Anlagenbau & Prozesstechnik

Früherkennung - Der digitale Zwilling eines elektromagnetischen Flowmeters steigert dessen Leistung

31.10.2019 -

Ein auf multiphysikalischer Modellierung basierender digitaler Zwilling ermöglicht die Verbesserung des Durchflussmessers und die Vorhersage der realen Leistung.

In den vergangenen zehn Jahren haben neue Technologien und die Digitalisierung begonnen, die flüssigkeitsbezogenen Prozessindustrien, die sich mit Wasser- und Abwassertransport und -behandlung befassen, dramatisch zu beeinflussen. Da diese Anwendungen plausibler und verfügbarer geworden sind, setzen Forschungsteams von ABB nun die Technologie des digitalen Zwillings ein, um ihre Durchflussmessprodukte zu verbessern. Der digitale Zwilling ermöglicht es, physikalische Probleme frühzeitig zu erkennen und die Ergebnisse genau vorherzusagen.

Elektromagnetische Flowmeter
Produktionsprozesse erfordern eine zuverlässige und genaue Instrumentierung, um hohe Leistungsstandards zu erfüllen. Die Durchflussmessgeräte von ABB sind traditionelle Arbeitspferde in der Produktionsprozessindus­trie, weil sie robust, zuverlässig und vor allem genau sind.
EM-Flowmeter, die einen großen Teil des Durchflussmessportfolios von ABB ausmachen, sind besonders attraktiv für Kunden, die leitfähige Flüssigkeiten transportieren oder verarbeiten, da sie eine Reihe von Vorteilen bieten: einfache Installation, geringe Auswirkungen auf den Druckverlust und hohe Genauigkeit. Darüber hinaus ist die Leistung des EM-Flowmeters nicht anfällig für Temperatur-, Druck- oder Dichteschwankungen und wird auch nicht durch leichte Schwankungen der Strömungsprofile beeinflusst. Unabhängig von der Durchflussrichtung, mit Messfehlern von ± 0,2 % über weite Bereiche hinweg, ermöglichen EM-Flowmeter eine genaue Messung bei niedrigen Durchflussraten.

ABB erforscht kontinuierlich Werkzeuge zur Verbesserung des Angebots an elektromagnetischen Durchflussmessgeräten mit dem Ziel, hohe Leistungsstandards und Anforderungen an die Kostenoptimierung zu erfüllen. Durch die Kombination von fundierten Kenntnissen der Durchflussmesserphysik mit neuen, verifizierbaren Modellierungstechniken sollen bestehende Durchflussmessgeräte aufgewertet werden.
Um die Strömungsgeschwindigkeit zu bestimmen nutzen EM-Durchflussmesser das Faradaysche Gesetz der elektromagnetischen Induktion. Wird ein Magnetfeld in einem von einer leitenden Flüssigkeit durchströmten Rohr erzeugt, wird elektrisches Potenzial oder elektromotorische Kraft (Electromotive Force, EMF) über den Rohrquerschnitt induziert. Die EMF ist proportional zur Durchflussrate bzw. der Geschwindigkeit. Durch die Messung der induzierten EMF kann der Durchfluss abgeschätzt werden. Das Verhältnis von induzierter EMF zur Strömungsgeschwindigkeit ist die Empfindlichkeit, welche mit dem Kalibrierfaktor zusammenhängt. Deren Vorhersage ist genauso wichtig, wie die der Schwankungen der Empfindlichkeit, die sich aus sich ändernden Bedingungen ergeben. Thermische und strukturelle Ereignisse, die den Betrieb des Durchflussmessers beeinflussen können, müssen im Interesse der Produktsicherheit und zur Beurteilung der Durchflussleistung unter rauen Bedingungen bewertet werden.

Digitales Zwillingskonzept
Was wäre, wenn man ein prädiktives Modell entwickeln könnte, das basierend auf dem Wissen über physikalische Prozesse die Leistung des Durchflussmessers vorhersagen und den Testaufwand minimieren würde? Das Ergebnis wäre sicherlich eine Erhöhung der Produktivität und eine Leistungssteigerung. Um dies zu erreichen hat ABB ein Softwaremodell eines EM-Durchflussmessers entwickelt, das auf einer multiphysikalischen Finite-Elemente-Analyse-Technik (FEA) basiert. Dieses Softwaremodell (der digitale Zwilling) ist eine Nachbildung, die den physischen Gegenstand in der virtuellen Welt darstellt und damit das reale Verhalten des physischen Gegenstandes nachahmt. Auf der Grundlage des daraus gewonnenen Prozesswissens können Leistungskomplexitäten verstanden, Probleme erkannt und Designs verbessert werden. Diese Informationen können anschließend für den Bau und Betrieb des Produkts im Feldeinsatz verwendet werden. Digitale Zwillinge können fast jeden Zustand in der virtuellen Welt mit der Gewissheit simulieren, dass das gleiche Verhalten in der realen Welt auftreten würde.

Multiphysikalisches Modell
Bei der FEA-Modellierung wird die Geometrie eines Objekts in kleinere, abgegrenzte Bereiche diskretisiert. Das Berechnungsmodell wird mit Informationen wie Materialeigenschaften sowie Betriebs- und Randbedingungen versorgt. Das Modell löst physikalische Gleichungen über die abgegrenzten Bereiche, um Parameter abzuleiten. Dieses Verfahren, das dreidimensionale und gegebenenfalls zeitvariable Informationen liefert, wird zur Leistungsprognose und Designverbesserung von Geräten in Branchen wie Öl und Gas sowie in der Luftfahrt eingesetzt. Der Einsatz der FEA-Modellierung im Gegensatz zu herkömmlichen Testmethoden stellt sicher, dass komplexe Prozesse leicht verständlich sind. Laborprüfmethoden sind durch ihre Abhängigkeit von der Anzahl und Platzierung der in den Geräten eingesetzten Sensoren begrenzt, was kostenintensiv und für Anwendungen in der Prozessindustrie schwierig ist. Im Gegensatz dazu ermöglichen die jüngsten Fortschritte und sinkenden Kosten des Hochleistungsrechnens die einfache und iterative Lösung verschiedener und komplexer physikalischer Gleichungen mit Hilfe der FEA.
ABB entschied sich für ein multiphysikalisches Modell eines EM-Durchflussmessers, um ihr Produktangebot zu verbessern.

Integration physikalischer Phänomene
Zunächst wurde die Geometrie eines Durchflussmessers mit einer CAD-Software kon­struiert. Die Geometrie, oder das Rechengebiet, wurde dann in winzige Elemente diskretisiert, über die Gleichungen gelöst wurden. Es wurden mehrere Durchflussmesser unterschiedlicher Ausführungen und Größen modelliert.
Die Integration der beiden primären Phänomene Elektromagnetismus und Strömungsdynamik sowie anderer verschiedener physikalischer Phänomene in einem einzigen Modell ist eine Herausforderung. Der Elektromagnetismus wird durch die Lösung der Maxwell-Gleichungen beschrieben. Diese Gleichungen berechnen zunächst die magnetische Flussdichte innerhalb des Berechnungsbereichs. Die Strömungsdynamik wird analysiert, indem Gleichungen der Massen- und Impulserhaltung für verschiedene Strömungsbedingungen gelöst werden – eine Simulation des Fluidstroms durch das Rohr. Anschließend wird die induzierte EMF, das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen magnetischem Fluss und Strömungsgeschwindigkeit, berechnet, indem das Magnet- und das Strömungsfeld unter Verwendung der Lorentz-Gleichungen, die aus dem Faradayschen Gesetz der elektromagnetischen Induktion abgeleitet sind, integriert werden. Das primäre Ergebnis ist die Empfindlichkeit oder das Verhältnis der induzierten EMF zur Strömungsgeschwindigkeit. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, löst das Modell auch nach der thermischen Entwicklung und strukturdynamischen Parametern. Es werden thermische und hydraulische Spannungen an der Rohrwand berechnet. Solche fortschrittlichen Simulationen sind unerlässlich, um die Auswirkungen anspruchsvoller, rauer Bedingungen auf den Zustand des Durchflussmessers vorherzusagen, wie bspw. die Auswirkungen von Hochtemperatur- und/oder Hochdruckflüssigkeiten, die durch die Rohrleitung strömen. Das Endergebnis dieser umfassenden Berechnungen ist ein vollständiges multiphysikalisches Modell des Durchflussmessers, das die Leistung sowie den drohenden Ausfall unter widrigen Bedingungen vorhersagen kann.

Die Modellierung hat den Vorteil, dass kostenintensiver und zeitaufwändiger Testaufwand minimiert wird. Mehrere ABB-Durchflussmessgeräte mit unterschiedlichen Leitungsgrößen wurden 2017 erfolgreich simuliert. Ein Vergleich der vom Modell berechneten und bei Feldversuchen erhaltenen Sensitivitäten ergab eine Übereinstimmung von 95 % – die Etablierung des Modells als realistisches und genaues Vorhersagewerkzeug. Neben der Vorhersage der Em­pfindlichkeit könnte das Modell auch die Linearität des Durchflussmessers oder, mit anderen Worten, die Konstanz der Empfindlichkeit bei sich ändernden Durchflussraten – die Messgenauigkeit – vorhersagen. Nicht nur das digitale Zwillingskonzept ist ein Pluspunkt während der Testphase, sondern das Modell wurde auch umfassend genutzt, um das bestehende Design des Durchflussmessers zu modifizieren und die Qualität zu verbessern. Durch die Integration neuartiger Komponentendesigns und innovativer Ideen in das Modell konnte die Verbesserung der Durchflussmesserleistung bewertet werden.

Der modifizierte Durchflussmesser übertrifft das bestehende Durchflussmessermodell deutlich und schafft so die Voraussetzungen für zukünftige Designverbesserungen. Der digitale Zwilling, wenn er auf die Entwicklung von Durchflussmessern angewendet wird, wird die Empfindlichkeit des Durchflussmessers erhöhen, die Messgenauigkeit verbessern und die Herstellungskosten senken. Derzeit werden umfangreiche Anstrengungen unternommen, um Prototypen des Durchflussmessers zu testen und die verschiedenen Konstruktionsänderungen einzubeziehen sowie die Machbarkeit einiger der neuen Ideen zu bewerten.

Weniger schafft mehr
Das Hauptziel der Produktentwicklung ist es, den Materialeinsatz zu minimieren und gleichzeitig das Leistungsniveau zu halten oder zu maximieren. Dementsprechend wurde das digitale Zwillingsmodell verwendet, um das Design von Durchflussmesskomponenten mit dem Ziel zu optimieren, die Materialkosten zu senken.
Als wichtige Komponente wurde die EM-Spule modifiziert, um die optimale Größe und/oder Form für die ultimative Durchflussmesserleistung zu erhalten. Die Größenänderung einer gegebenen Spule wurde in einer Reihe von Iterationen bewertet. In einer bestimmten Iteration konnte die ursprüngliche Empfindlichkeit des Durchflussmessers mit deutlich weniger Kupferspulenmaterial beibehalten werden. Darüber hinaus konnten Simulationen radikal neuartiger Spulendesigns gezeigt werden, die den Materialeinsatz reduzieren, um das ursprüngliche Leistungsniveau zu erhalten. Dies ist insbesondere für die Entwicklung großer Durchflussmesser von Bedeutung, da die Spulenkosten einen wesentlichen Teil der gesamten Materialkosten der Geräte ausmachen können. Vor kurzem wurden Lösungsvorschläge zur Reduzierung des gesamten Platzbedarfs für große Durchflussmesser ausgewertet und in der anschließenden Prototypentestphase verifiziert.

Replizieren von Feldbedingungen
Während Entwicklung und Testen wichtige Phasen im Produktlebenszyklus sind, hat auch die Installationsphase ihre besonderen Herausforderungen, da Systemeigenschaften wie Bögen und Ventile Strömungsprofile verändern und die Messgenauigkeit beeinträchtigen können. Das Verständnis der systemischen Wirkung von Rohrleitungsmerkmalen auf die Leistung des Durchflussmessers ist daher von entscheidender Bedeutung. Der digitale Flowmeter Zwilling von ABB wurde um ein kundenseitiges Rohrleitungssystem erweitert.
Der Einfluss der Strömungsänderung auf die Messgenauigkeit wurde untersucht, um einen Einblick in die Auswirkungen von Systemmerkmalen wie z. B. vorgeschalteten Biegungen zu erhalten. Dadurch konnte ABB die beste Position für die Installation von Durchflussmessgeräten innerhalb eines bestimmten Rohrleitungssystems bestimmen und so die Korrektur der Messwerte für einen installierten Durchflussmesser ermöglichen.
Bis heute hat das Tool die Richtigkeit bei der Vorhersage der Leistung von Durchflussmessgeräten bewiesen und es Ingenieuren ermöglicht, das Design von Flowmetern zu verbessern. Die Erweiterung des Modells zur Simulation des Einflusses der Geräte auf die Strömungsprofile von kundenseitigen Rohrleitungssystemen eröffnet auch neue Möglichkeiten zur Verbesserung der Messgenauigkeit. Die digitale Zwilling-Technologie kann auch als nützlicher Leitfaden für die Installation von Durchflussmessern im Feld verwendet werden, was es Industrien wie der Wasserwirtschaft ermöglichte, ihre Durchflusskontrollsysteme zu verbessern, um die Leistung der industriellen Prozesse radikal zu verbessern.

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