IG BCE-Interview: Zeit für Veränderung
Interview mit Francesco Grioli, Mitglied des Hauptvorstands der IG BCE
Mit dieser Frage beschäftigt sich Francesco Grioli, Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). Andrea Gruß sprach mit dem Experten für Digitalisierung über die Bedeutung von Weiterbildung für eine erfolgreiche Transformation und die Coronakrise als Brücke in die Arbeitswelt von morgen.
CHEManager: Welche Arbeitsbereiche in der Chemieindustrie verändern sich besonders stark durch die Digitalisierung?
Francesco Grioli: Von der Produktion über die Wartung und die Logistik bis hin zu Forschung und Entwicklung oder Dienstleistungen, alle Bereiche sind von der Digitalisierung betroffen, jedoch mit unterschiedlichen Abstufungen. Auch die Themen und Konflikte, die in den einzelnen Bereichen in den Fokus treten, sind jeweils andere. Während die Digitalisierung in der Wartung zu Restrukturierungen und Personalabbau führen kann, gewinnt in der Forschung mit dem Einsatz von Supercomputern die Interaktion zwischen Mensch und Maschine an Bedeutung und der Mensch rückt stärker ins Zentrum. Die spannende Frage, die wir uns aus meiner Sicht stellen sollten: Wo sind die größten Hebel der digitalen Transformation für Innovationssprünge in der Chemie?
Wo sehen Sie potenzielle Wettbewerbsvorteile für die deutsche Chemie im Zuge des digitalen Wandels?
F. Grioli: Ein entscheidender Punkt ist das große Know-how der heimischen Beschäftigten und die daraus resultierende Produkt- und Prozessinnovationsfähigkeit der Unternehmen. Sie können heute an jedem Ort der Welt eine moderne Chemieanlage errichten und Mitarbeiter anlernen, um diese zu betreiben. Sie werden immer einen Wettbewerbsvorteil haben, wenn das im Greenfield an einem Niedriglohnstandort geschieht. Wenn Sie jedoch in einer bestehenden Fabrik einen Produkt- oder Prozesszyklus oder eine Innovation umsetzen und dabei Veränderungen generieren wollen, dann können Sie das in Deutschland besonders gut – zum einen aufgrund unserer Kultur und 150 Jahren Erfahrung in der Produktion, zum anderen aufgrund der breit angelegten, dualen Ausbildung. Unsere Stärke liegt im Umgang der Menschen mit Veränderungen und neuen Technologien. In einer Welt, in der die Veränderungsdynamik aufgrund der Digitalisierung zunimmt, ist das ein riesiger Vorteil für den Standort.
„Unsere Stärke liegt
im Umgang der Menschen mit Veränderungen
und neuen Technologien.“
Und dennoch liest man immer wieder, die fortschreitende Digitalisierung mache Mitarbeitern Angst und sie befürchteten den Anschluss oder gar ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Trifft dies aus Ihrer Sicht auf die Beschäftigten in der chemischen Industrie zu?
F. Grioli: Nein, die Beschäftigten der Branche schauen nicht mit Angst und Sorge in die Zukunft. Das bestätigen die Ergebnisse unseres Monitors Digitalisierung, für den wir im Frühjahr 2019 14.000 Beschäftigte in 600 Betrieben in der Chemie und anderen Branchen befragt haben. Ziel der Umfrage war, Veränderungen der Arbeit und Potenziale der Digitalisierung sowie Belastungen aus Sicht der Beschäftigten zu verstehen. Es zeigte sich, dass die Menschen zwar Respekt haben vor dem, was gerade passiert, aber Angst ist nur wenig ausgeprägt unter Mitarbeitern in der Chemie. Sie bringen vielmehr eine gute Portion Freude und Neugier mit, was die Veränderungen durch die Digitalisierung betrifft.
Die Arbeitgeber haben unseren Monitor sehr interessiert aufgenommen, denn in den Ergebnissen stecken einige Aufträge für sie, zum Beispiel in Bezug auf Weiterbildung oder die Kommunikation der Digitalisierungsstrategie von Unternehmen.
„Die Beschäftigten der Branche
schauen nicht mit Angst und Sorge in die Zukunft.“
Die meisten Unternehmen investieren bereits viel in Weiterbildung. Wo sehen Sie hier Verbesserungsbedarf?
F. Grioli: In guten Zeiten, wenn der Laden brummt, fehlt oft die Zeit für Weiterbildung, weil der nächste Auftrag bearbeitet werden muss, und in schlechten Zeiten, wie derzeit während der Coronakrise, ist kein Geld für Weiterbildung da. Um sicherzustellen, dass nicht permanent das eine oder das andere stattfindet, müssen wir einen tariflich vereinbarten Anspruch auf Weiterbildung schaffen. Einen ersten Schritt sind wir im Jahr 2008 mit dem Tarifvertrag Lebensarbeitszeit und Demografie gegangen. Er sieht unter anderem Langzeitkonten als Wahlbaustein für die Nutzung des Demografiebetrags vor, über den Qualifizierungsmaßnahmen finanziert werden können.
Mit dem Tarifvertrag 2019 haben die Sozialpartner die „Qualifizierungsoffensive Chemie“ auf den Weg gebracht. Eine erste Maßnahme der Offensive ist der Future Skill Report. Er soll definieren, welche Kompetenzen der Mitarbeiter in der Branche künftig stärker gefragt sein werden, welche weniger. Hierfür wird mit einem KI-basierten Tool eine große Menge an Daten analysiert.
Ein zweites Element der Offensive ist ein Qualifikationsanalyse-Tool, mit dem Unternehmen ihre Qualifizierungsbedarf ermitteln können, zum Beispiel: Welche Qualifikationen werden in fünf Jahren im Unternehmen gebraucht und haben wir genügend Mitarbeiter mit diesen Fähigkeiten? Grundlage dafür ist eine Anwendung, die im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit, kurz INQA, entstanden ist.
Unser Zielbild ist, dass Weiterbildung zur Selbstverständlichkeit in Unternehmen wird und sie als gemeinsame Investition betrachtet wird. Denn sie sichert nicht nur die Beschäftigung, sondern bietet den Menschen auch die Chance, Neues kennenzulernen. Und sie steigert die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.
Wer sollte die Digitalisierung in einem Unternehmen gestalten?
F. Grioli: In einer sozialen Marktwirtschaft sehe ich hier drei Akteure, die Unternehmer, die Beschäftigten und ihre Interessensvertretung und den Staat. Zunächst benötigt die Unternehmensleitung eine klare Strategie für die Digitalisierung. Sie muss eine Idee haben, wie das Geschäft morgen und übermorgen aussehen soll, welche Investitionen hierfür notwendig sind und muss dies kommunizieren. Doch der Weg dahin funktioniert nur gemeinsam mit den Mitarbeitern. Hierbei sollten Unternehmensleitung, Arbeitgeberverbände, Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften zusammenarbeiten.
Welche Rolle kommt dabei dem Staat zu?
F. Grioli: Die Politik muss die richtigen Rahmenbedingungen für die digitale Transformation schaffen. Das beginnt bei der digitalen Bildung, geht weiter mit der digitalen Infrastruktur und reicht bis zu Datensicherheit und Arbeitnehmerschutzrechten. Hierfür bedarf es einer nationalen oder auch europäischen Strategie, zum Beispiel für eine gemeinsame Datenethik.
Welche Herausforderung sehen Sie aufgrund der Digitalisierung beim Datenschutz?
F. Grioli: Nahezu jede neue Pumpe, die heute in eine Anlage eingebaut wird, ist mit einem Chip ausgestattet, der Daten für die vorausschauende Wartung erfasst. So lassen sich Bauteile frühzeitig austauschen, bevor es zum Ausfall einer Anlage kommt. Das ist eine große Chance. Auf der anderen Seite ermöglicht es auch die Kontrolle des Leistungsverhaltens von Kollegen, die diese Pumpe bedienen. Das wollen wir als Gewerkschaft nicht. Hierüber müssen wir reden.
Wollen das denn die Arbeitgeber?
F. Grioli: Das probieren wir gerade herauszufinden. Datenschutz ist eine Frage der Mitbestimmung. Heute kann ein EDV-Ausschuss des Betriebsrats eine halbe Fabrik lahmlegen, das wäre vor zehn Jahren noch nicht möglich gewesen. Auf der anderen Seite kann der Einbau einer Pumpe auch den gesamten Betriebsrat lahmlegen, dabei haben wir deutlich wichtigere Themen zu regeln.
Deswegen müssen wir die Frage des Datenschutzes neu ausbalancieren. Dazu müssen wir wissen: Wo landen die Daten? Wer hat Zugriff darauf? So können wir gemeinsam mit den Arbeitgebern dem Missbrauch entgegenwirken.
Ein anderer Bereich, der aufgrund der zunehmenden Bedeutung von zeit- und ortsflexiblem Arbeiten neu austariert werden sollte, ist die Regelung von Arbeitszeiten.
F. Grioli: Ja, das Thema ist auch Inhalt des Sozialpartnerdialogs
Work@industry 4.0, den wir mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie zur Zukunft der Arbeit führen. Beim Thema Arbeitszeiten müssen Sie unterscheiden zwischen Flexibilität, der Differenzierung und Verkürzung von Arbeitszeiten, und Souveränität, der freien Wahl der Arbeitszeit.
Das Arbeitszeitgesetz in Deutschland ist ein Schutzgesetz für die Gesundheit der Menschen. Hier gibt es ein paar Grundsätze, wie den 8-Stunden-Tag, von denen sollten wir nicht abweichen. Darüber bietet der Chemie-Tarifvertrag mit einer 37,5-Stunden-Woche, die auf Betriebsebene auf 32 Stunden runter oder 40 Stunden hoch gesetzt werden kann, Unternehmen eine hohe Arbeitszeitflexibilität. Ein Problem sehe ich bei der Arbeitszeitsouveränität, denn in vielen Unternehmen dominiert eine Präsenzkultur. Aber wenn das Ergebnis der Arbeit stimmt, interessiert es doch nicht, ob ich eine halbe Stunde mehr Pause gemacht oder mich um mein Kind gekümmert habe. Bei einer Ergebniskultur brauchen Sie keine Stoppuhr. Arbeitszeitsouveränität ist daher eine kulturelle Frage beziehungsweise ein Führungsthema.
Sehen Sie hier eine Entwicklung seit Beginn der Coronavirus-Pandemie?
F. Grioli: Ich glaube, durch die Coronazeit wurden viele theoretische Debatten, zum Beispiel zum Thema Arbeitsmoral im Homeoffice, oder Vorurteile nach dem Motto „gibt man den kleinen Finger, wird die ganze Hand genommen“, beigelegt. Die Ergebnisse in den Unternehmen haben gezeigt, es gibt keinen Grund per se misstrauisch zu sein, vielmehr wurde deutlich, dass viele Menschen unter Arbeit mehr verstehen als nur Geld verdienen und dass es ein verbindendes Miteinander und Arbeitsethos gibt. Insgesamt gebe ich der Zusammenarbeit von Sozialpartnern und Politik in der Coronazeit ein gutes Zeugnis. Wir sind klüger mit den Problemen umgegangen als andere Nationen.
Nach Angaben des Verbands der Chemischen Industrie sind seit Frühjahr rund 70.000 Beschäftigte der Branche in Kurzarbeit. Begrüßen Sie den Beschluss zur Verlängerung dieses Instruments?
F. Grioli: Es gibt Unternehmen, die keine strukturellen Probleme haben, bei denen es aber noch einige Monate dauern wird, bis sich ihre Märkte wieder erholen. Hier ist Kurzarbeit die richtige Antwort. Es gibt aber auch Unternehmen, die zunächst ihre Strategie neu ausrichten müssen und noch Jahre brauchen werden, um sich zu erholen. Hier brauchen wir andere Lösungen.
Wir werden in diesem Jahr in Deutschland 30 Mrd. EUR ausgegeben für Kurzarbeit. Ich halte das für richtig. Ebenso ist es sinnvoll, die Dauer der Kurzarbeit auf bis zu 24 Monate zu verlängern. Niemand weiß, wie lange die Folgen der Coronakrise gerade die Industrie noch beschäftigen werden. Deshalb bin ich auch nicht ganz sicher, ob der Staat die Krise zum Stichtag 31. Dezember 2021, wenn die verlängerte Kurzarbeit auslaufen soll, einfach für beendet erklären kann. Aber: Kurzarbeit ist nicht die Antwort auf alle Probleme. Einige Branchen und Betriebe haben derzeit große strukturelle Herausforderungen.
„Kurzarbeit ist nicht
die Antwort auf alle Probleme.“
Wie könnten kluge Alternativen zur Kurzarbeit aussehen?
F. Grioli: Das kann zum Beispiel eine kollektive Arbeitszeitreduzierung in einem Unternehmen sein, kombiniert mit einer Investition in Weiterbildung. Sie können beispielsweise die Arbeitszeit auf 32 Stunden senken und Gehalt für 35 Stunden zahlen. Den freien Tag investiert der Mitarbeiter in seine Qualifizierung. Hierfür könnte es einen Qualifizierungsbeitrag von der Bundesagentur für Arbeit geben. Das kostet wahrscheinlich genauso viel wie die Kurzarbeit, das Geld wird aber in die Menschen investiert und nicht in „Nicht-Arbeit“. Wir brauchen neue Mechanismen, die Krisenmanagement mit Investitionen in die Zukunft kombinieren und das Thema digitale Transformation mitdenken.
Zur Person
Francesco Grioli ist seit dem Jahr 2017 Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstands der IG BCE und dort zuständig für das Thema Digitalisierung. Davor leitete er den Landesbezirk Rheinland-Pfalz/Saarland der Gewerkschaft. Er absolvierte eine Ausbildung zum Energieelektroniker bei Hoechst und zum Gewerkschaftssekretär in der IG BCE. Er ist stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender bei Gerresheimer und Mitglied im Aufsichtsrat von Continental. Grioli ist italienischer Staatsbürger.