Lebendiges Netzwerk engagierter Chemiker
Geschäftsführer Tom Kinzel führt Gesellschaft Deutscher Chemiker in die Zukunft
Mit rund 28.000 Mitgliedern aus Wissenschaft, Wirtschaft und freien Berufen ist die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) eine der größten chemiewissenschaftlichen Gesellschaften weltweit. Seit über 150 Jahren vernetzt sie Naturwissenschaftler in Deutschland und weltweit. Andrea Gruß sprach mit GDCh-Geschäftsführer Tom Kinzel über die Rolle des Ehrenamts und den gesellschaftspolitischen Beitrag der Community.
CHEManager: Herr Kinzel, im August 2024 haben Sie die Nachfolge von Wolfram Koch als GDCh-Geschäftsführer angetreten. Was hat Sie als Chemiker aus der Industrie bewogen, diese Position in einer Fachgesellschaft zu übernehmen?
Tom Kinzel: Als die Anfrage kam, war ich seit etwa 13 Jahren in Forschung und im Innovationsmanagement tätig, davon elf Jahre bei Bayer. Ich hatte gerade meinen Executive MBA an der HEC in Paris abgeschlossen. Die Stelle entsprach mit ihrem Gestaltungsfreiraum und den Themen sehr gut dem, wo ich hinwollte. Und das Ziel der GDCh – die chemische Gemeinschaft voranzubringen – überschneidet sich zu 100 % mit dem, was ich für sinnvoll halte. Ich musste daher nicht lange überlegen, ob ich mich bewerbe.
Als ehemaliger Manager in der Industrie arbeiten Sie heute in einem völlig neuen Umfeld. Wo liegen wesentliche Unterschiede, wo Gemeinsamkeiten?
T. Kinzel: Unternehmen müssen Gewinn anstreben, während gemeinnützige Organisationen dem Gemeinwohl dienen. Beide müssen eine klare strategische Ausrichtung verfolgen und die Interessen ihrer Stakeholder berücksichtigen. Bei Unternehmen sind das die Kunden, Eigentümer und Mitarbeiter. Die GDCh hat keine Eigentümer oder Kunden. Ihre wichtigsten Stakeholder sind unsere Mitglieder. Sie finanzieren mit ihren Beiträgen die Aktivitäten der Gesellschaft, von denen sie wiederum als Teil der Gemeinschaft direkt profitieren. Ein wesentlicher Unterschied in meinem neuen Umfeld ist die Bedeutung des Ehrenamts.
Ziel und Zweck der GDCh ist die Förderung der Wissenschaft auf dem Gebiet der Chemie. Wie kommen Sie diesem Auftrag nach?
T. Kinzel: Wir fördern keine Forschungsprojekte, sondern die Vernetzung von Wissenschaftlern. Denn Wissenschaft entwickelt sich weiter, wenn Forscher miteinander ins Gespräch kommen, sich über ihre Arbeit austauschen und Kooperationen schließen. Durch das Science Forum Chemistry, die Tagungen unserer zahlreichen Fachgruppen, aber auch die Ortsverbände oder das Junge Chemie Forum bieten wir Chemikern vielfältige Möglichkeiten, sich zu vernetzen. Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern ermöglichen wir die Teilnahme an Tagungen im In- und Ausland durch Reisestipendien.
„Wissenschaft entwickelt sich weiter,
wenn Forscher miteinander ins Gespräch kommen.“
Während meiner Promotion erhielt ich selbst Reisestipendien der GDCh. Dafür bin ich noch heute dankbar. Ohne diese Förderung hätte ich nicht den Weg gehen können, den ich gegangen bin. Über unsere Netzwerkaktivitäten hinaus bieten wir weitere Services für die Community.
Welche Services sind das?
T. Kinzel: Wir sind Eigentümer oder Herausgeber wichtiger, auch internationaler Chemiejournale, in denen Forscher ihre Ergebnisse publizieren und mit der Community teilen können. Dazu zählen die Angewandte Chemie oder Chemistry – a European Journal. Die GDCh und ihre Fachgruppen vergeben Preise auf unterschiedlichen Gebieten der Chemie und kostenlose Mitgliedschaften in der GDCh. Damit zeichnen wir hervorragende wissenschaftliche Arbeiten und junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus, ebenso wie Abiturienten oder Jugend-forscht-Teilnehmer. GDCh-Preise sind in der wissenschaftlichen Gemeinschaft auch international hoch angesehen. Auch einige der von uns betreuten Stiftungen vergeben hochkarätige Preise an Wissenschaftler unterschiedlicher Karrierestufen, wie zum Beispiel die Karl-Ziegler-Stiftung.
In welchem Kontext stehen die Stiftungen zur GDCh?
T. Kinzel: Die GDCh verwaltet über zehn unselbstständige Stiftungen, deren Zweck mit dem unserer Gesellschaft übereinstimmt. Sie vergeben zum Beispiel Preise, Förderpreise oder Stipendien. Wenn ein Chemiker sein Vermögen vor oder vielleicht auch erst nach dem Tod in eine Stiftung einbringt, um damit die Chemie zu fördern, leisten wir einen Beitrag und übernehmen die Betreuung dieser Stiftung. Wir sorgen dafür, dass das Stiftungsgeschäft läuft. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Wir stellen zum Beispiel eine Kommission aus ehrenamtlichen Experten für eine Stiftung zusammen, die Kandidaten für Stipendien auswählt oder hochdotierte Preise vergibt.
Ist die GDCh auch international aktiv?
T. Kinzel: Ja, wir vernetzen unsere Mitglieder auch international und sind mit ausländischen Fachgesellschaften verbunden, unter anderem mit der American Chemical Society und der Chinese Chemical Society. Erst vor Kurzem waren wir in Singapur und haben ein Kooperationsabkommen mit dem Singapore National Institute of Chemistry, kurz SNIC, geschlossen. Mit unseren Kooperationen tragen wir dazu bei, dass der wissenschaftliche Austausch in der chemischen Gesellschaft erhalten bleibt und ausgebaut wird.
Sie erwähnten bereits die Bedeutung des Ehrenamts. Welche Rollen spielt es für die GDCh?
T. Kinzel: Eine ausschlaggebende Rolle. Viele unserer Aktivitäten wären ohne die Expertise und das ehrenamtliche Engagement unserer Mitglieder nicht möglich. Ich denke dabei an die Tagungen oder die Aktivitäten der rund 60 Ortsverbände, deren Inhalte von unseren Mitgliedern organisiert werden und die nur deshalb so wertvoll sind. Die GDCh ist ein lebendiges Netzwerk von engagierten Mitgliedern. Viele von ihnen verpflichten sich freiwillig für bestimmte Aufgaben, weil sie zum Erreichen der gemeinnützigen Ziele beitragen wollen. Durch ihr Engagement werden sie wiederrum sichtbar in der Community, was sich fördernd auf ihre Karriere auswirken kann.
Aber es gibt auch Hürden. Da viele der Ehrenämtler weitere Verpflichtungen haben, können Entscheidungen deutlich länger dauern als in der Industrie. Hier möchten wir etwa auf technischer Ebene die Hürden so weit wie möglich senken. So soll etwa die GDCh-App die Arbeit der Fachgruppenvorsitzenden weiter vereinfachen.
„Viele unserer Aktivitäten wären ohne die Expertise
und das ehrenamtliche Engagement
unserer Mitglieder nicht möglich.“
Ein weiterer Punkt: Die GDCh profitiert stark von ihrem Status als gemeinnütziger Verein, der jedoch die Einhaltung entsprechender gesetzlicher Regeln erfordert. Dies müssen die Experten aus unserer Geschäftsstelle den ehrenamtlich Aktiven klar kommunizieren und auch die Einhaltung der Regeln kontrollieren, ohne dabei als bremsende Behörde wahrgenommen zu werden. Mit unserem Engagement in der Geschäftsstelle wollen wir das Ehrenamt attraktiv halten. Denn wir beobachten – wie andere Fachgesellschaften auch – einen Rückgang der Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement.
Worauf führen Sie dies zurück?
T. Kinzel: Ich habe den Eindruck, dass Menschen sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zum einen auf ihr konkretes kurzfristiges Fortkommen konzentrieren, und dass sie zum anderen zunehmend von immer verfügbaren digitalen Medien abgelenkt sind. Gleichzeitig nehmen die Möglichkeiten zu, sich zu engagieren und etwas Sinnvolles zu tun. Wir konkurrieren nicht nur mit anderen Fachgesellschaften für Naturwissenschaftler, sondern auch mit Institutionen, wie dem Roten Kreuz oder Unicef. Wir beobachten auch, dass die Bedeutung der GDCh in der chemischen Industrie sinkt. Für unsere GDCh-Mitglieder aus der Industrie wird es zusehends schwerer, ihr Ehrenamt während der Arbeitszeit wahrzunehmen oder Reisen für diese Tätigkeit als Dienstreise anzumelden. Zudem überdenken einige Firmen aus engen internen Sparzwängen ihre institutionelle Mitgliedschaft in der GDCh oder zumindest die Höhe ihrer freiwilligen Beiträge. Diese Entwicklung bereitet mir Sorge, denn ich halte es für wichtig, dass die GDCh auch in Zukunft eine zusätzliche Identität für Industriechemiker außerhalb des eigenen Unternehmens bietet. Gerade für Chemiker in kleinen oder mittelständischen Unternehmen ist die Gemeinschaft wichtig. Aber auch große Unternehmen profitieren stark von der externen Vernetzung ihrer Mitarbeiter.
Ein Leitbild der GDCh ist die Relevanz in Gesellschaft und Politik. Wie erreichen Sie dies?
T. Kinzel: Mit rund 28.000 Mitgliedern ist die GDCh die zweitgrößte chemische Fachgesellschaft in Europa, nach der britischen Royal Society of Chemistry. Wir schätzen unseren ‚Marktanteil‘ auf 30 %, das heißt, rund ein Drittel der Menschen in Deutschland mit engem Bezug zur Wissenschaft der Chemie gehören bereits der GDCh an. Knapp die Hälfte unserer Mitglieder sind in Fachgruppen organisiert. Gesellschaftlich relevante Themen werden von unseren unabhängigen Mitgliedern zum Teil sehr kontrovers diskutiert, damit tragen wir zur politischen Meinungsbildung bei.
Unsere Experten verfassen Stellungnahmen und Positionspapiere, die unser Vorstand mit Nachdruck an die Politik weiterleitet. Im vergangenen Jahr haben unsere Senior Experts Chemistry und die Fachgruppe Chemieunterricht ein Whitepaper zur besorgniserregenden Situation des chemischen Experimentalunterrichts an deutschen Schulen erstellt. Ein runder Tisch steht demnächst an, um mit der Kultusministerkonferenz dazu zu diskutieren.
Zu wichtigen Themen arbeiten wir mit anderen Gesellschaften zusammen. So haben wir Anfang Dezember mit dem Bündnis ‚Wissenschaft verbindet‘, dem neben uns die Fachgesellschaften aus Biologie, Geowissenschaften, Mathematik und Physik angehören, einen parlamentarischen Abend zum Thema künstliche Intelligenz in Berlin gestaltet.
Auch bei fachunspezifischen, übergreifenden Themen bringen wir uns ein. So hat der GDCh-Vorstand vor einigen Jahren die Kommission ‚Chancengleichheit in der Chemie‘ eingerichtet, um die Chancengleichheit für Frauen und Männer in der Chemie nachhaltig und als übergeordnete Aufgabe zu verankern.
Worauf wollen Sie in den kommenden Jahren Ihren inhaltlichen Fokus setzen?
T. Kinzel: Digitalisierung und künstliche Intelligenz werden auch die Arbeitsweisen und Prozesse unserer Organisation deutlich verändern. Heute können Sie mit ein bis zwei Klicks Dinge im Internet bestellen, im Vergleich dazu ist ein Mitgliedsantrag bei der GDCh derzeit noch recht kompliziert. Unser Mitgliedsausweis aus Papier mag in den 1990er oder 2000er Jahren ein Statussymbol für Chemiker gewesen sein. Sie haben ihn entlang der Perforation aus der Mitgliederrechnung getrennt und in der Brieftasche mitgeführt. Heute gibt es digitale Wallets. Ein Papierausweis ist nicht mehr zeitgemäß. Wir haben bereits große Projekte zur Digitalisierung angestoßen, um mit unseren Mitgliedern in Kontakt zu treten und die Kommunikation mit ehrenamtlich Tätigen zu verbessern.
Neben den Schwerpunkten Digitalisierung und der bereits erwähnten Unterstützung des Ehrenamts möchten wir unsere vier bestehenden Leitbilder überprüfen, nämlich Relevanz in Gesellschaft und Politik, lebendiges Netzwerk von engagierten Mitgliedern, global führende Gesellschaft sowie die Schaffung neuer Formen der Zusammenarbeit und Kommunikation. Inwieweit entsprechen die Angebote der GDCh bereits unseren Zielen? Wo haben wir Fortschritte gemacht? Welche Aktivitäten sind wirksam und welche sollten wir gegebenenfalls nicht mehr fortführen? Diese Fragen wollen wir gemeinsam mit unseren Mitgliedern bearbeiten, um auch in Zukunft einen Mehrwert zu schaffen und die chemische Gemeinschaft nachhaltig zu prägen.
ZUR PERSON
Tom Kinzel studierte Chemie an der Georg-August-Universität Göttingen und promovierte dort in Organischer Chemie. Nach einem Postdoc-Aufenthalt am MIT in den USA startete er 2011 seine Karriere als Laborleiter bei Bayer Pharma in Wuppertal. Im Jahr 2022 wechselte er zu Nuvisan ICB und leitete dort die Abteilung Services innerhalb des Bereichs Life Science Chemistry. 2023 schloss er sein Executive MBA-Studium an der HEC Paris ab. Im August 2024 übernahm er die Geschäftsführung der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh).
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