Logistik & Supply Chain

Folgen der Corona-Krise schwer abschätzbar

Logistikfachleute- und Chemieverbände äußern sich zu Situation und Auswirkungen durch Covid-19

15.07.2020 - CHEManager befragte Thomas Bronnert, (VCI); Ralf Busche, BASF sowie Silvius Grobosch, BME und von der TH Köln Thomas Krupp und Michael Lorth zu den Auswirkungen der Coronakrise.

Seit mehr als drei Monaten hat Covid-19 Wirtschaft und Gesellschaft fest im Griff. Welche Auswirkungen hatte dies bereits und wird dies voraussichtlich noch auf die Logistik, den Transport sowie künftiges Risikomanagement der Chemie- bzw. der Pharmaindustrie haben? CHEManager befragte hierzu Thomas Bronnert, den Vorsitzenden des Ausschusses Logistik und Verkehr des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), Ralf Busche, den Beirat der Bundesvereinigung Logistik (BVL) und Senior Vice President der European Site Logistics Operations bei BASF sowie Silvius Grobosch, den Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME). Die Fragen stellte Sonja Andres.

CHEManager: Welche mittel- bis langfristigen Auswirkungen sind durch Covid-19 auf die Supply Chain der chemischen Industrie zu erwarten? Wie schätzen Sie dies zum jetzigen Zeitpunkt ein?

Thomas Bronnert: Trotz Grenzkontrollen und anderer Krisenmaßnahmen der Bundes- und Landesregierungen kam es glücklicherweise nicht zu einem Zusammenbruch der Logistik. Innerhalb der Branche blieben die Lieferketten weitgehend stabil. Dies ist besonders darauf zurückzuführen, dass national wie international frühzeitig mit allen Beteiligten ein intensiver Dialog geführt und gemeinsam nach praktikablen Lösungen gesucht wurde. Entsprechende Maßnahmen, etwa die sogenannten Green Lanes an den Grenzen, haben dazu beigetragen, dass es zwar zu Beeinträchtigungen kam; ein „Worst-Case-Szenario“ blieb allerdings aus.
Bei den internationalen Logistikketten im Seeverkehr und bei der Luftfracht wurden die Transportkapazitäten allerdings massiv reduziert. Das ohne langfristige Störung der Logistikketten hinzubekommen, war für alle Beteiligten im Logistik- und Transportsektor eine enorme Herausforderung.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist es schwer abzusehen, welche Folgen die Coronakrise konkret und langfristig auf die Logistik haben wird. Prinzipiell ist die Logistik in der chemischen Industrie gut aufgestellt; das hat die Krisenbewältigung gezeigt.

Ralf Busche: Das Warten auf einen wirksamen Impfstoff und die anhaltenden Unsicherheiten hinsichtlich der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung beeinträchtigen das Konsumverhalten und werden die Nachfrageschwäche vermutlich kurzfristig nicht auflösen. Somit wird ein harter Wettbewerbs- und Margendruck weiterhin große Teile der Industrie begleiten. Die mangelnde Ertragskraft zwingt zu striktem Kostenmanagement und Fokus auf das Umlaufvermögen, um Liquidität zu sichern.
Kunden werden ihr kurzfristiges Bestellverhalten zunächst beibehalten. Die Volatilität des Geschäfts wird also bis auf weiteres hoch bleiben. Die Supply Chain und Logistik muss sich auf diese Situation einstellen. Flexibilität, Reaktionsfähigkeit und Resilienz sind mehr denn je von zentraler Bedeutung. Die Aufrechterhaltung der Lieferketten über die Krisenzeit hinweg schafft Vertrauen zwischen den Partnern in der Supply Chain. Dies wird die Kunden- und Lieferantenbeziehung stärken und für die zukünftige Entwicklung des Geschäftes förderlich sein.
Das von der Bundesregierung aufgesetzte Konjunkturpaket zur Stimulierung der Nachfrage muss dann seine Wirkung auf der Nachfrageseite zeigen. Eine angestrebte Rückkehr zur Normalität und höheren Produktionsauslastungen wird Zeit in Anspruch nehmen.

 

„Wir müssen noch stärker als bisher auf Vernetzung setzen.“

Thomas Bronnert, Vorsitzender Ausschuss Logistik und Verkehr, Verband der Chemischen Industrie (VCI)

 

Ist die Lage für die Transportkette bzw. allgemein die Logistik der Pharmaindustrie ähnlich zu beurteilen?

Silvius Grobosch: Die Coronakrise ist zum Stresstest für die nationalen und internationalen Lieferketten geworden. Ob diese dem Druck dauerhaft standhalten oder an der einen oder anderen Stelle reißen werden, hängt von Dauer und Schwere der Pandemie ab. Weil ein Ende der Coronakrise zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar ist, sind seriöse Prognosen zur weiteren Entwicklung der Supply Chains nur schwer möglich. Fest steht allerdings schon jetzt, dass Covid-19 Einkauf, Logistik und Supply Chain Management aller Branchen und damit auch der Pharmaindustrie zunehmend unter Druck setzt. Das zeigen unsere aktuellen Umfragen unter den BME-Mitgliedsunternehmen mehr als deutlich.
Die Frage, wie es nach der Krise weitergeht, wird von einem Großteil unserer Beschaffungsprofis mit nur einem Wort beantwortet: ‚Digitalisierung‘. Hier werden künftig Begriffe wie Transparenz in der Lieferkette oder proaktives, digitales Risikomanagement eine noch größere Rolle spielen als bisher schon. Wir beobachten zudem einen Trend hin zur regionalen Beschaffung. Damit versuchen die industriellen Einkäufer unter anderem, ihre Lieferantenbasis in Europa zu stärken.
Neu an dieser Krise sind unserer Einschätzung nach die damit verbundenen vollkommen neuen Herausforderungen. So geht die operative Lösung der Krise einher mit einer für viele Unternehmen neuen Arbeitsorganisation durch dezentrales Arbeiten und Homeoffice.

 

„Flexibilität, Reaktionsfähigkeit und Resilienz sind mehr denn je von zentraler Bedeutung.“

Ralf Busche, Beirat, Bundesvereinigung Logistik (BVL) und Senior Vice President, European Site Logistics Operations, BASF

 

Welche Maßnahmen sollten Unternehmen ergreifen, um künftig auf eine vergleichbare Situation gut vorbereitet zu sein?

T. Bronnert: Erstens: Wir müssen noch stärker als bisher auf Vernetzung setzen. Dazu gehören beispielsweise auch eine stärkere Digitalisierung und damit ein Ausbau der digitalen Infrastrukturen. Notwendig ist zweitens auch künftig ein intensiver und enger Dialog mit unseren Dienstleistern, Kunden und der Politik. Und drittens: Eine Diversifizierung der Logistikketten ist, sofern möglich, immer sinnvoll.
Unsere Branche nutzt alle Verkehrsträger. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Umso mehr kommt es darauf an, dass die Infrastruktur in Deutschland erheblich verbessert wird. Und hier ist die Politik gefordert. Dringend notwendig ist beispielsweise eine „Fast lane“ bei Genehmigungsverfahren, um den Modernisierungsstau bei Infrastrukturmaßnahmen so rasch wie möglich aufzulösen.

R. Busche: Die Pandemie hat erneut verdeutlicht, wie anfällig globale Lieferketten auf Störungen reagieren. Eine leistungsfähige Supply Chain und Logistik ist für Unternehmen systemrelevant. Sie stellt in unserer hochgradig, arbeitsteilig organisierten Welt sicher, dass globale Wertschöpfungsketten stets funktionieren.
Die vielen Ereignisse der letzten Dekade, die globale Lieferketten stark beeinträchtigt hatten, wie zum Beispiel die globale Wirtschaftskrise 2009, der Vulkanausbruch unter dem Gletscher „Eyjafjallajökull“ auf Island 2010, Fuku­shima 2011, haben die Verletzlichkeit globaler Ketten offengelegt. Ein effektives Risikomanagement, welches systematisch mögliche Störungen entlang der gesamten Wertschöpfungsketten identifiziert und deren Eintrittswahrscheinlichkeiten bewertet, erlangt nun einen nochmal höheren Stellenwert für Unternehmen und deren Supply Chain. Hierbei sind neben einer Pandemie wie Corona auch infrastrukturelle Störungen, Streiks, Naturkatastrophen, Lieferantenausfälle und Cyber Security-Probleme mit einzubeziehen.
Um Reaktionsfähigkeit und Resilienz zu schaffen ist bei der Betrachtung der Handlungsoptionen und der Definition geeigneter Kompensationsmaßnahmen besonderes Augenmerk auf Multimodalität, schlanke und effektive Geschäftsprozesse, digitale Werkzeuge und Transparenz entlang der Wertschöpfungsketten zu legen.

 

„Um die aufgrund der fortschreitenden Globalisierung immer fragiler werdenden Supply Chains optimal schützen zu können, müssen alle Glieder der Wertschöpfungs- und Lieferketten noch enger zusammenarbeiten.“

Silvius Grobosch, Hauptgeschäftsführer, Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME)

 

S. Grobosch: Für eine erfolgreiche Krisenbekämpfung ist die Bildung von Task-Force-Einheiten in den Unternehmen unerlässlich – und das quer durch alle Branchen. Das hat die Covid-19-Pandemie klar gezeigt. Erfahrene Krisen-Manager sind am besten in der Lage, mögliche Störungen der Lieferketten schnell aufspüren und zeitnah beheben zu können.  Insbesondere die Einkäufer wissen hier um ihre Verantwortung. Sie wenden im Rahmen ihres Risikomanagements viel Zeit für die intensive Überprüfung der globalen Beschaffungsaktivitäten des Unternehmens auf.
Damit können sie gemeinsam mit ihren Lieferanten bestehende oder drohende Lieferengpässe identifizieren und geeignete Notfallpläne entwickeln. Dazu gehört auch die genaue Analyse des Ausmaßes und der möglichen Dauer einer Krise. Sie prüfen zudem, wie lange auf ausbleibende oder sich verzögernde Sendungen von Rohstoffen und Produktionsmaterial ohne größere finanzielle Einbußen gewartet werden kann. Ein weiteres To-do beim Ausbruch einer Krise ist die Prüfung alternativer Verkehrsträger. Damit kann Transportausfällen oder -verzögerungen rechtzeitig entgegengewirkt werden.

Welchen Einfluss werden hierbei die globale Politik, Nachhaltigkeitsaspekte und neue Technologien gerade auch in diesen beiden Wirtschaftszweigen haben?

T. Bronnert: Die chemisch-pharmazeutische Industrie befasst sich nicht erst seit Corona mit Nachhaltigkeit und neuen Technologien. Aus diesen langjährigen Erfahrungen können wir auch künftig schöpfen. Zum Beispiel beim Thema Chemielogistik und Klimaschutz: Die Unternehmen prüfen regelmäßig, wie sie ihre Logistikstrukturen verbessern und damit unter anderem zur Senkung der Emissionen beitragen können. Die Nutzung technischer Innovationen spielt hierbei eine wichtige Rolle.
Wichtig sind aber auch die richtigen Rahmenbedingungen. Die Politik darf nicht den Fehler machen, aus politischer Überzeugung einseitige Anreize zu setzen. Wie die BDI-Studie „Klimapfade Verkehr 2030“ belegt, stehen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vor der anspruchsvollen Aufgabe, die Umsetzung komplexer Maßnahmen zum Klimaschutz mit dem Erhalt und dem Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland und in Europa in Einklang zu bringen. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Um dieses zu erreichen, müssen ökonomische, ökologische und soziale Aspekte sorgfältig abgewogen werden.

R. Busche: Die veränderte politische Situation, die Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit und auch die Digitalisierung sind große Herausforderungen.
Während der zunehmende Protektionismus eine Bedrohung für den freien Handel-und Warenverkehr ist, sind Nachhaltigkeit und Digitalisierung eine Chance. Für BASF zum Beispiel ist das Thema Nachhaltigkeit bereits ein integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie. Neue Technologien eröffnen Möglichkeiten, die Transparenz entlang der gesamten Lieferketten deutlich zu erhöhen, unterschiedliche Szenarien in Krisensituation zu validieren und so schneller bessere Entscheidungen zu treffen.
Die punktuelle Neubewertung von globalen Lieferketten aus Risiko-, Wirtschaftlichkeits- und Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ist dort erforderlich, wo Kunden immer kürzere Lieferzeiten, höhere Verlässlichkeit und Warenverfügbarkeit bei durchgängiger Transparenz verlangen.

S. Grobosch: Nicht nur die Chemie- und Pharmabetriebe ziehen ihre Lehren aus der Coronakrise. Das gilt auch für die internationale Politik. Um auf künftige Krisen besser vorbereitet zu sein und die aufgrund der fortschreitenden Globalisierung immer fragiler werdenden Supply Chains optimal schützen zu können, müssen alle Glieder der Wertschöpfungs- und Lieferketten noch enger zusammenarbeiten. Der konsequente Einsatz digitaler Technologien kann hier einen wertvollen Beitrag leisten. Auch das hat die Corona­krise gezeigt.

Supply Chains widerstandsfähiger machen

Satement: Thomas Krupp, Transport- und Verkehrslogistik, und Michael Lorth, Logistikconsulting und Verhandlungstechniken, Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften, Technische Hochschule Köln

Die Coronakrise hat uns die Anfälligkeit von Pharma Supply Chains vor Augen geführt. Nach jahrzehntelanger Produktionsverlagerung werden etwa 80 % der Wirkstoffe in Asien hergestellt, vorwiegend in China, das auch Wirkstoffe für die Weiterverarbeitung nach Indien liefert.

Wie stark unsere Arzneimittelversorgung von der Lieferfähigkeit globaler Lieferketten abhängt, wird jedermann sichtbar, wenn eine krisenbedingt sprunghaft ansteigende Nachfrage auf bereits vor der Krise weltweit bestehende Produktionsengpässe stößt (Ibuprofen). Kommen im Kampf gegen eine Pandemie Exportbeschränkungen hinzu (Indien: Paracetamol) oder fallen in den Herkunftsländern regionale Produktionscluster aufgrund von Werkschließungen aus, verschärft dies die Versorgungslage weiter.
Kurzfristig können relativ hohe (Sicherheits)Bestände in Deutschland größere Engpässe verhindern. Mittel- bis langfristig lässt sich das strukturelle Abhängigkeitsproblem aber nicht durch zusätzliche Vorratshaltung lösen. Im Falle bereits bestehender Engpässe wären die für eine Bestandsaufstockung erforderlichen Mengen nicht einmal verfügbar.

In der Chemieindustrie stehen nicht krisenbedingte Nachfragespitzen, sondern die Anlagenauslastung und funktionierende Transportwege im Fokus. Produktionsmengen können aufgrund der Herstellungsverfahren weniger flexibel angepasst werden. Global ausbalancierte Produktions- und Logistikkapazitäten sind aufgrund des Kostendrucks bislang eher auf Effizienz als auf Resilienz ausgerichtet.
Produktionsrückverlagerungen nicht zwingend nach Deutschland, aber zumindest nach Europa könnten ein probates Mittel sein, vor allem bei besonders versorgungsrelevanten bzw. kritischen Gütern die Abhängigkeiten von globalen Produktions- und Lieferketten zu reduzieren und die Widerstandfähigkeit (Resilienz) der Supply Chains zu erhöhen. Kürzere Transportwege wären nicht nur störungsresistenter; sie würden auch die Umwelt weniger belasten.

Mit kürzeren Transportwegen entfiele ein Teil der Zeitpuffer für die Informationsverarbeitung und die Supply-­Chain-Planung. Echtzeit-Erfassung und Verarbeitung sowie jederzeitige (mobile) Verfügbarkeit von Informationen (Transparenz) entlang der Supply Chains gewännen ebenso an Gewicht wie die Leistungsfähigkeit und Flexibilität der eingesetzten Planungs- und -Steuerungssysteme. Hier gibt es einigen Nachholbedarf.

Dies alles würde nicht nur beträchtliche Investitionen erfordern, sondern nach vorsichtigen Schätzungen auch mindestens zehn Jahre dauern. Aber dann wären die Supply Chains tatsächlich widerstandsfähiger und könnten kommende Krisen besser bewältigen.

 

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