Herausforderung Transformation
Augenmaß und Timing sind entscheidend, um die europäische Chemieindustrie nicht zu überfordern
Vor zwei Jahren hat die Europäische Kommission im Rahmen des European Green Deal das Strategiepapier „Chemicals Strategy for Sustainability“, kurz CSS, vorgelegt (vgl. den Beitrag „Aufwand immens, Nutzen fraglich“ aus CHEManager 10/2021). Seitdem haben sich einige wichtige Elemente der Strategie weiter konkretisiert – und die im damaligen Beitrag geäußerten Erwartungen und Befürchtungen werden zunehmend bestätigt: Mit der Chemikalienstrategie wird ein immenser Aufwand für die Industrie mit fraglichem Nutzen für die Gesellschaft entstehen, wenn nicht mit Augenmaß vorgegangen und der Transformationsprozess nicht klug gestaltet und von der gesamten Gesellschaft unterstützt wird.
Mit dem Green Deal und der damit verbundenen Chemikalienstrategie werden zweifelsohne wichtige Ziele verfolgt: wer möchte nicht eine saubere Umwelt und gesundheitlich unbedenkliche Arbeitsplätze und Produkte – und das alles möglichst CO2-neutral, kreislauffähig und nachhaltig? Aber wie so oft kommt es auf die Maßnahmen an, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen. Wie bereits im Vorfeld der REACh-Verordnung hat die Vorlage der EU-Chemikalienstrategie bei den industriellen Stakeholdern hohe Wellen geschlagen. Im vorliegenden Beitrag sollen drei Maßnahmenpakete der CSS ausgewählt und dargelegt werden, welche künftig die Stoffvielfalt erheblich einschränken werden, sollten sie in der vorgelegten Form umgesetzt werden:
- Die Ankündigung eines generischen Ansatzes für Bewertung von Stoffen in Verbraucherprodukten und im gewerblichen Bereich (GRA),
- ein im September vorgelegter erster Vorschlag der EU-Kommission für die Aufnahme neuer Gefahrenklassen in CLP und
- die vorgesehene Ablösung der Ökodesign-Richtlinie durch die „Ecodesign for Sustainable Products Regulation“ (ESPR)
- zeigen, dass sich die EU-Regulatoren weder von Covid-19 und seinen Folgen noch von den geopolitischen Veränderungen und den damit verbundenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Europa beeindrucken lassen.
Generischer Ansatz der Stoffbewertung
Zusätzlich zu der Stoffgruppe der in REACh bereits verankerten SVHCs (Substances of Very High Concern) sollen künftig mit dem generischen Ansatz der Stoffbewertung („Generic Approach to Risk Assessment“, kurz GRA) die aus EU-Sicht „gefährlichsten“ („most harmful“) Stoffe für Anwendungen in Verbraucherprodukten und für die gewerbliche Anwendung generisch beschränkt werden. Die zwar zeitaufwändige, aber richtungssichere und bewährte Risikobewertung von Einzelstoffen soll so für eine zunehmende Anzahl von Chemikalien durch eine primär „hazard“-induzierte Beschränkung ganzer Gruppen von Stoffen ersetzt werden – von denen möglicherweise nur wenige Stoffe Gefährdungseigenschaften aufweisen, die für den privaten Verbraucher oder den gewerblichen Anwender relevant sein können. Damit wird es für einen zunehmenden Bereich von Stoffen keine Risikobewertung mehr geben, bei der Exposition und Risiko angemessen berücksichtigt und Stoffe nicht allein wegen ihrer Gefährdungspotenziale beschränkt werden.
„Mittelständler können
mit der Flut neuer Gesetzgebungen
in Europa kaum noch mithalten.“
Aufnahme neuer Gefahrenklassen in CLP
Darüber hinaus hat die EU-Kommission im September 2022 ihren Vorschlag für die Aufnahme neuer Gefahrenklassen in CLP vorgelegt. Diese betreffen insbesondere Stoffe mit hormonell wirksamen Eigenschaften („Endocrine Disruptors“, ED) und die sog. PBTs, vPvBs, PMTs und vPvMs, also Stoffe, die neben ihrer persistenten (P) Eigenschaften mobil (M), bioakkumulierbar (B) und/oder toxisch (T) sind. Dieser einseitige Vorstoß der EU steht im Widerspruch zu den derzeit gültigen weltweiten Regelungen der UN. Zudem führt er keineswegs zu mehr Sicherheit, da die relevanten Gefährdungen bereits bei der momentan gültigen Stoffbewertung berücksichtigt werden. Mit der Einführung dieser Gefährdungsklassen ist vielmehr zu erwarten, dass die entsprechenden Stoffe künftig nicht mehr im Rahmen einer Risikobewertung beurteilt werden, sondern unter Umständen (wenn es sich um Verbraucher- oder gewerbliche Anwendungen handelt) dem GRA zugeführt werden, das wie erwähnt die Grundlage für ein sog. „Risikomanagement“ ohne stoffspezifische Risikobewertung schaffen wird.
Ecodesign for Sustainable Products Regulation (ESPR)
Die EU-Kommission möchte aber noch weitergehen und hat am 30. März 2022 ihren Vorschlag zur ESPR-Verordnung veröffentlicht, die sich auf die Ökodesign-Richtlinie stützt. Mit der ESPR wird ein weiteres Regelwerk Einzug halten, welches das Stoffportfolio zusätzlich unter der Bezeichnung „Substances of Concern“ (SoC, besorgniserregende Stoffe) beschränken wird. Während die Ökodesign-Richtlinie nur für energieverbrauchsrelevante Produkte gilt, möchte man mit der ESPR grundsätzlich umweltfreundliche und kreislauforientierte Produkte in allen Anwendungen fördern. Dazu sollen SoC identifiziert und vermieden werden, die etwa ein Recycling von Produkten verhindern oder stören würden. Die Regulierung einzelner Produkte oder Produktgruppen soll dabei spezifisch über delegierte Rechtsakte erfolgen. Dazu gibt es einen Arbeitsplan der Kommission, der hier nicht näher dargestellt werden kann. Im Fall des Recyclings wäre nicht einmal die Gefährdung von Mensch oder Umwelt, geschweige das damit verbundene Risiko, sondern allein die „Eigenschaft der Störung“ Anlass für die Beschränkung eines chemischen Stoffs. Mit der ESPR droht demnach die Gefahr, dass ein Regelwerk geschaffen würde, welches außerhalb des Chemikalienrechts stünde, de facto aber Chemikalien regulieren würde.
Erste quantitative Untersuchungen der wirtschaftlichen Folgen
Im November des vergangenen Jahres hat der europäische Chemieverband Cefic die Ergebnisse der ersten Phase einer Untersuchung der zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen veröffentlicht, die vor allem für den Mittelstand massiv ausfallen dürften. Allein zwei zentrale Maßnahmen der Chemikalienstrategie – die Erweiterung des oben erwähnten generischen Ansatzes für die Stoffbewertung (GRA) und die Einführung der neuen Gefährdungsklassen werden nach diesen Berechnungen zu einem Wegfall von 12 % des Portfolios in der chemischen Industrie in Europa führen. Dies dürfte insbesondere die Bereiche Polymere, Farben und Anstrichmittel, Wasch- und Reinigungsmittel, Klebstoffe, kosmetische Produkte, Schmierstoffe und Biozidprodukte betreffen – Produktbereiche, in denen überwiegend Mittelständler tätig sind. In einer zweiten, noch nicht abgeschlossenen Phase werden insbesondere die zu erwartenden wirtschaftlichen Konsequenzen des Einbezugs der Polymere in die REACh-Registrierpflicht untersucht. Damit werden weitere Bereiche des Produktionsportfolios der Chemieunternehmen auf dem Prüfstand stehen.
Chemiemittelstand besonders betroffen
Die dargelegten Vorschläge für künftige Regelwerke werden in vielen Fällen auch Ziele des Green Deal konterkarieren, wenn bestimmte Chemikalien für nachhaltige und klimaneutrale Prozesse und Produkte in der EU nicht mehr verwendet werden können. Nicht nur Chemieunternehmen, sondern auch die Behörden werden sich auf einen erheblichen Aufwand für die Erfüllung der mit den Regeln verbundenen Pflichten vorbereiten müssen. Zusätzliche finanzielle und personelle Ressourcen werden dann nicht mehr für andere, zielführendere Zwecke zur Verfügung stehen.
Mittelständler können mit der Flut neuer Gesetzgebungen in Europa kaum noch mithalten. In der Regel sind neue Vorgaben mit einer starken Zunahme an Bürokratie verbunden: Anträge auf Genehmigung oder Ausnahmen, Publikations- und Dokumentationspflichten oder die anstehende Erfüllung der mittelbar wirksamen Vorgaben im Rahmen des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes und des Sustainable Finance u.v.a.m. könnten im Mittelstand ohne die mit der Bürokratie parallel gewachsene aufwands- und kostenintensive Bürokratiebeherrschungsindustrie – Beratungsunternehmen, Kanzleien, Consultants – nicht bewältigt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass der Bau neuer oder Erweiterungen bereits in Betrieb befindlicher Chemikalienlager, Produktionsanlagen oder -prozesse, auch solche, die die Transformation in Richtung Klimaneutralität und mehr Nachhaltigkeit unterstützen oder gar erst ermöglichen würden, nur noch unter sehr hohem Aufwand seitens der Antragsteller genehmigt werden. Aus Sorge, mit Klagen von Dritten überzogen zu werden, verschleppen Genehmigungs- und Vollzugsbehörden die Verfahren oder bürden den Antragstellern immer neue bürokratische Zumutungen auf.
Die vorgelegten Beispiele sollen zeigen, dass die Transformation der Wirtschaft in Richtung Green Deal und Klimaneutralität die verbindliche Bereitschaft aller – Wirtschaft, Politik und Behörden und Gesellschaft – erfordert, damit sie auch umgesetzt und die damit verbundenen Ziele erreicht werden können. Dazu müssen Prioritäten gesetzt und ein realistischer zeitlicher Rahmen für die erforderlichen Anpassungen gegeben sein. Dabei muss verhindert werden, dass Stoffe wegfallen, die kein oder ein beherrschbares Risiko für Verbraucher und Anwender darstellen oder solche, die im Sinne der Ziele des Green Deal förderlich sind. Die chemische Industrie ist bereit, diesen Weg zu gehen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und das Regelwerk mit Augenmaß weiterentwickelt wird.
Alex Föller, Geschäftsführer, Verband Tegewa e. V., Frankfurt am Main
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Tegewa
Der Verband Tegewa ist ein seit 70 Jahren bestehender Fachverband der deutschen chemischen Industrie. Er zählt rund 100 Mitglieder aus den Bereichen der Prozess- und Performance-Chemikalien, darunter vor allem – auch viele mittelständische – Hersteller von Tensiden, kosmetischen Rohstoffen sowie von Hilfs- und Farbmitteln für die Herstellung von Leder, Papier und Textilien.
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