Kunststoff bewegt
Die Geschichte des Materials für das 21. Jahrhundert wird beim Kunststoff-Museums-Verein lebendig
„Aus vermeintlich billigen Plastiksachen sind längst kulturelle Dokumente geworden", versichert Uta Scholten. Diese Feststellung kommt aus berufenem Munde: Scholten agiert seit über zehn Jahren als Kuratorin des Kunststoff-Museums-Vereins, kurz KMV, mit Sitz in Düsseldorf. Als solche sorgt sie für mehr als 15.000 Exponate, mit denen der KMV die Geschichte des industriellen Einsatzes von Kunststoff ab Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert. „Keine andere Werkstoffgruppe prägt seither die materielle Kultur so wie Kunststoff", sagt Scholten.
Der Verein wurde 1986 gegründet, denn schon damals hatten visionäre Köpfe erkannt, dass Kunststoffprodukte nicht nur wichtiger Bestandteil des Alltags waren, sondern über die Aspekte Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Design bereits als Zeitdokumente fungierten. Der Verein machte es sich zur Aufgabe, diese Bedeutung zu dokumentieren, zu erforschen und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Unter den etwa 300 Mitgliedern sind Verbände, Firmen, wissenschaftliche Institutionen, Sammler von Kunststoffobjekten und Privatleute.
Die Idee zum Museum wurde bereits einige Jahre vor der Gründung intensiv vor allem zwischen Prof. Dr. Dietrich Braun vom Deutschen Kunststoffinstitut (DKI) und dem Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie (GKV) diskutiert. Anlässlich seines 60. Geburtstags setzte der damalige GKV-Präsident Dr. Peter Bruckmann die Idee in die Tat um. Mit dem Messeveranstalter der K, der Messe Düsseldorf, stand von Beginn an ein engagierter Sponsor zur Seite, dem der Verband der Kunststoff erzeugenden Industrie (VKE), heute Plastics Europe Deutschland, folgte.
Erfolg ohne feste Bleibe
Was sich trotz der Sponsoren, Spenden und Mitgliedsbeiträge allerdings nicht realisieren lässt, ist ein stationäres Museum. „Die festen Kosten sind für einen Verein dieser Größe nicht tragbar, obwohl die Stadt Düsseldorf ein Kunststoffmuseum gerne in die Museumslandschaft eingebunden hätte," bedauert Scholten. „Der KMV sattelte auf Wanderausstellungen um und stellt seither mit Motto-Ausstellungen an verschiedenen Standorten aus", erklärt sie das veränderte Museumskonzept.
Unter den drei großen Themen Erfinder und Entwicklung von Kunststoffen, Verpackung und Elektrizität stellt der KMV Interessenten eine Exponatauswahl zur Verfügung, die jeweils eindrucksvoll die Vielfalt von Materialien, Technologien und Einsatzbereichen verdeutlicht. Für jedes Motto steht ein komplettes Paket aus Exponaten und verschiedenen Materialien zur Verfügung. „Kleinere Konzepte haben wir außerdem zum Beispiel für Büro und Spielzeug entwickelt", erzählt Scholten. Außer in Museen standen die Exponate auch schon mal in einem Flughafenterminal oder einem Einkaufszentrum, um die Öffentlichkeit außerhalb der Museen anzusprechen. Über 7.000 Exponate können zudem online im virtuellen Museum besichtig werden.
Für die breite Öffentlichkeit sind die Ausstellungen besonders interessant, denn bei kaum einem anderen Thema trifft sie so intensiv auf ihren eigenen Alltag. „Mit Kunststoff lassen sich die Fragen der Zeit hervorragend spiegeln", sagt Scholten. „Den Besuchern die Wertigkeit von Kunststoff zu vermitteln, ist eine Herausforderung, gerade wenn tägliche Nutzung und Umweltschutz einander zu widersprechen scheinen. Kontroverse Diskussionen bleiben nicht aus."
Ein Stoff für Designklassiker
Wenn Scholten in Onlineauktionen nach Exponaten für den KMV fahndet, stößt sie mitunter auf Kommentare wie „aus Bakelit, kein Kunststoff". Solche Anmerkungen der Anbieter illustrieren die aktuelle Wahrnehmung der Materialwertigkeit. Kunststoffprodukte gelten vielfach als billig oder als Wegwerfartikel. Aber das war weder in der Vergangenheit so, noch ist das in der Gegenwart der Fall.
Der moderne Lebensstil ist ohne Kunststoffe undenkbar. „Wer in den frühen Phasen der Kunststoffindustrie dieses Material einsetzte, machte sich vielerlei Gedanken um Konstruktion, Einsatz oder Preis", weiß Scholten. „Genau wie heute, auch wenn weitere Kriterien wie Leichtbau oder Recycling hinzugekommen sind." Ein Geschirr aus Kunststoff zu besitzen, war früher durchaus eine Investition und oft Statussymbol. Mit dem Material befassten sich stets auch namhafte Designer, die zum Beispiel stapelbares Geschirr entwickelten und schon Ende der 1920er Jahre Farbe ins Spiel brachten. Eine Musterkarte für Celluloidprodukte, die von der Rheinisch-Westfälischen Sprengstoff-Actien-Gesellschaft aus Köln den Kunden vor mehr als 90 Jahren vorgelegt wurde, bot 44 Farbvarianten.
Überraschungen aus dem Keller
Die ersten Bestände beschaffte der Verein über den Ankauf von Privatsammlungen und seit den 1990er Jahren bestückt die Industrie den Fundus gezielt mit Einzelstücken. „Nach wie vor zählen private Geber zu den wichtigen Quellen für die Exponate" erklärt Scholten, was gerade für Objekte aus den 1970er und 1980er Jahren gelte: „Für Sammler sind diese Objekte noch nicht interessant, Privatleute wiederum stoßen im Keller oft auf ausrangierte Gebrauchsgegenstände aller Art." Manch einer kontaktiere sie dann und sorgt in Düsseldorf für Begeisterung: „Erinnern Sie sich zum Beispiel an die bunten Telefone in Mickey Mouse-Gestalt?" Lange habe sie genau so ein Exemplar gesucht, weil es dank seines Designs ein auffälliges und markantes Zeitdokument der 80er Jahre geworden sei. Ein Zufallsfund eines Bekannten bereicherte letztlich den Fundus des KMV um dieses begehrte Stück. Auch die ersten mobilen Telefone und die ersten privaten Computer konnte Scholten durch solche Zufälle für den Fundus sichern.
Die Kunsthistorikerin Uta Scholten wollte sich ursprünglich auf das Mittelalter konzentrieren, bevor sie mit dem KMV in Kontakt kam. Doch das Material Kunststoff und dessen Geschichte lassen sie nicht mehr los: „Ich stoße immer wieder auf spannende Aspekte, die aus Sicht einer Kunstexpertin viel Stoff für Recherchen hergeben", erzählt sie begeistert. „Das beginnt bei gesellschaftlichen Aspekten und reicht bis zu kleinen Wirtschaftskrimis aus der Zeit der frühen Materialentwicklung. Mit Kunststoff im Fokus gehen einem die Themen nicht aus."
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Nachgefragt: Aufklärungsarbeit
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kunststoffe ist eine wichtige Komponente der aktuellen Umwelt- und Materialdiskussionen. Bettina Schnerr-Laube befragte dazu Prof. Dr. Dietrich Braun, Mitbegründer und langjähriger Präsident des KMV, und Dietrich Taubert, amtierender Präsident des KMV, zu den Zielen des Vereins.
Dietrich Taubert Dietrich Braun
CHEManager: Wie hat sich die Arbeit des KMV seit der Gründung verändert?
Dietrich Braun: Zu Beginn unserer Arbeit war es vergleichsweise einfach, Branchenunternehmen für die Ziele des Kunststoff-Museums zu sensibilisieren. Viele Firmen waren inhabergeführt und hatten ein klassisches Gespür für Unternehmens- und Entwicklungsgeschichte. Inzwischen konzentriert man sich nach Verkäufen und Integrationen eher auf das Tagesgeschäft als auf die Historie. Deren Einflüsse auf das Heute sind dadurch oft nicht mehr präsent.
Dietrich Taubert: Großes Engagement leisten wir daher, um die sehr zukunftsorientierte Branche für ihre eigene Geschichte zu begeistern. Das Material blickt noch nicht auf eine so lange Geschichte zurück, als dass man sich historisch auf breiter Ebene damit befasst.
Wie leisten Sie Überzeugungsarbeit?
Dietrich Taubert: Die Unterstützung unserer Sponsoren und ein gute Netzwerks innerhalb der Branche leisten einen entscheidenden Beitrag für die Arbeit des Vereins. Zudem können wir aufzeigen, wie wichtig Aufklärungsarbeit über Kunststoff im Rahmen der aktuellen Umwelt- und Materialdiskussionen ist. Diese Aufklärungsarbeit leistet ganz besonders die Auseinandersetzung mit diesem Werkstoff und seiner Geschichte.
Wie haben sich die Kunststoffe selbst entwickelt?
Dietrich Braun: Polymerchemiker mussten deutlich umdenken. Früher glaubte man zum Beispiel, man könnte sozusagen für jede Anwendung auf Wunsch ein neues und passendes Polymer entwickeln. Inzwischen sehen wir, dass das Prinzip genau andersherum funktioniert. Wir haben ein recht fixes Spektrum an Polymeren, das durch verschiedene, gezielte Optimierungen an neue Einsatzgebiete angepasst werden kann. Außerdem war im Lauf der Zeit eine immer systematischere Erforschung nötig, nicht nur der Materialien und ihrer Verarbeitung, sondern auch ihres Recyclings, ihrer Umweltrelevanz oder ihrer Rohstoffquellen. Mit den heutigen Biopolymeren treffen wir in gewisser Weise die Anfänge der Kunststoffindustrie mit Cellulose und Kasein wieder.