Ein Quantensprung für die Medizin
Rund zwölf Jahre nach ihrer Entdeckung kommen erste Arzneimittel auf Basis der CRISPR/Cas-Technologie auf den Markt
Ein erstes zugelassenes Produkt zur Therapie der Sichelzellanämie ist auf dem Markt, weitere dürften folgen. Die Entwicklung verläuft rasant, Fachleute sprechen von einem Quantensprung, zumal die Methode seit ihrer Entdeckung weiterentwickelt und verfeinert worden ist. Ein Blick auf den aktuellen Stand der CRISPR/Cas-Anwendungsmöglichkeiten – und was noch kommen könnte.
Es ist der 8. Dezember 2023, als die US-Unternehmen Vertex Pharmaceuticals und CRISPR Therapeutics mitteilen, dass die Arzneimittelbehörde FDA das weltweit erste CRISPR-Medikament zugelassen hat. Kurz zuvor hatten bereits die britischen Behörden grünes Licht für das Verfahren zur Behandlung von Bluterkrankungen gegeben. Im Februar 2024 dann der dritte Schlag – auch die europäische Zulassungsbehörde EMA gibt ihr Okay für eine bedingte Marktzulassung von Casgevy, einer Gentherapie zur Behandlung der Sichelzellkrankheit und von Beta-Thalassämie.
Heilung erstmals möglich
Für mehr als 8.000 Betroffene der Sichelzellanämie alleine in der Europäischen Union könnte das ein Segen sein. Bei der Krankheit verstopfen die Blutgefäße, Organe werden nicht richtig versorgt, der Körper schmerzt. Atemnot, Schlaganfälle, Gallensteine oder Hüftgelenknekrosen – die Erbkrankheit ist chronisch und bislang unheilbar. Bisher konnten nur die Symptome bekämpft werden, die aufwändige Transplantation von Knochenmark gilt als einzige dauerhafte Behandlungsoption.
Das könnte sich mit Casgevy nun ändern. Erstmals soll damit eine Heilung der Krankheit möglich sein. Fachleute äußern sich positiv, so wie Professor Christian Kupatt-Jeremias, Geschäftsführender Oberarzt mit Schwerpunkt Kardiologie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM): „Die konkrete Anwendung der CRISPR/Cas-Technologie zur Therapie der Sichelzellanämie hat den großen Vorzug, dass dies außerhalb des menschlichen Organismus geschieht, sozusagen in der Petrischale. Dort werden die Blutstammzellen getestet, kultiviert und korrigiert. Daraus gewinnt man eine Art neues Knochenmark, dass korrigiert und qualitätsgesichert dem Patienten zurückgegeben wird. Das ist ein attraktiver Ansatz im Vergleich dazu, fremdes Knochenmark zu verwenden, welches möglicherweise am Ende nicht genau passt und mit hoher Immunsuppression gegeben werden muss.“
Chemie-Nobelpreis 2020
Es war im Jahr 2011, als die französische Mikrobiologin und Biochemikerin Emmanuelle Charpentier erstmals bahnbrechende Grundlagen zur CRISPR/Cas9-Methode veröffentlichte, auf deren Basis sie eine Genschere entwickelt hatte.
CRISPR steht dabei für Clustered Regularly
Interspaced Short Palindromic Repeats und ist eine biochemische Methode, um das Trägermaterial von Erbinformationen gezielt zu schneiden und zu verändern. Ein Jahr später legte Charpentier zusammen mit der US-Wissenschaftlerin Jennifer Doudna nach und publizierte eine weitere entscheidende Forschungsarbeit zu dem Thema. Das Fachmagazin Science erklärte die CRISPR-Methode daraufhin zum „Breakthrough of the Year 2015“, Experten verliehen der Technologie das Attribut revolutionär. 2020 erhielten Charpentier, heute Leiterin der Max-Planck-Forschungsstelle für die Wissenschaft der Pathogene in Berlin, und auch Doudna für ihre Arbeiten den Nobelpreis für Chemie.
Rasante Weiterentwicklungen
Seitdem hat sich viel getan. Toni Cathomen, Professor für Zell- und Gentherapie am Universitätsklinikum Freiburg, sagt: „Generell hat man in den vergangenen Jahren gelernt, die Genschere sicherer anzuwenden. Die Präzision wurde gesteigert, damit weniger Nebeneffekte und weniger Fehlschnitte auftreten.“
Eine Weiterentwicklungen ist das Base Editing. Dabei werden nicht beide DNA-Stränge geschnitten, sondern nur einzelne Basen bzw. Nukleotide bearbeitet. Dadurch sollen Fehlschnitte im Erbgut reduziert werden. Diese Methode ist laut Cathomen für zahlreiche Erbkrankheiten geeignet, die durch eine einzelne Mutation ausgelöst werden.
Ein anderer Entwicklungsschritt ist das Prime Editing. Dabei werden mehrere Basenabschnitte gleichzeitig ausgetauscht. Cathomen: „Die Entwicklung verläuft extrem rasant. Wer hätte gedacht, dass wir zehn, zwölf Jahre nach der Entdeckung von CRISPR/Cas das erste zugelassene Medikament haben.“
Auch Han Steutel, Präsident des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VFA), setzt große Hoffnungen in die Methode: „Gen- und Zelltherapien gehören zu den fortschrittlichsten medizinischen Innovationen. Sie bieten in zahlreichen Anwendungsbereichen neue Behandlungsmöglichkeiten für schwere Krankheiten, die bislang kaum oder gar nicht therapierbar waren. Diese Therapien haben das Potenzial, langanhaltende therapeutische Erfolge zu erzielen, und das mit einer einmaligen Gabe.“
Hunderte Entwicklungskandidaten weltweit
Fachleute schätzen, dass sich weltweit rund 2.000 Zell- und Gentherapien in der Entwicklung befinden, davon etwa 700 in den USA. Bis zu 17 Gentherapien könnten allein in diesem Jahr in den USA und der EU zugelassen werden. Cathomen verweist darauf, dass sich derzeit weltweit etwa 70 Entwicklungen auf Grundlage der CRISPR/Cas-Technologie oder anderen Designer-Nukleasen im Stadium klinischer Studien befinden. Ein Hauptbereich der CRISPR/Cas-Entwicklungen liegt dabei auf seltenen Erkrankungen, in der Regel Erbkrankheiten. Dort, so Cathomen, sei der genetische Defekt meist gut charakterisiert. Die Wissenschaftler wüssten, welche Kompensation des Erbgutes vorzunehmen sei.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Krebstherapie. In den vergangenen Jahren wurden vor allem Immunzellentherapien zugelassen, um Blutkrebsarten zu therapieren. Im Gegensatz zu soliden Tumoren handelt es sich dabei meist um lose Zellen, die für das Immunsystem leichter zugänglich sind. Um den nächsten Schritt zu gehen und auch bei der Bekämpfung solider Tumore erfolgreich zu sein, müssen diese Immunzellen aufgerüstet werden. Das dürfte laut Cathomen mittels CRISPR/Cas möglich sein.
Aussichtsreiche Produktkandidaten
Unter den globalen klinischen Studien sticht eine des US-Unternehmens Intellia Therapeutics hervor. Sie befindet sich in der fortgeschrittenen klinischen Phase 3 und adressiert die Stoffwechselerkrankung Transthyretin Amyloidose (ATTR). Diese wird durch ein in der Leber gebildetes fehlgefaltetes Protein ausgelöst, das Organschäden verursacht. Die Krankheit schreitet kontinuierlich voran, bislang gibt es keine Therapiemöglichkeiten. Intellia greift mittels CRISPR/Cas direkt in die Leberzellen ein und schaltet das codierende Gen aus. Die Hoffnung ist, die Krankheit damit aufhalten zu können.
„Sehr innovativ“ findet Cathomen auch eine Phase-2-Studie von Locus Biosciences. Die US-Firma setzt die CRISPR/Cas-Technologie zur Therapie der infektiösen Harnwegserkrankung ein. Dabei greifen die Wissenschaftler nicht direkt in den Menschen ein, sondern versuchen, die Bakterien, die die Infektion auslösen, zu eliminieren. Dazu nehmen sie Viren angreifende Bakterien, sogenannte Bakteriophagen. Diese werden mit CRISPR/Cas so aufgerüstet, dass sie das Erbgut der Bakterien zerschneiden und damit die Infektion beenden.
Spätstarter Deutschland
Auffällig ist, dass die meisten Produktentwicklungen und Studien mit CRISPR/Cas von Unternehmen in den USA und China durchgeführt werden. Deutschland spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. „Wir machen hier viel im Bereich der Grundlagenwissenschaft. Wir haben aber nicht das nötige Kapital und können auch nicht mit dem Tempo der USA mitgehen“, stellt der Münchener Mediziner Kupatt fest. Meistens müssten deutsche Entwickler ihre Projekte ab einem gewissen Stadium abgeben. „Im besten Fall haben wir einen Patentschutz, so dass wir am späteren Produkt beteiligt sind.“
Auch der VFA konstatiert, dass Deutschland in dieses „zukunftsweisende Entwicklungsgebiet der Medizin“ sehr spät gestartet sei, hegt aber die Hoffnung, dass es sich dank exzellenter Forschungspraxis und unternehmerischen Engagements noch „zu einem der weltweit führenden Innovationsstandorte im Bereich der Gen- und Zelltherapien entwickelt“. Dabei soll auch die „Nationale Strategie für Gen- und Zelltherapien“ helfen, die im Juni 2024 vorgestellt wurde.
Projekte der TU München und der Uniklinik Freiburg
Immerhin, bereits 2020 haben Forscher der TUM, der Ludwig-Maximilians Universität (LMU) und des Helmholtz Zentrums München eine Gentherapie entwickelt, die an der Muskeldystrophie des Typs Duchenne (DMD) Erkrankten helfen könnte. Die Versuche wurden an lebenden Schweinen durchgeführt, die der menschlichen Physiologie recht ähnlich sind. Kupatt: „Wir haben gezeigt, dass man bei Tieren mit DMD mittels Genschere den schadhaften Teil einer kodierten Gensequenz rausschneiden oder entfernen kann, damit das Gen wieder funktioniert. Wir konnten diese Schweine zwar nicht heilen, aber therapieren und ihren Zustand verbessern.“
Die Uniklinik Freiburg wiederum plant in rund zwei Jahren den Start einer klinischen Studie mit HIV-positiven Lymphom-Patienten, die eine Indikation für eine Stammzellentransplantation haben. Cathomen: „Wir wollen die Stammzellentransplantation mit einer Genscherentherapie kombinieren, um das Immunsystem HIV-resistent zu machen.“ In einem anderen Ansatz wollen die Wissenschaftler bei Kindern, die ohne funktionierendes Immunsystem auf die Welt kommen, in die Stammzellen eingreifen. Die Hoffnung ist, den kleinen Patienten damit helfen zu können.
Herausforderung Kosten und Finanzierung
Wenngleich die Entwickler bei der Translation von CRISPR/Cas in konkrete medizinische Anwendungen große Fortschritte machen, stellt die Finanzierung eine Herausforderung dar. Die Entwicklung von Gentherapien ist teuer. Zwar stecken Risikokapitalgeber mittlerweile große Summen in diesen Bereich, das gilt aber wiederum vor allem für Firmen und Start-ups in Kalifornien und Boston. Auch mit Blick auf die Kosten von CRISPR-/Cas-Behandlungen kommt Cathomen ins Grübeln: „Das neue Medikament gegen Sichelzellanämie wird wohl um die zwei Millionen Euro kosten. Da stellt sich die Frage: wer soll das bezahlen?“
Bei der finanziellen Einordnung der neuen Arzneimittel würde sich der Mediziner wünschen, dass die CRISPR/Cas-Therapien in Relation zu den bisherigen Standardanwendungen gesetzt werden. So benötigen Patienten mit Sichelzellanämie ein Leben lang Bluttransfusion. Mit der CRISPR/Cas-Therapie ist hingegen eine Heilung möglich, hohe Folgekosten entfallen.
Großer Einfluss auf die Medizin
Trotz hoher Investitionen und Kosten wird die Entwicklung bei CRISPR/Cas-Anwendungen mit Hochdruck vorangetrieben. „Vor allem dort, wo man über eine genetische Veränderung einen Therapieerfolg erzielen kann, wird CRISPR/Cas ungemein wichtig werden“, sagt Cathomen. Das treffe beispielsweise auf Infektionskrankheiten zu, vor allem aber auf die Onkologie. „Ich bin zuversichtlich, dass wir dadurch große Fortschritte in der Medizin sehen werden“, so Cathomen.
Thorsten Schüller, CHEManager