Strategie & Management

Digitale Revolution in der Chemie

Wer künstliche Intelligenz und Blockchain ignoriert, riskiert die Zukunft des Unternehmens

11.12.2019 -

Erste Anwendungen zeigen, welche Verbesserungen der Effizienz und Kundenorientierung in der Chemiebranche mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz verbunden sein können. Bei der Distributed-Ledger-Technologie, kurz Blockchain, hingegen fehlen aktuell noch skalierbare Anwendungsbeispiele. Dabei dürften sich gerade durch die Kombination beider Technologien enorme Wettbewerbsvorteile ergeben.

An dieser Zahl kommt die Chemie­industrie nicht vorbei: Bis 2025 könnte die Digitalisierung der ­Branche weltweit finanzielle Vorteile von 550 Mrd. USD bringen. Potenziale bergen digitale Technologien überall, von F&E über Produktion, Vertrieb oder die Entwicklung neuer Erlösmodelle, dies ergab die Accenture-Studie „The Remaking of Industries: Chemicals“. Digitalisierung meint hier das Erheben, Auswerten und gezielte Nutzen von Daten in jedem Kontext. 95 % der Chemieunternehmen haben eine 
KI-Strategie, 50 % fahren Pilotprojekte."

Digitalisierung erfordert jetzt Investitionen in KI und Blockchain
Tatsächlich fließen hohe Beträge in die Digitalisierung. CEOs und CDOs müssen aber in die richtigen Technologien investieren. Weil Themen wie Cloud oder Mobile schon Standard sind, versprechen DARQ-Technologien Wettbewerbsvorteile, so die aktuelle „Technology Vision“ von ­Accenture: Distributed Ledger (Blockchain), Artificial Intelligence (KI), erweiterte Realitäten (Virtual/Augmented Reality), Quantencomputing. Zumindest in künstlicher Intelligenz (KI) sehen viele Chemiekonzerne großes Potenzial: 95 % haben eine KI-Strategie, 50 % fahren Pilotprojekte. Global wollen zwei Drittel der Unternehmen auf Sicht mind. 20 % ihres Digitalbudgets in KI investieren, so die Ergebnisse der Accenture-Studie „Artificial Intelligence and Blockchain – Insights and Actions for the Chemical Indus­try“. Denn wer in der eigenen Organisation Daten mithilfe von künstlicher Intelligenz gezielt auswertet, findet Ansatzpunkte für Verbesserungen in jedem Unternehmensbereich, für innovative Produkte und Geschäftsmodelle. 

Die durchschnittlich in einer Chemiefabrik anfallende Datenmenge zeigt, dass es sich um eine extrem datengetriebene Industrie handelt und das Management diesen Schatz an Informationen heben muss: Allein im Betrieb einer Chemieanlage entstehen jährlich bis zu 500 TB. Hinzu kommen Daten über Rohstoffe, laufende Forschungen, Produkte (im gesamten Lebenszyklus) und die Interaktion mit Geschäftspartnern. Nur mithilfe von KI können Unternehmen derart große Datenmengen auswerten, um beim Wertversprechen und Kundenservice nachzulegen sowie intern die Effizienz zu steigern.

Selbstlernende Systeme steigern die Effizienz und Qualität 
Dazu gehören Megaprojekte wie Supercomputer, deren enorme Rechenkraft etwa den Betrieb KI-gestützter Formulation Engines erlaubt. Diese ermitteln auf Basis bekannter Molekülwirkweisen automatisiert Formulierungen, die zu den gewünschten Spezifikationen passen, etwa für Waschmittel. So lassen sich Entwicklungen beschleunigen, verborgene Zusammenhänge erkennen, neue Forschungsansätze umsetzen. Das ist die KI-Kür. Weniger spektakulär, aber ebenso zukunftsweisend sind bspw. Initiativen zur stärkeren Automatisierung der Qualitätsprüfung durch maschinelles Lernen in der intelligenten Lackfabrik. Selbstlernende Systeme können hier reale mit theoretischen Ergebnissen vergleichen und so die Qualität überprüfen oder Betriebsprozesse monitoren. Solche Initiativen erklären auch, warum Chemiekonzerne bei der Arbeit mit Daten immer enger mit Unternehmen inner- sowie außerhalb der eigenen Branche kooperieren. Zur KI-Pflicht gehören sollte außerdem die teilautomatisierte Beratung. Spracherkennung zählt ebenfalls zu den KI-Anwendungen und kann genutzt werden, um Interessenten gezielt mit den gewünschten Infos zu versorgen. Ein Beispiel aus der Öl- und Gasbranche, aber vorbildlich auch für Chemieunternehmen: KI-gestützte virtuelle Assistenten helfen dem Kunden, in einem Wust von 100.000 Datenblättern in 21 Sprachen für 3.000 Produkte die richtigen Dokumente zu finden. KI entlastet die Mitarbeiter am Servicetelefon um 40 %, sie können daher stärker individuell beraten. Die Anrufer wiederum sind zufrieden, weil ihre Anfragen zu 97 % perfekt beantwortet wurden und die Hotline stets besetzt ist.   „Bis 2025 könnte die Digitalisierung der Chemiebranche
weltweit finanzielle Vorteile von 550 Mrd. USD bringen.
"   Chance für deutlich mehr Umsatz und Kostensenkungen
Ebenso wichtig ist KI zur internen Effizienzsteigerung in Produktion, Instandhaltung und Verwaltung, indem Prozesse beschleunigt, Arbeiten vorausschauend erledigt und Planungen verfeinert werden. Auch hier beeindrucken Beispiele wie der digitale Zwilling: Ein Rechner wird mit statischen Konstruktions- oder dynamischen Betriebsdaten einer Maschine gefüttert. So lassen sich am Bildschirm aktuelle Zustände überwachen sowie per Simulation Planungen beschleunigen, alternative Steuerungen testen, mögliche Wechselwirkungen von Veränderungen erforschen. Doch auch in Wartung und Betrieb gilt: Schon kleine KI-basierte Projekte haben große Effekte. Drohnen, die Rohrleitungen und Schornsteine inspizieren sind ein Beispiel hierfür. Sie umkreisen über 100 m hohe Abgasanlagen und schießen Fotos der Außenhaut. Auf denen sucht dann eine KI-Software nach Anzeichen für Materialermüdung – kleine Verfärbungen deuten auf Probleme und Korrosion durch Hitze und Gase hin. Dieses Vorgehen ist sicherer für die Mitarbeiter und reduziert die Ausfallzeiten.  Die Beispiele zeigen, warum für ein Chemieunternehmen mit 10 Mrd. EUR Jahresumsatz beim konsequenten KI-Einsatz bis zu 2,7 Mrd. EUR an Mehreinnahmen durch höhere Kundenorientierung sowie bis zu 0,9 Mrd. EUR an Einsparungen im Betrieb eine realistische Größe sind. Chemiemanager setzen also zurecht auf künstliche Intelligenz.   „Gerade die Supply Chain könnte sich 
durch die Blockchain massiv verändern."   Blockchain: Basis für Effizienzgewinne durch Smart Contracts 
Nicht außer Acht lassen, sollten Entscheider aber auch die Distributed-­Ledger-Technologie, also das dezentrale und unveränderliche Speichern von Daten in einer Blockchain. Obwohl die Vorteile dieser Technologie vielen Entscheidern noch wenig greifbar scheinen, birgt sie nach Accenture-Berechnungen enormes Potenzial: Für das 10-Mrd.-EUR-Chemieunternehmen die Chance auf 2 Mrd. EUR an Mehreinnahmen sowie Einsparungen in Höhe von bis zu 700 Mio. EUR, etwa durch Vorteile bei Logistik, Marketing, Vertrieb sowie in der Verwaltung. Gerade die Supply Chain könnte sich durch die Blockchain massiv verändern. Die Lieferkette wird transparenter, Prozesse lassen sich durch automatische Dokumentation beschleunigen, Bestellungen sowie Zahlungen über Smart Contracts automatisiert und ohne Eingriffe eigener Mitarbeiter oder Einsatz von Mittelsmännern direkt auslösen. Transparenz, Datenverfügbarkeit und das Blockchain-inhärente hohe Vertrauen bilden die Grundlage zur Entwicklung neuer Produkte oder Geschäftsmodelle. Vorbilder für die Chemieindustrie könnten etwa Pharmafirmen sein, die via Blockchain das Risiko von Produktfälschungen ausschließen, indem sie eine lückenlose, unveränderliche und einsehbare Dokumentation ihrer Lieferungen anlegen.
  KI und Blockchain können das Geschäftsmodell revolutionieren
Besonders effektiv wird die nächste Runde der Digitalisierung, wenn eine Kombination von KI und Blockchain die Arbeitsweise revolutioniert. Das kann bestehende Geschäftsbeziehungen verändern, insbesondere durch die Wahl der richtigen Partner. Hersteller von Pflanzenschutzmitteln etwa könnten sich darauf verlegen, kleinere Mengen in dezentralen Anlagen zu formulieren: Ausgehend von KI-gestützten Analysen früherer Bestellungen in Relation zur KI-berechneten Wetterentwicklung und Berichten zum Zustand des Ackers, übermittelt von intelligenten Landmaschinen. Diese könnten ein Pflanzenschutzmittel autonom ordern, wenn sie es brauchen, und das Geschäft direkt mit dem KI-gestützten Bestellsystem des Lieferanten abschließen. Statt Massenproduktion und aufwändiger Lagerhaltung würden Chemieunternehmen auf Just-in-Time-Versorgung der Landwirte ohne hohe Kapitalbindung umstellen und so die Margen verbessern. Kleine Chargen würden mithilfe von KI-Analysen genau auf die Bedürfnisse einzelner Kunden zugeschnitten oder sogar individuell produziert. Die mengengetriebene Push-Planung würde ersetzt durch kunden- und renditeoptimierte Produktion auf Abruf. Solche Modelle erfordern allerdings eine klare Datenstrategie, konzern- und branchenübergreifende Prozessketten, die Bereitschaft neue Geschäfts- oder Partnerschaftsmodelle zu entwickeln sowie IT-Investitionen – und den Mut der Manager zur breiten Markteinführung statt Pilotprojekten. Erst dann liefern KI und Blockchain handfeste Wettbewerbsvorteile.   Künstliche Intelligenz
Hier lohnt sich der Einsatz von künstlicher Intelligenz besonders

Forschung/Entwicklung: Predictive Analytics helfen Daten besser zu nutzen, um Ideen für neue Produkte zu finden und Experimente vorzubereiten. Die Ergebnisse lassen sich rascher unter diversen Aspekten auswerten. So sind in kürzerer Zeit mehr Entwicklungen für speziellere Probleme der Kunden möglich.
Produktion/Instandhaltung: Künstliche Intelligenz kann selbst Prozesse optimieren, die die chemische Industrie seit langem kontinuierlich verbessert. Die Steuerung der Anlagen etwa wird durch Simulationen in einem digitalen Zwilling effizienter. 
Kundenservice/Vertrieb: KI-gestützt können virtuelle Berater einen Interessenten schnell zu den gewünschten Informationen leiten und ein Kundenprofil so anlegen, dass ihm später aktiv passende Angebote unterbreitet werden. Im engen Austausch zwischen Vertrieb und F&E lassen sich Ansatzpunkte für neue Produkte finden.
Allgemeine Verwaltung: Viele Prozesse im Back Office lassen sich so automatisieren, dass sie weitestgehend autonom ablaufen und sich die Roboter durch Machine Learning kontinuierlich verbessern. Maschinen übernehmen etwa im Rechnungswesen repetitive Tätigkeiten und geben den Menschen so Zeit für anspruchsvollere Aufgaben.

Blockchain
So profitieren Chemieunternehmen vom Einsatz der Blockchain

Transparente Lieferkette: Via Blockchain erhalten Unternehmen verlässliche Informationen zu Ursprung, Qualität und Zustand eines Produkts sowie genaue Angaben zum Einsatz und Verbrauch durch die Kunden. Auf Basis dieser Daten sind Produktion und Vertrieb viel feiner steuerbar. Die Blockchain würde so zum Treiber einer Fertigung in Echtzeit mit minimaler Lagerhaltung und geringer Kapitalbindung.
Mehr Innovationen und Erlösmodelle: Die verbesserte Transparenz erlaubt Chemie­unternehmen tiefere Einblicke, wie ihre Produkte und Dienstleistungen den Kunden helfen und welche zusätzlichen Angebote sinnvoll sein könnten. Aus dieser Erkenntnis lassen sich Produktinnovationen anstoßen sowie ganz neue Erlös- oder Geschäftsmodelle.
Zuverlässige Daten: Da sich in der Blockchain gespeicherte Informationen nicht manipulieren lassen, sind Angaben etwa zur Produktion oder dem Transport belastbar. Auf dieser Basis können Smart Contracts nach der elektronischen Abnahme automatisch die Zahlung auslösen und so Prozesse schneller und billiger machen.

ZUR PERSON
Götz Erhardt ist seit dem Jahr 2000 für Accenture tätig; seit 2015 hat er die Position des Geschäftsführers für den Bereich Grundstoff­industrie und Energie inne. Er verfügt über mehr als 20 Jahre Beratungserfahrung mit Fokus auf die produzierende Industrie. Zu seinen Schwerpunktthemen zählen strategischer Wandel, Digitalisierung und Industrie 4.0 sowie marktorientierte Organisation. Erhardt studierte Philosophie an der Freien Universität Berlin und absolvierte einen MBA an der University of Bradford in Großbritannien.

 

 

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