmäßig. Die Hauptgründe dafür sind die mangelnde Nutzerakzeptanz sowie die Schwierigkeiten bei der Suche nach relevanten Informationen, insbesondere in stressigen und komplexen Situationen.

Forschungsarbeiten am Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung (IVV) in Dresden haben diese Problematik seit 2015 aufgegriffen und in Zusammenarbeit mit Ingenieurpsychologen der Technischen Universität Dresden neue Ansätze entwickelt. Eine wichtige Erkenntnis war, dass herkömmliche Wissensmanagementsysteme oft an der manuellen Suche mittels Schlagwörter scheitern. Das stellt insbesondere in Produktionsumgebungen eine erhebliche Hürde dar, bedingt durch unterschiedliche Synonyme, sprachliche Nuancen, verschiedene Muttersprachen, Rechtschreibfehler und das fehlende Fachwissen über spezifische Komponenten.

Die Lösung für mehr Nutzerakzeptanz

Die Forschungsergebnisse führten zur Entwicklung eines neuen Systems, das proaktive Lösungsvorschläge ohne die Notwendigkeit einer schlagwortbasierten Suche bietet. Dieses System nutzt eine Maschinendatenanbindung, bspw. mittels OPC UA, und analysiert kontinuierlich Prozessdaten in Echtzeit. Bei auftretenden Störungen vergleicht es das aktuelle Datenmuster mit historischen Mustern und sucht basierend auf maschinellem Lernen nach geeigneten Lösungen. Diese werden dem Anlagenbediener auf einem Display wie bspw. einem Monitor oder Tablet präsentiert. Im Fall einer Produktionsstörung werden demnach vollautomatisch und ohne manuelle Suche Einträge der Wissensdatenbank mit einer prozentualen Wahrscheinlichkeit vorgeschlagen.

Die Vorschläge werden durch das Personal in Produktion und Technik bestätigt, abgelehnt, ergänzt oder korrigiert. Dadurch lernt die Software kontinuierlich dazu. Die Wissensdatenbank wächst organisch und verbessert sich kontinuierlich in ihrer Fähigkeit, situationsgerechte Lösungen anzubieten.

 

Beispiel aus der Praxis

Eine Maschine zur Verpackung von Pharmazeutika stoppt mit der Fehlermeldung „Stau auf der Zuführung (Fehler: 328)“. Auf dem Tablet oder Monitor schlägt das System sofort, vollautomatisch und ohne manuelle Suche mögliche Datenbankeinträge mit Wahrscheinlichkeiten vor:

  • „Zuführband verschmutzt (78 %)“
  • „Nockenband verrutscht (12 %)“
  • „Sensor Stauerkennung defekt (3 %)“

Der hilfreiche Eintrag wird vom Anlagenpersonal mit einem Klick auf einem Tablet oder Touchscreen bestätigt. Dadurch lernt das System, in dieser Situation und bei diesem Datenmuster auch zukünftig die richtigen Vorschläge zu präsentieren.

Aus der Forschung in die Produktion

Basierend auf diesen Forschungsergebnissen wurde 2019 die Peerox als Spin-Off des Fraunhofer IVV Dresden gegründet und das System Maddox als Bedienerassistenzsystem erfolgreich am Markt eingeführt.

Gestartet ist Maddox im Pharmaverpackungsbetrieb von Bayer in Leverkusen. Gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen aus Produktion und Technik wurden die unterschiedlichen Anforderungen und Wünsche in Produktfeatures umgesetzt, die Stabilität der Software stetig verbessert und ein zuverlässiges Werkzeug für den Produktionsalltag geschaffen.

Gestartet im Pharmabereich findet die Software heute breite Anwendung auch in anderen Branchen, unter anderem der Baustoff- und Lebensmittelproduktion (bspw. Rotkäppchen-­Mumm Sektkellereien, Berlin-Chemie, Sachsenmilch Leppersdorf, Knauf Bauprodukte). Es unterstützt nicht nur dabei, die Produktionseffizienz zu steigern und die Einarbeitungszeiten zu verkürzen, sondern fungiert auch als digitales Schichtprotokoll. Durch die Verknüpfung von Fehlermeldungen aus der Maschine (Symptomen) und menschlichem Feedback (Ursachen) liefert es wertvolle Daten, um die Gesamt­effektivität der Anlagen (OEE) zu berechnen und kontinuierlich die Produktion zu optimieren.

Für Unternehmen mit mehreren Produktionsstandorten bietet Maddox die Möglichkeit, Erfahrungswissen Private-Cloud-basiert über mehrere Standorte weltweit zu teilen und gemeinsam weiterzuentwickeln. Die intuitive Pflege der Wissensdatenbank mit Fotos und Videos tragen zur hohen Nutzungsakzeptanz bei, indem sie sprachliche Barrieren überwinden.

Nach mehr als vier Jahren produktivem Einsatz im Verpackungsbetrieb bei Bayer in Leverkusen ist das System mittlerweile an 15 hochkomplexen Verpackungslinien sowie fahrer­losen Transportsystemen im Einsatz. Im Fazit lässt sich festhalten, dass sich die Software als zentrales Wissensmanagement für Produktion und Technik etabliert hat. Sowohl die Ausfallzeiten der Maschinen als auch die Einarbeitungszeiten neuer Mitarbeitenden konnten deutlich reduziert werden. Nach anfänglicher Skepsis unter den Kollegen herrscht heute eine sehr hohe Bereitschaft zum Teilen von Wissen und Nutzung des Werkzeugs.

Vom autarken Testkit zur Vollintegration

Damit Maddox nicht die nächste IT-Insellösung wird, ist es von großer Bedeutung, von Beginn an über Schnittstellen und Workflows zu sprechen. Peerox bietet mittlerweile eine Vielzahl von Schnittstellen an, um einen sinnvollen Datenaustausch zu anderen Softwareprodukten zu ermöglichen. Ziel ist, dass Maddox integraler Bestandteil eines IT-Ökosystems ist und mit den generierten Daten Vorteile für verschiedenen Stakeholder liefert. Dies wurde auch bei Bayer erfolgreich umgesetzt. Mit einer entsprechenden SAP-Schnittstelle, sowie Schnittstellen zu weiteren Datenanalysewerkzeugen und -visualisierungen (bspw. Top-Störungen und OEE) ist Maddox heute zentraler Bestandteil des IT-Ökosystems des Unternehmens in Leverkusen.

Diese kundenspezifische Umsetzung ist jedoch aufwändig und erfordert eine solide Entscheidungsfindung. Für Unternehmen, welche die Software ohne großen Aufwand testen möchten, bietet der Hersteller im Rahmen eines klar definierten Pilotprojektes ein autarkes Testkit zur Miete sowie einen strukturierten Einführungsprozess über acht Wochen an. Während dieser Phase wird parallel ein Rollout-Konzept entwickelt, um nach Abschluss des Pilotprojekts eine fundierte Entscheidungsgrundlage für die Implementierung zu haben. Darüber hinaus ist das Pilotprojekt darauf ausgelegt, bereits in dieser kurzen Nutzungsphase deutliche, spürbare Effizienzgewinne zu erzielen.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Maddox nicht nur als effektives Werkzeug zur Steigerung der Produktionseffizienz dient, sondern auch neue Maßstäbe im Bereich des Wissensmanagements setzt. Die enge Verzahnung von Maschinendatenanalyse, menschlichem Know-how durch Algorithmen der künstlichen Intelligenz bietet Unternehmen nicht nur die Möglichkeit, aktuelle Herausforderungen zu bewältigen, sondern auch zukünftige Potenziale zu erschließen.

Autoren:

Andre Schult, Founder & CEO, Peerox © Peerox   Andre Schult, Founder & CEO, Peerox

Matthias Markus,Leiter Verpackungstechnik, Bayer © Bayer   Matthias Markus,Leiter Verpackungstechnik, Bayer

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