Dr. Jürgen Stebani, Polymaterials AG: Umbruch in der Kunststoffbranche
Innovationsbeschleunigung durch Spezialisten
In der Chemiebranche und damit natürlich auch auf Seiten der großen Kunststoffhersteller hat sich in den vergangenen Jahren ein teilweise dramatischer Wechsel in den Unternehmensstrukturen vollzogen, der in etlichen der Abnehmerbranchen in seiner Konsequenz noch nicht völlig realisiert wurde. Während noch in den 90er Jahren integrierte Konzerne breite Produktpaletten von Spezialkunststoffen bis hin zu den Massenwerkstoffen anboten, ist inzwischen ein Wechsel der Strategie hin zu einer Fokussierung entweder auf große Volumina oder auf maßgeschneiderte Produktlösungen festzustellen.
Gleichzeitig verschwanden auch frühere Forschungsstrukturen in der Chemischen Großindustrie, entweder weil durch die Fokussierung auf einzelne Tätigkeitsschwerpunkte keine zentralen Einheiten mehr zu argumentieren waren, weil nach einer M&A-Maßnahme die Anbindung an eine Zentralforschung wegfiel oder einfach durch die Tatsache, dass die Kunden das Vorhalten von F&E-Ressourcen zur Lösung spezieller Problemstellungen nicht mehr in vollem Umfang über den Produktpreis honorieren wollten.
Spezialistenbildung auch in der F&E
Dies war 1999 das Umfeld für die Gründung von Polymaterials mit dem klaren Ziel, sich als neuer, unabhängiger Anbieter von F&E- und Produktionsdienstleistungen im Bereich von polymeren Werkstoffen und Funktionspolymeren zu positionieren. Mit einer Produktpalette von der Material-Recherche über die Entwicklung neuer Polymermaterialien oder neuer Kunststoffrezepturen bis zur Herstellung von Spezialpolymeren im Tonnenmaßstab bietet das Unternehmen seinen Kunden vergleichbare Ressourcen einer Konzernforschungseinheit, aber in den flexiblen Strukturen eines mittelständischen Unternehmens. Die Einsatzbreite aktueller Materialentwicklungen umfasst dabei Energieanwendungen, wie Brennstoffzellen oder neue Energiespeicher, Polymerelektronik, neue polymere Datenspeicher, aber auch Funktionsfasern und Kunststoffanwendungen in der Medizin, Automobil- oder Luft- und Raumfahrttechnik. Durch die Modifizierung oder Kombination bekannter Polymerprinzipien und die Übertragung dieser Zusammenhänge auf alternative Anwendungen gelingen neue Produktlösungen und Materialeigenschaften, ohne die Übertragbarkeit der Ergebnisse in die industrielle Praxis aus den Augen zu verlieren. Die Polymerspezialisten unterstützen in diesen Projekten die Anwendungsexperten der Kunden mit chemischer Expertise, wodurch durch die Synergiewirkung schneller geeignete und umsetzbare Lösungen resultieren als bei einer rein fachspezifischen Herangehensweise.
Beschleunigung 1: Reduzierung von Schnittstellen
Die Innovationsgeschwindigkeit bei der Übertragung neuer Materialien in die Anwendung hängt in erster Linie von den zu überwindenden Schnittstellen ab. Eine Materialentwicklung an einer Hochschule oder einem Institut kann zwar zu interessanten Zusammenhängen führen, die Schnittstelle ergibt sich aber spätestens beim kommerziellen Bezug der Materialien im Technikumsmaßstab. Zudem ist die Arbeit an einer Universität - schon allein wegen des wissenschaftlichen Anspruchs einer Dissertation - eher forschungsgeprägt, während in einem Industrieunternehmen die Nutzung neuer Werkstoffe zu wettbewerbsfähigen Kosten die höchste Priorität besitzt. In diesem Umfeld spielt Polymaterials eine wichtige Rolle bei der Übertragung technisch-wissenschaftlicher Ansätze in die industrielle Praxis. Auf Basis von Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung kann durch die geschlossene Prozesskette von Labor über Technikum bis zur Produktion der Materialien schnell und praxisnah unter Berücksichtigung spezifischer Technologieanforderungen eine Lösung angeboten werden (Abb. 1).
Die Vorgehensweise verknüpft dabei sowohl Inhalte universitärer Forschung als auch der anwendungsorientierten Entwicklung an Instituten mit eigenen Ressourcen, so dass eher eine Synergie als eine Konkurrenz zueinander resultiert. Neuartige Ideen aus dem Labor können durch die Polymerspezialisten für die industrielle Praxis modifiziert und dann im Technikum in größeren Maßstäben produziert werden, so dass der Kunde nicht nur interessante Ansätze sondern letztlich vermarktbare Produkte bekommt. Dieses Modell der Verknüpfung von universitärer Grundlagenforschung mit professioneller Umsetzung durch F&E-Dienstleister ist aus unserer Sicht zukunftsweisend. Ein Hinweis dafür ist, dass das Angebot zunehmend auch von ausländischen Großunternehmen genutzt wird, die immer noch großen Respekt vor der Innovationskraft deutscher Forscher besitzen.
Beschleunigung 2: Schnelle F&E-Verfahren
Im Bereich neuer Materialien spielt die Beseitigung von Schnittstellen eine wesentliche Rolle. Ähnlich verhält es sich bei der Entwicklung neuer Rezepturen auf Basis verschiedener Komponenten, nur dass die Herangehensweise eine andere sein muss. Kunststoffe bestehen in der Regel nicht nur aus einem Material, sondern aus einer Mischung des Werkstoffes mit einer Vielzahl an Stabilisatoren, Verarbeitungs- und Verstärkungsmitteln oder auch zum Teil aus anderen Kunststoffen, so dass sog. Blends resultieren. Es ist eine langjährige Erfahrung erforderlich, um bei einer neuen Anwendung schnell die geeignete Rezeptur, auch „Compounds" genannt, zur Verfügung stellen zu können. Bei komplizierteren Fragestellungen, völlig neuen Anwendungen, aber auch bei neuen Kunststoffen oder Additiven versagt die Erfahrung und es ist dann vom potentiellen Absatzvolumen abhängig, ob und wie viel F&E-Aufwand getrieben werden kann, wobei die „hurdle rate" des Materialabsatzes eher ansteigt. Die Schnittstellen im F&E-Prozess resultieren aus der seriellen Verknüpfung von Compoundierung, Prüfkörperherstellung, Prüfung und Auswertung, die mit hohem Personalaufwand zumeist noch in separierten Prozessen abläuft. Daher ist die Entwicklungskette aufwändig, kostspielig und vergleichsweise langsam.
Wenn allerdings ein Tool zur Verfügung stünde, mit dem eine schnelle Orientierung über erreichbare Rezeptur-Eigenschaftskombinationen möglich wäre, so dass man dann zielgerichtet und mit vertretbaren Kosten die eigenen Ressourcen einsetzen und dem Kunden ein geeignetes Material liefern könnte, dann würde den Innovationszyklen und der Individualität wieder Schritt gehalten werden können. Die Antwort auf diese aneinander gereihten Konjunktive führte zum HTS-Konzept (HTS, „high-throughput-screening") von Polymaterials (Abb. 2). Basis ist die Hardware-seitige Integration von Komponenten-Dosierung mit der Plastifizierung und Formgebung der Kunststoffmischung in einem Spritzgussautomaten von Engel. Die erzeugten DIN-Prüfkörper werden mittels automatischer Prüfeinrichtungen von Zwick auf ihre mechanischen Kennwerte getestet. Das komplette System wird von einer Software der Bayer Technology Services gesteuert, die die Rezepturen mittels statistischer Versuchsplanung ausgibt und die resultierenden Daten aus Dosierung, Verarbeitung und Prüfung zur Auswertung wieder zurückgespielt bekommt. Bereits im Prototypenstadium lässt sich zeigen, dass das HTS-System wie die herkömmliche Vorgehensweise analoge Antworten gibt, aber mit einer bis zu 10fachen Beschleunigung, wesentlich umfassender durch die mathematischen Methoden, deutlich höherer Datenbreite und nicht zuletzt auch kostengünstiger pro Rezeptur. Das Ziel ist, diese HTS-Methodik als ideale Ergänzung zu bisherigen Verfahren der Compoundentwicklung zu platzieren, um beim Kunden vorhandene F&E-Ressourcen bei Kunststoffcompounds deutlich effizienter einsetzen und sich erheblich schneller neue Rezepturvarianten erschließen zu können.